Rudolf Steiners Werk gehört allen

Rudolf Steiner Archiv im Gespräch

Gespräch mit den Verantwortlichen und den Verantwortlichen in spe des Rudolf Steiner Archivs zum Abschluss der Gesamtausgabe (GA) und zur Stabübergabe in der Leitung des Archivs.


Wolfgang Held Es ist eine besondere Zeit für das Rudolf Steiner Archiv: Das Projekt der vollständigen Edition des Werkes Rudolf Steiners ist in der Schlussphase und zugleich haben Angelika Schmitt und Philip Kovce ihre Einarbeitungszeit begonnen. Kommende Ostern übernehmen sie von David Marc Hoffmann die Leitung des Archivs der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung um Stiftungsratspräsident Cornelius Bohlen. Wie geht es voran?

David Marc Hoffmann Das Projekt ‹GA 2025› haben wir 2016, also vor beinahe zehn Jahren definiert. Wir hatten die naheliegende Idee, dass die Gesamtausgabe, die 1961 zum hundertsten Geburtstag Rudolf Steiners begonnen wurde, zum hundertsten Todesjahr abgeschlossen sein sollte. Wir sind 2016 mit einem Editionsplan von rund 60 ausstehenden Bänden gestartet. Und so wie es aussieht, werden wir fast punktgenau fertig.

Damals gab es Skepsis, ob das gelingt, oder?

Hoffmann Wir haben viel Zeit in die Ressourcenplanung investiert. Wir haben den Aufwand jedes einzelnen Bandes festgelegt: Dieser Band darf ein halbes Jahr, jener ein ganzes Jahr dauern, ein dritter anderthalb Jahre. Dann haben wir die nötigen Finanzen und den zeitlichen Bedarf aufgelistet und auf die zehn Jahre von 2016 bis 2025 und die einzelnen Mitarbeitenden verteilt. Womit wir nicht gerechnet haben, sind die Neuauflagen vergriffener GA-Bände und die Neuauflagen der GA-Bände des schriftlichen Werkes nach Ausgabe letzter Hand, also nach dem letzten von Rudolf Steiner selbst genehmigten Stand. Wir haben während des Projekts gemerkt, dass es auch eine zuverlässige Grundlage der Schriften bräuchte. Eine solche ist in früheren Jahren nicht so erarbeitet worden, wie wir uns das heute wünschen. Das führte zu der Entscheidung, sämtliche Schriften nach Ausgabe letzter Hand zu revidieren. Es gab und gibt ältere Ausgaben, in denen sich verschiedene Manuskripte mischen und alles nicht so ausgewiesen wird, wie es heute gute editorische Praxis ist. Außerdem hatten wir nicht bedacht, dass die Bücher auch noch hergestellt werden müssen. Unsere Rechnung erstreckte sich nur bis zum druckfertigen Manuskript. Satz des Textes, Korrektorat, Druckerei, Buchbinderei, das alles hatten wir nicht kalkuliert. Doch jetzt sind wir in der erfreulichen und auch beängstigenden Situation, dass wir nicht nur die Zielgerade, sondern sogar schon die Ziellinie sehen. Dazu gehört, dass sich auf den letzten Metern noch viel entscheidet, und so haben wir in den verbleibenden anderthalb Jahren noch gut zu tun.

GA-Bücherstapel: Rudolf Steiner Archiv, Dornach

Wie gelang es dabei, den finanziellen Engpass vor drei, vier Jahren zu bewältigen?

Cornelius Bohlen Wir wussten ja 2016 nicht, wie unser Vorhaben, die Gesamtausgabe abzuschließen, ankommt. Dann waren wir sehr erfreut, dass es eine positive Resonanz gab in der anthroposophischen Bewegung, in der Anthroposophischen Gesellschaft, bei Freunden und Förderern. Die ersten Jahre konnten mit Spenden sehr gut bestritten werden. Kleinere Legate haben wir auch empfangen. Dann kam das fünfte, sechste Jahr, wo wir nicht wussten, ob das Projekt jetzt wirklich auf zehn Jahre finanziert wird. Einzelne Stiftungen hatten Gelder gestoppt, weil sie ihren Förderschwerpunkt verlagerten oder ihre Mittel erschöpft waren. Niemand stellte sich gegen das Projekt, aber es war mit einem Mal wieder fraglich, ob wir die jährlich benötigten rund 1,7 Millionen Franken zusammenbekommen würden. Es zeigt sich immer erst am Jahresende, ob es mit vereinten Kräften und nicht zuletzt dank vieler kleiner Einzelspenden gelingt, weiterzumachen. Wir wissen auch heute noch nicht, ob das nächste Jahr finanziert werden kann. Dafür fehlen noch rund 1,4 Millionen Franken. Die Erfahrung aus der Krisenzeit hat uns aber zuversichtlich werden lassen, dass wir die Gesamtausgabe 2025 tatsächlich zum Abschluss bringen können.

Hoffmann Am Anfang dieses Weges gab es auch Zweifel: Die Gesamtausgabe sei doch schon abgeschlossen, meinte man. Wir haben dann gezeigt, dass wesentliche Bände fehlen. Jetzt ist ein Band erschienen, der Rudolf Steiners Lehrstunden im freimaurerischen Kontext dokumentiert (GA 265a). Das war völlig unbekannt. Außerdem arbeiten wir an einer sechsbändigen vollständigen Briefausgabe (GA 38/1–6), deren erste drei Bände bereits erschienen sind. Bisher hatten wir nur eine zweibändige Auswahl von Briefen. Darüber hinaus haben wir vier Bände mit öffentlichen Vorträgen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs ediert, die ebenfalls unbekannt waren (GA 70a/b, GA 71a/b). Oder einen Band mit Steiners Bibelübersetzungen (GA 41a), der so erfolgreich wurde, dass er innerhalb weniger Monate nachgedruckt werden musste.

Bohlen Damit spricht David Marc Hoffmann die Schwierigkeit an, dass im Laufe des Projekts immer wieder Neues gefunden wurde, das auch noch herausgegeben werden sollte. Das Projekt wurde nicht kleiner. So wird es etwa auch eine Neuausgabe des Ergänzungsbandes zu den Sprüchen Steiners geben, der rund 400 Sprüche bzw. Spruchvarianten enthält, die noch nicht veröffentlicht sind (GA 40a).

Hoffmann Es zeigt sich beim Abschluss der Gesamtausgabe, dass nicht nur das Vortragswerk, sondern auch das schriftliche Werk Steiners noch unbekannte Elemente enthält. Das sind die – natürlich willkommenen – Überraschungen, die unsere Planung immer wieder durchkreuzen.

Abschluss der Gesamtausgabe – ist das ein Geschenk an Rudolf Steiner, an die Öffentlichkeit?

Bohlen Hat die Öffentlichkeit es denn nicht verdient, dass alle Werkphasen transparent und zugänglich sind? Ich denke, dass man Steiner am besten versteht, wenn man sein Werk überschaut – von den frühen philosophischen Schriften bis zu den letzten Fragmenten. So kann man ihn und seine Arbeit, ja seinen gesamten Lebensgang als Lebenswerk besser begreifen. Das ist ja der Sinn der Gesamtausgabe: Rudolf Steiner in allen Facetten wahrnehmbar und erforschbar zu machen.

Hoffmann Mich verbindet eine große Dankbarkeit mit dieser Aufgabe, die ich übernehmen durfte. Ich bin jedoch erstaunt und auch enttäuscht, dass diese Editionsleistung kaum wahrgenommen wird – selbst im anthroposophischen Umfeld. Das zeigt sich etwa an den Absatzzahlen. Es ist sehr ernüchternd, dass vieles, was in den letzten Jahren erschienen ist, kaum rezipiert wird. Aber letztlich haben wir uns immer augenzwinkernd und unbescheiden gesagt: Wir arbeiten für die Ewigkeit. All diese GA-Bände, die wir jetzt herausgeben, werden Maßstab sein für die Auseinandersetzung mit Steiner während kommender Jahrzehnte und Jahrhunderte. Bücher haben eine lange Halbwertszeit, und insofern trösten wir uns, wenn sie nicht jetzt sofort rezipiert werden. Rudolf Steiners Gesamtwerk muss einfach vorliegen.

Bohlen Das sehe ich auch so, und das ist ja der Zauber: dass Großwerke über Jahrhunderte studiert werden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Erforschung Rudolf Steiners auf einigen Gebieten gerade erst beginnt. Vieles wurde überdeckt von Traditionen und Legenden, die verhindern, dass man sich auf Steiner einlässt oder sich von ihm überraschen lässt.

Hoffmann Wir wollen mit der Gesamtausgabe Material vorlegen, damit die Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner ohne Deutungsvorgaben ergebnisoffen stattfinden kann. Darauf hoffen wir.

Das ist die Brücke zu Angelika Schmitt und Philip Kovce. Wie ist eure Beziehung zum Archiv?

Angelika Schmitt Ich komme aus der Anthroposophie-Forschung und habe über Andrej Belyj, einen russischen Symbolisten und esoterischen Schüler Rudolf Steiners promoviert; über sein kulturphilosophisches Hauptwerk, das lange als verschollen galt und von Gedanken Steiners inspiriert wurde. Dabei haben mich auch Belyjs Meditationszeichnungen interessiert. Und das führte mich vor einigen Jahren ins Rudolf Steiner Archiv, denn hier befinden sich einige davon. Zuvor hatte mich eine andere Tätigkeit schon einmal ans Archiv gebracht. Ich war nämlich in Mannheim am Institut für Waldorfpädagogik in einem Projekt zum interreligiösen Dialog tätig und hatte mir angesehen, welche Bücher zu den verschiedenen religiösen Strömungen Steiner in seiner Privatbibliothek besaß, wie intensiv er sie studierte und was ihn dabei besonders interessierte. Also kannte ich das Archiv bereits, als man mich auf die Stellenausschreibung aufmerksam machte, und dann habe ich die Gelegenheit ergriffen und mich beworben. Und jetzt bin ich sehr glücklich, hier im Team mit Philip Kovce arbeiten zu dürfen.

Philip Kovce Wir sind uns schon früher bei den Rudolf Steiner Forschungstagen begegnet, einem Kolloquium, das ich einige Jahre mit organisiert habe. Die Forschungstage gastierten regelmäßig im Rudolf Steiner Archiv – von daher kenne ich das Archiv schon als Veranstaltungsort. 2011 habe ich zu Steiners ‹Ethik des Sprechens› geforscht – auch im Archiv. Und das erste Büchlein, das ich 2014 im Rudolf Steiner Verlag ediert habe, widmet sich Steiners Freiheitsbegriff: ‹Stichwort Freiheit›. Ohne den elektronischen Zugriff auf die Gesamtausgabe wäre das kaum möglich gewesen. Kurzum: Veranstaltungsort, Forschungsstelle, digitaler Dienstleister – mir scheint, dass ich in der Vergangenheit bereits Zukunftsperspektiven des Rudolf Steiner Archivs kennengelernt habe. Sie werden eine noch größere Rolle spielen, wenn die bis dato identitätsstiftende Herausgabe der Gesamtausgabe abgeschlossen sein wird. Dann geht es um ein neues Selbstverständnis.

Das ist der öffentliche Zugang, der zum Selbstverständnis des Archivs gehört.

Bohlen Was jetzt in den Vordergrund rückt, ist etwa eine permanente Ausstellung zu Leben und Werk Rudolf Steiners sowie der Aufbau eines Forschungsarchivs – auch digital, wozu man nicht ins Archiv kommen muss. Oder aber man studiert die Originaldokumente vor Ort, was nicht nur ein wohlgeordnetes, sondern auch ein gut erschlossenes Archiv erfordert.

Hoffmann Der öffentliche Zugang zu den Archivalien existiert bereits seit der Einrichtung des Lesesaals 2013. Für die Archivbenutzung braucht es keinerlei Legitimation. Jeder, der sich an die Benutzungsordnung hält, ist herzlich willkommen. Für viele in der anthroposophischen Bewegung ist es nicht so einfach einsehbar gewesen, dass Rudolf Steiners Werk der Öffentlichkeit gehört. Demgemäß wurde die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, die das Archiv trägt und Herausgeberin der Gesamtausgabe ist, 2015 von einem Verein in eine gemeinnützige Stiftung umgewandelt. Auch rechtlich gesehen gehört Steiners Nachlass seither niemandem mehr, sondern allein sich selbst und steht der Welt zur Verfügung.

Was bedeutet das für die Archivarbeit?

Bohlen Angelika Schmitt und Philip Kovce werden zunächst die Gesamtausgabe abschließen. Wenn David Marc Hoffmann Ende März 2025 aufhört, geht das Projekt mindestens noch bis Ende 2025 weiter. Dann steht an, den Archivbestand gründlich zu erschließen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir bisher hauptsächlich ein Editionsarchiv gewesen sind. Es ging vor allem darum, die Materialien im Rahmen der Gesamtausgabe herauszugeben, weniger darum, sie systematisch zu erschließen und für andere zugänglich zu machen. Natürlich kann schon heute jeder ins Archiv kommen, um Archivalien einzusehen, Ausstellungen und Führungen zu besuchen oder den Lesesaal zu nutzen, der mit einer exzellenten Handbibliothek ausgestattet ist. Aber künftig wird das der neue Schwerpunkt sein: ein Forschungs- und Ausstellungsarchiv unter Beibehaltung seiner Editionskompetenz, denn Neuauflagen und Neubearbeitungen sind natürlich weiterhin gefordert.

Permanente Ausstellung und Digitalisierung der Archivalien: Was kann man sich darunter vorstellen?

Hoffmann Man redet immer von Digitalisierung. Zunächst aber braucht es Katalogisierung, Inventarisierung und fachgerechte Archivierung. Wie Cornelius Bohlen schon gesagt hat, war das Archiv bisher vor allem ein Editionsarchiv. Das Archiv ist zwar sehr gut geordnet, aber nicht entsprechend gut katalogisiert und inventarisiert, um der Öffentlichkeit über ein öffentliches Portal zur Verfügung zu stehen. Das wird eine Aufgabe meiner Nachfolger sein: die Inventarisierung und Teildigitalisierung des Archivs. Inventarisierung heißt zunächst einmal Bestandsaufnahme: Notizbücher und Notizzettel, Manuskripte, Briefe – rund 3000 von und 25 000 an Steiner. All das zu erschließen und das Wichtigste davon dann zu digitalisieren, sodass eine Art digitaler Lesesaal entsteht, ist eine der Herausforderungen der Zukunft. Es wird Jahre dauern, das zu schaffen.

Wie sieht eure Einarbeitungszeit aus?

Schmitt Zunächst möchten wir natürlich den ganzen Betrieb kennenlernen – die verschiedenen Arbeitsbereiche, die es gibt, wie die Edition funktioniert, wie die Archivierung. Es ist wichtig, einen Überblick zu gewinnen, damit die realen Bestände sinnvoll in eine digitale Datenbank überführt werden können. Daneben steht das hundertste Todesjahr Steiners im Fokus. Da gibt es viele Veranstaltungen, die wir teilweise schon mitverantworten. Und natürlich wollen wir die Editionsarbeit, soweit uns dies möglich ist, unterstützen, damit sie bis Ende 2025 erfolgreich abgeschlossen werden kann.

Kovce Dem kann ich nur beipflichten.

David, vor deiner Tätigkeit im Rudolf Steiner Archiv hast du den Basler Schwabe-Verlag geleitet, den weltweit ältesten Verlag, gegründet 1488. Dein Vorgänger, Walter Kugler, ist in der europäischen Kunstwelt verankert. Philip, du bist als Autor, Ökonom, Philosoph und Moderator mit der deutschsprachigen Kulturwelt vernetzt. Gehört diese Weltläufigkeit zum Gesicht des Archivs?

Kovce Ich würde sagen, diese Weltläufigkeit entspricht zunächst einmal dem Wirken Rudolf Steiners. Ob als Philosoph, Theosoph oder Anthroposoph: Im Grunde genommen war Steiner andauernd elfenbeinturmflüchtig; ein Anti-Geheimwissenschaftler, dem es selbst in intimen rituellen oder meditativen Kontexten stets ums große Ganze als öffentliches Anliegen ging. Dieser Weltläufigkeit verdankt Steiner seine Kulturwirksamkeit. Er begnügte sich eben nicht bloß mit neuen pädagogischen, ökologischen oder therapeutischen Ansichten, sondern begründete ganz konkret eine neue Erziehungskunst, eine neue Landbaukunst, eine neue Heilkunst. In diesem Sinne hütet das Rudolf Steiner Archiv keine Schätze, die sich selbst genügen, sondern Schatzkarten, die Wege hinaus in die Welt weisen. Diese Form der Weltoffenheit oder Selbstlosigkeit des Archivs finde ich besonders spannend.

Das klingt so, als ob du nicht lange überlegen musstest, ob du das Rudolf Steiner Archiv künftig leiten willst.

Hoffmann Das muss er nie!

Bohlen Und er hat es in diesem Fall doch getan: Er hat es sich länger überlegt …

Kovce … und dann zugesagt.

Bohlen Das war für uns ein überraschender Prozess, weil wir ursprünglich gar nicht vorgehabt hatten, eine Teamleitung zu bilden. Das hat sich erst während des Bewerbungsprozesses ergeben, als wir diese beiden attraktiven Kandidaten hatten. Mit ihnen haben wir eine Konstellation gefunden, die wir gar nicht gesucht hatten. Das ist das Glück des Unerwarteten, für das man offen sein muss.

Immer wieder, etwa beim viel beachteten Format ‹Sternstunde Philosophie› im Schweizer Fernsehen, bittet man dich, David, als Archivleiter zum Gespräch. Wird das Archiv als Gewährsstelle für Anthroposophie gesehen?

Hoffmann Ja, durchaus. Wir sind eine nach außen gerichtete Institution. Wir forschen, veröffentlichen und leihen auch viel aus, etwa Wandtafelzeichnungen Steiners an Museen weltweit. Teilweise werden Anfragen, die im Goetheanum eintreffen, an uns weitergeleitet. Wir sind eine Auskunftsstelle. Aber wir erheben keinen Anspruch auf Deutungshoheit. Wir legen Steiners Werk nicht aus, sondern vor. Inhaltliche Fragen weisen wir, wann immer möglich, zurück und verweisen die Fragenden stattdessen auf sich selbst. Wenn ich sagen soll, was denn ein bestimmter Abschnitt bei Steiner bedeute, dann kann ich nur sagen, dass diese Deutung nicht unsere Aufgabe, sondern die Aufgabe jedes Einzelnen ist.

Bohlen Wobei es natürlich Korrekturen gibt. Das ist, seitdem ich das Archiv kenne, eine wichtige Aufgabe: Dinge zu überprüfen, die Rudolf Steiner gesagt oder getan haben soll und die manchmal, modern gesprochen, als Fake News durch die Welt geistern.

Steiner habe Fußball an Waldorfschulen verboten, ist ein solches Gerücht.

Bohlen Ja, zum Beispiel. Wir können natürlich nicht nachweisen, dass Steiner so etwas niemals gesagt hat, aber wir können darauf hinweisen, dass nichts vorliegt, das eine solche Aussage verbürgt.

Hoffmann In diesem Sinne werden wir häufig für Faktenchecks konsultiert und geben dann faktische Informationen weiter.

Bohlen Die Frage ist freilich: Wie finanziert man eine solche Dienstleistung? Wir sind der Öffentlichkeit, aber auch der anthroposophischen Bewegung gegenüber verpflichtet, Auskunft geben zu können, eben eine Auskunftsstelle zu sein. Das Bild von Steiner ist verstellt von Gegnern und Kritikern, aber auch von Verehrern, die Steiner-Bildern anhängen, die vielleicht interessant sein mögen, aber häufig gar nicht stimmen. Da zur Aufklärung beizutragen, ist ein wichtiges, aber wirtschaftlich kaum gewürdigtes Geschäft.

Hoffmann All die Mythen! Wir würden etwa das Geburtsdatum Ahrimans zurückhalten, das in einem Notizbuch Steiners stünde. Dieser Vorwurf hat mich empört. Es ist weder unser Auftrag noch unsere Praxis, irgendetwas zurückzuhalten. Im Gegenteil: Wir machen alle Archivalien zugänglich und haben infolgedessen auch sämtliche 638 vorliegenden Notizbücher Steiners Seite um Seite erschlossen. In mehreren ganztägigen Klausuren haben wir alle Notizbücher durchexzerpiert und verzeichnet. Und so finden wir jetzt alle Namen, alle Daten in einer Datenbank. Das war ein großer Aufwand.

Bohlen Ahrimans Geburtstag habt ihr nicht gefunden?

Hoffmann Nein. Wie gesagt: Neben dem vielen Wohlwollen gibt es leider auch immer wieder Argwohn. Dabei arbeiten wir so transparent wie nur möglich. Wir dokumentieren, wo wir, wie wir und warum wir editorisch eingreifen. Wir legen alle Materialien vor und weisen die Archivstandorte nach. Jeder kann das nachprüfen. Und doch gibt es böse Unterstellungen. Das ist bitter und enttäuschend. Umso dankbarer sind wir für die viele Zustimmung. Es gibt Leute, die an mich persönlich schreiben, sich herzlich für unsere Arbeit bedanken und 50 000 Franken in bar dafür beilegen – so vor einiger Zeit geschehen. Andere zahlen jeden Monat 20 Franken, über Jahre. Wieder andere haben das Haus ihrer Eltern verkauft und spenden uns aus diesem Ertrag. Dabei ist nicht nur das Geld für unsere Arbeit wichtig, sondern auch der damit verbundene Zuspruch. Es ist eine Form der Anerkennung der Arbeit, die wir leisten, eine Anerkennung des Werkes Rudolf Steiners.

Gibt es für euch, Angelika und Philip, einen Satz, einen Gedanken Steiners, der euch besonders vertraut ist, der euch geprägt hat?

Schmitt Mich hat in meiner Jugend ein Gedanke Steiners sehr fasziniert, nämlich dass der Mensch ein Gedanke sei, der von den Hierarchien des Kosmos gedacht wird. Damals erschien mir das sehr groß und gewaltig und kaum fassbar. Mit den Jahren hat es sich dann immer mehr mit Inhalt gefüllt und ich habe entdeckt, dass das esoterische Werk Steiners ja nichts anderes ist als die Ausbuchstabierung dieses Gedankens. Es hat mich dann aber auch zunehmend interessiert, ob und wo man diesen Gedanken bei anderen Autoren, in anderen Zusammenhängen finden kann. Und welche Formen er dort annimmt, in welche Worte und Bilder er dort gegossen wird. Und wer weiß: Vielleicht hat ja auch uns beide der Kosmos hierhergeführt und mit der ehrenwerten Aufgabe betraut, die Zukunft des Rudolf Steiner Archivs zu gestalten.

Kovce Wer weiß: Vielleicht sind es ja auch wir selbst, die uns hierhergeführt haben. Die Selbstführung des Schicksals scheint mir jedenfalls ein nicht minder großer Gedanke in Steiners Ideenkosmos. Ich habe mich früh für Steiners Frühwerk begeistert, für dessen loderndes Feuer der Freiheit. Inzwischen frage ich mich, inwiefern das spätere Werk eine Ausbuchstabierung dieses Freiheitsimpulses ist. Es mag sein, dass Steiner in gewissen Diskursen und Initiativen hinter seinen eigenen oder unseren heutigen Freiheitserwartungen zurückbleibt; dennoch sehe ich seinen unermüdlichen Einsatz eben dafür: für den freien, selbstbestimmten Menschen und eine ihm gemäße Welt. Davon ausgehend frage ich mich immer wieder: Was kann ich hier, was kann ich jetzt im Lichte der Freiheit tun?

Welche Unterstützung wünscht ihr euch?

Schmitt Ehrliches Interesse und Leidenschaft für das Werk Rudolf Steiners, um seine Erforschung voranzubringen. Die akademische Steiner- und Anthroposophie-Forschung steckt ja noch in den Kinderschuhen, die binnenanthroposophische wird in der Welt kaum wahr- oder nicht ernst genommen. Jetzt, wo die Gesamtausgabe bald abgeschlossen sein wird, kann es mit der Erforschung Steiners ja richtig losgehen! Dafür gibt es viel zu tun: Stipendien zur Verfügung stellen, die es Menschen ermöglichen, hier vor Ort zu forschen; Verzerrungen und Halbwahrheiten, die in der Öffentlichkeit kursieren, berichtigen, um falsche oder verengte Steiner-Bilder hinter sich zu lassen; eine Atmosphäre schaffen, in der ein unaufgeregter Austausch über das Werk Rudolf Steiners möglich ist, in der sich unterschiedliche Positionen und Sichtweisen gegenseitig bereichern und befruchten können.

Kovce Da bleibt mir erst mal nichts zu wünschen übrig.


Fotos aus dem Gespräch Wolfgang Held

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