Josphat Goganis persönlicher Weg von einem kleinen Dorf in Kenia zu seiner heutigen Aufgabe an der Nairobi-Waldorfschule ist ein Zeugnis für Resilienz, Mitgefühl und den Glauben, dass jedes Kind sein Potenzial entfalten kann.
Ich wurde in Gimengwa im Westen von Kenia geboren. Meine frühen Jahre waren geprägt von den finanziellen Schwierigkeiten in meiner Familie und der Abwesenheit meines Vaters, der weit weg arbeitete. Er arbeitete auf einer Kaffeeplantage in Kiambu, nahe der Hauptstadt Nairobi. Aber oft wurde sein Lohn nicht ausbezahlt und meine Mutter nahm kleine Jobs an. Meine älteren Geschwister verließen die Schule, um die Familie zu unterstützen. Trotz dieser Schwierigkeiten haben die Einfachheit des ländlichen Lebens und die lebendige, natürliche Umgebung meine Kindheit mit Freude erfüllt; wir spielten mit einem Fußball aus Bananenfasern und schlitterten durch die matschigen Felder, wenn es regnete. Ich liebte es, Feuerholz und Wasser zu holen, weil das so wichtig war, um kochen zu können.
Ich bin das vierte von sieben Kindern. Obwohl alle meine älteren Geschwister ihre Schulbildung aufgeben mussten, war ich entschlossen, meine Ausbildung zu beenden. Mein Bildungsweg war alles andere als glatt. Als ich die Grundschule beendet hatte, gelang es mir mithilfe eines lieben Lehrers, der mir kleine Jobs anbot, mit der Highschool weiterzumachen. Wegen finanzieller Engpässe musste ich ein ganzes Schuljahr auslassen. Aber schließlich wurde mir gestattet, direkt mit meinem Abschlussjahr weiterzumachen. Diese Erfahrung hat in mir eine Resilienz gegründet, die meine spätere Laufbahn in der Sonderpädagogik formte.
Meinen Einstieg in die Sonderpädagogik verdanke ich einem Zufall. Nachdem ich mit der Highschool fertig war, fing ich an, in der neuen Nachbarschule in meinem Dorf zu unterrichten. Hier traf ich zum ersten Mal auf Kinder mit intellektuellen Herausforderungen. Sie wurden oft an den Rand gedrängt und hatten nur einen hingebungsvollen Sonderlehrer, der sie unaufhörlich unterstützte. Als junger Lehrer, der gerade anfing zu unterrichten, hatte ich wenig Erfahrung im Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Trotzdem war ich vom ersten Moment an berührt von ihrer Liebe und Unschuld. Mir wurde klar, welch überwältigenden Herausforderungen der Sonderpädagoge gegenüberstand, dessen Umgebung – und die Umgebung der Kinder – sich isoliert und abgetrennt von der der restlichen Schulgemeinschaft anfühlte. Es war, als würde die sonderpädagogische Abteilung auf einer Insel liegen, abseits vom restlichen Schulleben.
Trotzdem zog es mich zu diesen Kindern, nicht nur als Lehrer, sondern als Mensch. Mein Herz stand ihnen offen und in mir wuchs der starke Wunsch, ein Teil ihrer Welt zu sein. Ich war von dem Mitgefühl dieses Lehrers inspiriert und assistierte ihm, so oft ich konnte. Diese Erfahrung hat in mir ein Feuer entzündet – es war wie ein Weckruf, Kinder zu unterstützen, die – wie ich – Hindernisse überwinden mussten, um ihr Potenzial zu entfalten.
Mit der Zeit habe ich eine Ausbildung absolviert und einen Abschluss in Sonderpädagogik erhalten. Heute arbeite ich an der Nairobi-Waldorfschule, wo ich die Einschätzung und Bewertung von Kindern mit Lernschwierigkeiten koordiniere. Meine Arbeit wird dabei stark von dem anthroposophischen Ansatz nach Rudolf Steiner geprägt, der die natürliche Entwicklung des Kindes als körperliches, seelisches und geistiges Wesen betont.
Die Entwicklung der Sonderpädagogik in Afrika
Sonderpädagogik hat sich in Afrika mit den sich wandelnden sozialen Einstellungen und Bildungsansätzen sehr weiterentwickelt. In der Vergangenheit wurden Kinder mit Behinderungen oft von der Regelschule ausgeschlossen. Aber die wachsende Anerkennung der Menschenrechte und das Wissen um die Bedeutung von Inklusion führten dazu, dass Gesetzgebung und Rahmenwerke heute den gleichen Zugang zu Bildung für alle fördern.
In Afrika sind die Herausforderungen speziell. Viele Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind mehrfach von Diskriminierung betroffen: aufgrund ihrer Behinderung, ihres ethnischen Hintergrunds, ihres Geschlechts und ihres sozioökonomischen Status. Diese Intersektionalität braucht einen ganzheitlichen Bildungsansatz, der nicht nur den Bildungsbedarf sondern auch das soziale, emotionale und psychische Wohlergehen berücksichtigt.
Der Waldorfansatz betont die heilende und ästhetische Erziehung und bietet deshalb eine besonders stimmige Lösung. Im Vordergrund steht das anthroposophische Weltbild, dass jeder Mensch wachsen kann und eine Umgebung verdient, in der er sich entfalten darf. In der Nairobi-Waldorfschule streben wir nach einer solchen Umgebung, in der Kinder mit komplexen Bedürfnissen nicht nur integriert, sondern geschätzt werden.
In der Schule, in der ich arbeite, haben wir erlebt, wie sehr sich die Wahrnehmung von komplexen Bedürfnissen unter den Lehrkräften, Kindern und Eltern verändert hat. Die Botschaft, dass wir alle Menschen sind, jeder Mensch mit einem eigenen Platz und Weg in der Welt, wurde tief verankert. Schritt für Schritt arbeiten wir daran, um unsere Ziele zu erreichen, auch wenn wir nicht alle gleichzeitig ankommen. Diese starke Überzeugung ist bedeutsam und wunderschön, sie bietet Hoffnung und ein Licht für Eltern und Kinder mit komplexen Bedürfnissen.
Die Zukunft der Sonderpädagogik: ein Ruf nach Ubuntu
Wenn wir weiter blicken, muss die Zukunft der Sonderpädagogik in Afrika in dem Konzept von Ubuntu liegen, der Anerkennung unserer geteilten Menschlichkeit. Inklusive Bildung sollte mehr als nur eine politische Vorgabe sein, sondern ein Spiegelbild dafür, wie wir uns als Menschen zueinander verhalten. Diese Ansichten sollten unsere Bemühungen für Bildungsräume, in denen jedes Kind geschätzt und unterstützt wird, leiten. Als Sonderpädagoge sehe ich mich nicht nur als Lehrer, sondern als Fürsprecher, Mentor und Mitglied einer größeren Gemeinschaft, die für das Wohlergehen jedes Kindes verantwortlich ist.
Sonderpädagogik in Afrika ist eine Geschichte von Hoffnung und Fortschritt, aber auch ein Aufruf zum Handeln. Als Lehrpersonen, Eltern und Mitglieder der Gemeinschaft müssen wir weiter daran arbeiten, dass jedes Kind, unabhängig von seinen Herausforderungen, die Chance bekommt, sich zu entfalten.
Übersetzung aus dem Englischen von Franka Henn
Bild Josphat Gogani. Foto: Dennis Indula