Der folgende Artikel ist aus meiner Beschäftigung mit Idee und Praxis der Meditation auf Grundlage der Anthroposophie entstanden. Es ist mein Anliegen, im Hinblick auf die große Vielfalt an individuellen Zugängen und Ansätzen auf diesem Feld einen gemeinsamen Bezugspunkt aufzuzeigen. Daraus hat sich die folgende tableauartige Darstellung ergeben. Der Leser mag sie als Anregung nehmen, seine eigene Sichtweise neu zu beleuchten oder zu ergänzen.
Anthroposophische Meditation ist ein Weg der Ausbildung von Wahrnehmungsorganen für geistige Wesen und deren Wirken. Dieser Weg ist in seiner grundsätzlichen Methode und mit einer Vielzahl von möglichen Übungen und Inhalten durch Rudolf Steiner selbst mehrfach in seinen Schriften und Vorträgen dargestellt. Seine Realisierung bedarf der Individualisierung. Der Weg zur realen Beziehung zu geistigen Wesen ist immer individuell und immer situativ neu zu finden.
Sinn und Ziel der Meditation sind verbunden mit einem Erleben der Mitverantwortung für die Entwicklung der Welt, der Erde, der Natur, der geistigen Wesen, der Menschheit und der eigenen Seele. Meditative Praxis dient dem Leben auf der Erde und entfremdet nicht von den Aufgaben des Alltags. Die Erkenntnis von und Verbindung mit geistigen Wesen dient nicht der Erdenflucht, sondern dem Erdenfortschritt in allen Lebensbereichen. – Meditation in diesem Sinne kann zu einem Baustein werden, das eigene Leben menschlicher zu gestalten. Der Mensch wird so zur Brücke, zum Vermittler von Geist und Materie – in einem atmenden, künstlerischen Prozess.
Ein individueller Anfang
Voraussetzung für die meditative Praxis ist ein eigener Entschluss – nicht ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, auch nicht eine Berufung von anderen, nicht das Erfüllen von einem Verhaltenskodex, welcher vorgibt, was alles zu tun oder zu lassen ist.
Ausgangspunkt zum Meditieren kann die seelische Not sein, ausgelöst durch das Bewusstsein des Getrenntseins von dem eigenen Wesen als Mensch, oder damit verbunden die Ahnung, durch meditative Praxis eine Art inneren Dursts nach geistiger Nahrung stillen zu können. Auch die Ohnmacht, die das Verbundensein und das Miterleben der menschheitlichen und globalen Nöte auslösen, kann zu einem Anfang werden. – Aber auch hier gilt: Es gibt letztlich nur einen individuellen Anfang.
Ansatzpunkt ist das wache Alltagsbewusstsein. Durch entsprechende Übungen wird das Bewusstsein gesteigert und erweitert, nicht getrübt, gedämpft oder abgeschaltet. Anthroposophische Meditation beruht auf einer Schulung der Aufmerksamkeit. Diese kann in zwei polaren Richtungen gesteigert werden: in Richtung Punkt, Konzentration, Fokus einerseits und Umkreis, Weitung, Hingabe, Empfänglichkeit auf der anderen Seite. Es bildet sich in der Steigerung beider Kraftrichtungen ein neues Bewusstsein, das in der Hingabe und Weitung die eigene Präsenz und Identität nicht verliert.
Der innere Raum
Die Phasen der Meditation sind:
· Vorbereitung: gedankliche Beschäftigung mit dem Meditationsinhalt und innere Einstimmung
· Inneres Bewegen und Ruhen in dem aufgebauten Inhalt
· Auslöschen des Inhaltes und Halten der inneren Aktivität
· Nachklang und Resonanz
Meditationsinhalte können Worte, Bilder oder Gefühle sein. Immer geht es darum, die Seele für eine bestimmte Zeit in voller Intensität und Hingabe aus ihrer Leibgebundenheit herauszulösen und auf einen frei gewählten, selbst durchschauten Inhalt zu konzentrieren. – Insgesamt geht der Weg anthroposophischer Meditation vom Denken aus und steigert dieses durch verschiedene Mittel in drei Stufen – Imagination, Inspiration, Intuition – bis zum Zustand der Intuition als dem des Erlebens von Wesen in Wesen im Sinne einer Wesensdurchdringung.
Meditation im Leben
Die Früchte der meditativen Arbeit zeigen sich beim Meditieren selbst in der entstehenden, lebendigen Beziehung zu geistigen Wesen oder auch im Lebens- und Berufsalltag: Neue Ideen und Impulse tauchen auf, die sich als fruchtbar erweisen. Auch kann das Leben selbst zum «Lehrer» werden, wenn man es in seiner Sprache zu hören lernt.
Die Ausbildung der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane ist gebunden an begleitende und ergänzende Übungen, welche ausgleichend und schützend auf die Seele wirken. Der Weg der Meditation wird erst fruchtbar und heilsam bei Berücksichtigung ganz bestimmter Gleichgewichtsverhältnisse:
· Meditation basiert auf einer Erkraftung des Denkens und damit zusammenhängend der Verstärkung des Ichs.
· Ausgleichend wirkt die tägliche Rückschau im Sinne einer Durchlichtung des Wollens und der Lebensverarbeitung; Dankbarkeit gegenüber der Welt und den Mitmenschen entfaltet sich.
· Meditation bewirkt seelische Weitung und Öffnung – dieser Prozess kann ausgeglichen werden durch sechs ‹Nebenübungen›; sie bewirken seelische Stabilisierung und Orientierung im Denken, im Fühlen und im Wollen.
· Meditation ist das Mittel zur Ausbildung von geistigen Wahrnehmungsorganen – die Entwicklung von innerer Ruhe als Kraft erzeugt den notwendigen Schutz für die Reifung dieser Organe.
· Meditation lebt von der intensiven Hinwendung zu geistiger Realität – diese findet ihren Ausgleich in der Verstärkung von Demut und Ehrfurcht gegenüber den Erscheinungen und Ereignissen des täglichen Lebens.
· Meditation bewirkt eine Verstärkung des inneren Lebens – sie findet ihren Ausgleich in dem aktiven Miterleben der Naturprozesse und des Jahreslaufes.
Zwei Kriterien
Zusammenfassend möchte ich zwei Kriterien beschreiben, die mir wesentlich sind für die Qualifizierung des in diesem Aufsatz skizzierten Meditationsansatzes:
· Er muss als individueller und freier Akt immer wieder neu realisiert werden, jenseits von Vorgaben, Angaben und gemachten Erfahrungen. Meditative Praxis erfordert Mut, Schritte in zuvor unbekannte, unbetretene Gebiete zu wagen; als allgemeiner Weg von Rudolf Steiner entwickelt, ist die individuelle Praxis auch verbunden mit Risiko und Ungewissheit.
· Er ist bezogen und eingebettet in ein übergeordnetes Gleichgewicht, welches das Streben nach höherer Erkenntnis auf die Gestaltungsaufgaben der eigenen Lebenspraxis bezieht. Eine Frucht meditativer Praxis zeigt sich in der liebevollen Hinwendung zu den Erscheinungen und Begegnungen des alltäglichen Lebens. Rudolf Steiner beschreibt dieses übergeordnete Gleichgewicht als eine Gesinnung. Diese Gesinnung beruht auf dem Willen, in zeitgemäßer Weise «durch menschliche Seelenvertiefung den Weg zum Anschauen des Geistes und zum Leben aus dem Geiste zu finden».