Warum das harmonischste Universum zugleich das instabilste sein könnte – und weshalb die kosmische Ordnung Irrationalität zu bevorzugen scheint.
Seit jeher bewundern wir den Kosmos für seine Eleganz. Von den anmutigen Umlaufbahnen der Planeten bis hin zur stillen Symmetrie der Sternspiralen – der Nachthimmel strahlt Harmonie aus. Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen, Wissenschaftlerinnen und Mystiker gleichermaßen, diese Harmonie auf etwas Konkretes zurückzuführen: eine Note, eine Zahl, eine Formel.
Zwei solche Zahlen – die Oktave und der Goldene Schnitt – haben sich als Symbole für die universelle Ordnung herauskristallisiert. Beide kommen in der Musik, der Kunst, der Mathematik und der Architektur vor. Beide werden für ihre ästhetische Anziehungskraft und ihre kosmische Bedeutung gepriesen. Und neuere wissenschaftliche Arbeiten deuten auf etwas noch Faszinierenderes – und Paradoxeres – hin.
Oktave und Goldener Schnitt
Die Oktave, die musikalische Verdopplung der Frequenz (2:1), ist vertraut und angenehm. Schlagen Sie ein tiefes C auf dem Klavier und dann ein C eine Oktave höher an: Der Klang schwingt mit. Er fühlt sich stabil und harmonisch an. Aber in der Natur und insbesondere in der Himmelsmechanik stellt sich, wie wir sehen werden, dieselbe Resonanz als Quelle des Chaos heraus.
Im Gegensatz dazu scheint der Goldene Schnitt – ungefähr 1,618 oder φ (ausgesprochen ‹phi›) – undurchsichtiger zu sein. Er wird als die irrationalste Zahl gepriesen, was bedeutet, dass sie mit Brüchen am schwersten zu approximieren ist.1 Aber in den dynamischen Systemen, die von der Planetenbewegung über den Herzschlag2 bis hin zum menschlichen Gang3 zu finden sind, wirkt der Goldene Schnitt eher stabilisierend als störend.
Für die Griechen der Antike war der Himmel Musik. Pythagoras glaubte, dass die Planeten beim Tanzen die ‹Sphärenmusik› sangen. Johannes Kepler ordnete in seinem Werk ‹Harmonices Mundi›4 die Planetenbahnen musikalischen Intervallen zu und sah in den Proportionen des Sonnensystems die göttliche Harmonie. Besonders faszinierte ihn die harmonische Beziehung zwischen den Umlaufbahnen. Saturn und Jupiter beispielsweise umkreisen die Sonne in einem Verhältnis von fast 2:5 (auf dem Weg zum Doppeloktav).
Planetenresonanz und Erdbeben
Heute weiß man jedoch, dass Sonnensysteme, einschließlich unseres eigenen, fragil sind.5 Orbitalharmonien können zu chaotischem Verhalten führen. Die Überlagerung von Resonanzen – insbesondere einfacher Resonanzen wie 2:1 – kann Instabilität verursachen. Wisdom berechnete sogar, dass das gesamte Sonnensystem eine Lyapunov-Zeit (ein Maß dafür, wie schnell kleine Unterschiede zu Chaos führen) von nur fünf Millionen Jahren hat.6
Diese Spannung zwischen Harmonie und Chaos gilt nicht nur für Planeten. Forschende analysierten Erdbebendaten aus über 60 Jahren und machten eine überraschende Entdeckung: Erdbeben der Stärke 7+ häufen sich um bestimmte Umlaufbahnkonstellationen mit Jupiter.7
Mithilfe der NASA-Planetenephemeriden und umfangreicher Chi-Quadrat-Tests entdeckte das Team einen überraschenden Zusammenhang: Die Wahrscheinlichkeit eines starken Bebens steigt deutlich an, wenn Erde und Jupiter in Winkeln von etwa 45° und 135° zueinander stehen – nicht bei den intuitiv erwarteten Positionen von genau 0° oder 180°. Diese Konfigurationen bilden keine offensichtlichen Resonanzen wie die Oktave, scheinen jedoch einen pulsartigen Gezeiteneffekt auszuüben, der tektonische Systeme vorübergehend destabilisiert und große seismische Ereignisse auslöst.
Antiresonanz und Weigerung
In dynamischen Systemen – einschließlich Planetenbahnen und angetriebenen Oszillatoren – hat der Goldene Schnitt als irrationalstes Verhältnis die besondere Eigenschaft, Resonanz mit fast allem zu vermeiden: Man kann ihn nicht einfach mit anderen Frequenzen in Einklang bringen. In Systemen, die von Resonanz beherrscht werden, macht dies φ zu einer Art ‹Antiresonanzzahl›.
In der Mathematik wird diese Eigenschaft als diophantische Inkommensurabilität bezeichnet. Physiker des 20. Jahrhunderts, insbesondere unter Verwendung der sogenannten KAM-Theorie8, zeigten, dass Systeme mit goldenen Verhältnissen dazu neigen, quasi-periodische, stabile Bahnen zu bilden, die immun gegen das Chaos sind, das benachbarte Resonanzen erzeugen. Und in der Physik führen Frequenzmodulationen auf Basis des Goldenen Schnitts oft zu minimalen Lyapunov-Exponenten, was auf eine hohe Stabilität über lange Zeiträume hindeutet. Diese Eigenschaft tritt auch in anderen Disziplinen auf, beispielsweise in der Strömungsdynamik, im Instrumentenbau9 oder bei neuronalen Oszillationen10. Steiner beschreibt die Inkommensurabilität als etwas, das Leben in ein ansonsten starres System bringt.11
Letztendlich könnte das, was wir Harmonie nennen, ein Doppelagent sein. Gerade die Resonanzen, die für unsere Ohren schön klingen – die Oktaven, die perfekten Verhältnisse – sind oft die Bruchlinien der Instabilität im Kosmos. Unterdessen flüstert die goldene Mitte mit ihrer Weigerung, sich ordentlich an etwas anzupassen, von einer tieferen Ordnung. Es ist die Irrationalität, nicht die Symmetrie, die diese Systeme still zusammenhält. Wo Resonanz Chaos hervorruft, lenkt φ es ab – nicht durch Übermacht, sondern indem es sich zwischen die Risse der Vorhersehbarkeit schiebt. Vertraut das Universum seine tiefste Stabilität vielleicht nicht dem an, was sich anpasst, sondern dem, was sich weigert, sich anzupassen?
Fußnoten
- Heinrich Müller, Physik der irrationalen Zahlen. In: Fortschritte der Physik 18 (2022), Heft 2, S. 10–17.
- Ertan Yetkin, Der Herzzyklus und die diastolische Dauer bei gesunden Erwachsenen: Verifizierung des Goldenen Schnitts? In: Indian Heart Journal 77 (2025), S. 130.
- Marco Iosa, Giovanni Morone, Stefano Paolucci, Der goldene Gang: Eine Perspektive der Optimierungstheorie auf menschliches und humanoides Gehen. In: Frontiers in Neurorobotics 11 (2017).
- Johannes Kepler, Harmonices Mundi. Linz 1619.
- Antoine C. Petit et al., Dynamische Evolution planetarischer Systeme. In: Handbuch der Exoplaneten, Springer, Cham 2025, S. 1–24.
- Jack Wisdom, Das Resonanz-Überlappungs-Kriterium und der Beginn des stochastischen Verhaltens im eingeschränkten Drei-Körper-Problem. In: Astronomical Journal 87 (1982), S. 577–593.
- Edward W. Holt, Edwin Newman, Gezeitenauslösung von Erdbeben der Stärke 7+ durch Jupiter. Preprint arXiv:2508.07064 (2025).
- Andrej N. Kolmogorov (1954); Vladimir I. Arnold (1963); Jürgen Moser (1962): KAM-Theorie.
- Benjamin P. Daley et al., Das harmonische Farbrad: Eine Reise durch die universelle Harmonie. Eigenverlag, 2025.
- Barbara Pletzer, Hubert Kerschbaum, Wolfgang Klimesch, Wenn Frequenzen niemals synchronisieren: Der goldene Mittelwert und das Ruhe-EEG. In: Brain Research 1335 (2010), S. 91–102.
- Rudolf Steiner, Astronomischer Kurs (GA 323), insbesondere 4. Vortrag vom 4. Januar 1921. Siehe auch: Apokalypse (GA 346), 11. Vortrag vom 15. September 1924.








