Neulich erzählte mir Christoph Sailer, der in Aachen Ressourcenmanagement für Wasser und Boden betreibt, dass er als Kind jederzeit Freunde mit nach Hause bringen durfte. Die Großfamilie war gewohnt, viele zu versorgen, und da kam es auf zwei, drei Mäulchen mehr am Mittagstisch nicht an. Seine Mutter kommentierte solche Anfragen ihrer Kinder immer mit dem Satz: «Wenn sich jeder etwas schämt, reicht es für alle.»
Welch schöne Wendung von Scham in etwas Sinnvolles! In diesem Satz steckt Weisheit, nicht ‹schwarze Pädagogik›. Stellen Sie sich vor, wir würden das auf unser Nord-Süd-Gefälle anwenden. Wofür wollen wir uns da schämen? Dafür, dass wir uns vollstopfen und nicht teilen wollen? Dafür, dass Freunde heute zum Mittagessen nicht einfach so willkommen sind und uns deren Hungrigsein doch gar nichts angeht? Ja, aber wenn wir uns alle etwas schämen, reicht es auch für Afrika, Südamerika oder Indien.
Scham führt zurück in mich selbst, aber in meinem Verhältnis zu anderen. Scham macht wieder weich, wenn ich, mich vermeintlich verteidigend, den anderen übergriffig behandelt habe. Schäme ich mich wirklich und lasse dieses unangenehme Gefühl zu, gehe also über die Schwelle, gewinne ich selbst wieder menschlichen Raum unter meinen Füßen. Ich spüre mich in Echtheit und Echtzeit, nicht in meinen träumenden, gierigen, gelangweilten oder verängstigten Vorstellungen davon, dass ich zu kurz komme oder mehr und mehr brauche. Von da aus kann ich entscheiden, ob mir jemand willkommen ist und ich zu teilen bereit bin.
Liebe Grüße und Dank also an Christophs Mutter.
Titelbild Die westliche Region der australischen Great Sandy Desert ist ein Gebiet, in dem es fast keinen Sand gibt, das aber durch eine komplexe Geologie gekennzeichnet ist. Foto: Satelliten-aufnahme des USGS (United States Geological Survey).