Ein Freund und großer Dreigliederer ging über die Schwelle.
Das Überschreiten von Schwellen und Grenzen gehörte zu seinen ständigen Übungen. Er lief vor den machtvollen Erscheinungen des Bösen in unserer dicht am Abgrund taumelnden Welt nie davon, sondern erforschte sie, rang mit ihnen, bot ihnen die Stirn, setzte sich mit ihnen auseinander und ihnen entgegen, immer im entschlossenen Bemühen, für das Gute einzutreten und der Freiheit, dem Recht und der Sozialität Wege offenzuhalten. Er ging dabei über viele Grenzen – Grenzen der Länder, der Gewohnheiten, des Denkens, der Fachgebiete, der Machtansprüche, des von den Mächtigen Erlaubten und des Üblichen. So wurde er zum Ermutiger, Vorkämpfer und Vorbild für viele, in aller Welt.
Nicanor studierte Agrarwissenschaften und kämpfte gegen Atomkraftwerke, Pestizide und die allmähliche Zerstörung von Erde und Mensch durch eine chemisierte und industrialisierte Landwirtschaft. Mit 28 Jahren musste der am 10. Januar 1950 Geborene deshalb die Philippinen, seine unter der Kontrolle des totalitären Diktators Ferdinand Marcos stehende Heimat, für unbestimmte Zeit verlassen. Erst nach Marcos’ Tod konnte er zurückkehren. Nun begann er, den Widerstand gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und den Einsatz für tragfähige gesamtgesellschaftliche Alternativen langfristig zu organisieren. So gründete er das Center for Development Alternatives (CADI), das sich für eine ökologisch ausgerichtete Landwirtschaft (Permakultur, Biodiversität) und eine nachhaltige Entwicklung einsetzt, die die unerwünschten Formen ungebremsten Wachstums überwindet. Außerdem gründete er ein Bankensystem (Lifebank), das Kleinbauern und -bäuerinnen das Überleben sichern soll. Ein weiteres wichtiges Element von Perlas’ Konzept war die Entwicklung der trisektoralen Partnerschaft, eines runden Tischs von Zivilgesellschaft, Staat und Geschäftswelt.
In seinem letzten Lebensjahrzehnt waren es vor allem die hinter der Digitalisierung sowie hinter der (zu Unrecht so genannten) ‹künstlichen Intelligenz› (KI) stehenden Kräfte, die Nicanor so weit wie möglich durchdringen und deren Machtübernahme er sich entgegensetzen wollte. Er lebte und recherchierte dafür längere Zeit in den USA, vor allem im Silicon Valley. Nicanor beschäftigte dabei besonders die Frage, was wir an menschlichen Qualitäten entwickeln und den Maschinenkräften entgegensetzen können, um sie zu beherrschen und nicht von ihnen beherrscht zu werden (s. sein Buch ‹Künstliche Intelligenz – so können wir überleben. Eine Zukunft durch Anthroposophie›).
Nicanor wurde bald zum vielleicht wichtigsten Umweltaktivisten der Philippinen und zu einer weltweiten Schlüsselfigur im Bemühen um eine partizipative Gestaltung der Globalisierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Seine Vorträge fanden weltweites Interesse, seine Bücher in vielen Ländern Leser und Leserinnen. So lange wie möglich war er rund um die Erde aktiv. Auch ich lud ihn mehrmals ein, zuletzt im Namen der Sektion für Sozialwissenschaften im Jahr 2019 zu ‹100 Jahre Dreigliederung›. Wir sahen einander selten, wussten uns darum aber geistig umso mehr verbunden. Es gab nicht viele seines Kalibers in der Dreigliederungsbewegung. So trafen wir einander, telefonierten, tauschten uns aus, wann immer es möglich war. Denn Nicanor war, wie auch seine Arbeit in allen ihren Aspekten, tief von der Anthroposophie Rudolf Steiners und von seiner Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus durchdrungen.
Gerne will ich mein Gedenken an Nicanor damit verbinden, noch einmal einige wichtige Elemente seines Dreigliederungsverständnisses hervorzuheben. Nicanor stand für ein globales, modernes, dynamisches und integrierendes Dreigliederungsverständnis. Dabei sah er den entscheidenden Akteur des Wandels in der erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts lokal und global vernetzten Zivilgesellschaft: Nicanor: «Diese Zivilgesellschaft [ist] die wichtigste soziale Neuerung des 20. Jahrhunderts. Sie kommt an Bedeutung der Errichtung der Nationalstaaten zu Beginn des 17. Jahrhunderts oder dem Aufkommen moderner Marktwirtschaften im 18. Jahrhundert gleich.»1 Als ihre Praktiken und Normen sah er Assoziation, Selbstorganisation und organisierte Kommunikation. Erst durch diese ausgleichende dritte Kraft gegenüber Staat und Markt könne ein Prozess hin zu einer gesellschaftlichen Dreigliederung von Politik, Kultur und Wirtschaft entstehen, die sonst unter dem Einfluss der Globalisierung neoliberaler Prägung einseitig und verformt sei, dem Markt die Vorherrschaft einräume und die anderen Bereiche versklave.2
Nicanor hielt eine Reflexion und bewusste Darstellung dieser neuen Dreigliederung für geboten, damit die Zivilgesellschaft sich ihres Einflusses und ihrer eigenständigen Rolle als einer sozialen Kulturkraft bewusst werde. In dem Maße, in dem dies geschehe, entstehe bewusste Dreigliederung, die zur fortgeschrittenen Dreigliederung werde, wenn die Zivilgesellschaft ihre gesamtgesellschaftlichen Alternativen entwickle und präsentiere. Immer stärker setzte Nicanor Perlas sich in den letzten Jahren dafür ein, Globalisierung auch als eine spirituelle Aufgabe zu betrachten. Seine Impulse wurden weltweit wahrgenommen und waren für viele Menschen und Initiativen richtunggebend.
Immer wieder wurde Nicanor für seine weltweite Arbeit ausgezeichnet. So war er Mitglied des Club of Budapest und Berater für Nachhaltige Entwicklung bei der UN. 2003 erhielt er den Right Livelihood Award (sog. ‹Alternativer Nobelpreis›) für seine «vorzüglichen Beiträge zur Aufklärung der Zivilgesellschaft über die Auswirkungen der Globalisierung und dafür, wie Alternativen dazu verwirklicht werden können».
Nicanor Perlas hat für uns alle schon viele Schwellen überwunden. Am 15. August überschritt er in Bulacan (Philippinen) die Schwelle zur geistigen Welt. Danke, Nicanor, für dein Erdenwerk und -sein!
Bild Nicanor Perlas, Foto: Wolfgang Schmidt








