Ein transdisziplinäres Kolloquium bringt das Feld von Nothilfearbeit, Notfall- und Traumapädagogik am Goetheanum zusammen.
Es ist Freitag, der 13. Es ist Juni. Es ist schwül-heiß. Ich trete verschwitzt unter die 27 Menschen, die sich an diesem Nachmittag für das Fachkolloquium ‹Lernen in schwierigen Zeiten› aus allen Himmelsrichtungen im Nordsaal des Goetheanum einfinden. Am Morgen erst trafen Nachrichten aus Teheran und Tel Aviv ein: Israel hat aus der Luft einen Großangriff auf Iran begonnen; meine Freundinnen, Familie, meine Bekannten sitzen in Folge auf Kohlen oder in Luftschutzräumen, als die Gegenangriffe folgen. Ich sitze hier, in Sicherheit, wo das größte Ereignis, das ich im Luftraum erblicke, der vertraute kreisende Milan über den Baumwipfeln ist. Wie schon oft, wenn ich das ‹Elend der Welt› aus dieser glücklichen Distanz betrachte, spüre ich Ohnmacht und Angst, die mit sicherem Griff einen Knoten in mein Zwerchfell flechten. Wenn ich in die Runde schaue, sehe ich neben einigen Bekannten aus dem Goetheanum eine kunterbunte Truppe. Überwiegend Frauen sind es, unterschiedlichen Alters, mit ganz unterschiedlichen Stilen, aus diversen Ländern, die sich miteinander unterhalten. Und ich frage mich, wie diese Anwesenden wohl zu ihrer Arbeit gekommen sind. Wie sind aus ihnen die Managerinnen, Pädagoginnen, Therapeutinnen, Friedensarbeiterinnen geworden, die an ihren eigenen Lebensorten oder in Krisen- und Katastrophengebieten Kinder und Erwachsene unterstützen? Haben sie auch manchmal dieses Knotengefühl in sich oder gehen sie mit einem anderen Blick auf die Welt zu? Oder gehen sie, gerade weil sie verknotet sind, besonders heran an das Geschehen?
Das Fachkolloquium ‹Lernen in schwierigen Zeiten› ist ein transdisziplinäres Forum und wurde genau so organisiert. Eingeladen haben vier Sektionen aus dem Goetheanum: die Pädagogische, die Medizinische, die Allgemeine Anthroposophische und die Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung. In der Eröffnung begrüßt Constanza Kaliks von der Goetheanum-Leitung die Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Ansätze und Organisationen und erinnert an Transdisziplinarität und Zusammenarbeit. Seit sich in den letzten zwei Dekaden dieses anthroposophische Arbeitsfeld gebildet hat, gab es viele Namen mit jeweils unterschiedlichem Fokus: u. a. Friedenspädagogik, Notfallpädagogik, künstlerisch-pädagogisch-therapeutische Nothilfe, Traumapädagogik, ‹Essence of Learning›. In diesem kurzen Zeitraum wurden so viele intensive Erfahrungen gemacht, dass ein differenziertes Spektrum mit Experten und Expertinnen entstanden ist. An den zwei Kolloquium-Tagen steht ein übergreifendes Thema, das ‹Lernen› selbst, im Zentrum des Austauschs: Was bedeutet es für Menschen, zu lernen, und wie hilft Lernen Kindern in schwierigen Lagen? Eine Antwort darauf nimmt ihren Anfang schon in der Begrüßung von Constanza Kaliks: «Lernen ist ein Ausdruck der Inkarnation.» Was geschieht also mit uns Menschen, wenn das Lernen geschwächt, unterbrochen oder verunmöglicht wird?
Resilienz verstehen
Beatrice Rutishauser Ramm war einst Waldorflehrerin, als sie während eines Sabbatjahres einen Anruf aus dem Kosovo erhielt. Damals wurde sie gebeten, nach dem Ende des Krieges zu helfen, einen Kindergarten mit aufzubauen. Auf den ersten Einsatz folgten weitere und es wurden immer mehr Kindergärten. Ihr sei schnell klar geworden, dass in einer chaotischen, ressourcenarmen Situation wie jener im Kosovo Waldorfpädagogik allein nicht ausreichend sei. 2004 kündigte sie ihren Job als Lehrerin, machte einen Master in Global Education und widmete sich der Entwicklung von Mindeststandards für Lernen und Bildung (‹Essence of Learning›). Mit ihrer Forschung ist sie zur Inspiration neuer Initiativen geworden; einige davon sind auch ins Goetheanum gekommen. Sie ist seit fast 20 Jahren als Beraterin großer Organisationen tätig, die in Krisen- oder Katastropheneinsätzen Kindern Lernräume schaffen. Dazu gehört vor allem die Fortbildung der Lehrkräfte, die Werkzeuge brauchen, um Kindern zu helfen, die Lernfähigkeit nach Schocks wiederzuerlangen. Sie sagt: «Waldorfpädagogik ist für eine stabile Normalität gemacht. Das ist das exakte Gegenteil der Minimalanforderungen.» Ihr Kernanliegen ist Genauigkeit bei der Einschätzung von Situationen und der Wirksamkeit der Mittel. Eine akute oder eine traumatisierende Situation, wie sie sie selbst 2005 bei einem schweren Erdbeben in Pakistan erlebt habe, sei etwas ganz anderes als eine chronische Krise – für beide Situationen brauche es unterschiedliche Ansätze. Schulen seien gerade dann enorm zentrale Orte für Kinder, denn sie bedeuteten Lernen und damit Zukunft. Während ihrer Einsätze wurde immer klarer, dass die wenigsten Betroffenen – vor allem die Kinder nicht – von Trauma hören wollten; sie wollten sich nicht als Opfer fühlen. Wenn man ihnen jedoch helfe, wieder ins Lernen zurückzufinden, könnten die Kinder ihre vorhandene, ungeheuer große Resilienzkraft entfalten. Als sie im Kosovo gewesen sei, sei sie zu einer Schule gekommen, die neben einem neuen Friedhof lag. Zuerst schockierte es sie, doch dann hätten ihr die Kinder gesagt: «Das ist gerade gut, Beatrice. So sind wir jeden Tag bei unseren Vätern.» Für Menschen aus der ‹stabilen Normalität› mag das zuerst unvorstellbar scheinen, aber während des Impulsreferats von Beatrice wird mir klar, dass Lernen an sich ein unschätzbarer Wert und Marker für menschliche Gesundheit ist.

Barbara Schiller, Vorstand und Gründungsmitglied von Start international, spricht zwar erst am darauffolgenden Morgen im Kolloquium, schließt aber an Beatrice Rutishauser Ramm an. Beatrice’ erstes Konzept für Waldorf-inspirierte Notfallpädagogik von 2006 habe bereits die Grundlinien von Vielem enthalten, was heute den Bereich ausmache. In jenem Konzept steckte die Idee von einem ‹sozialen Samen› für Kinder in großer Not. Dieser Gedanke habe für Start international angesichts von Polykrise, Polarisierung und kollektiver Ohnmacht eine zentrale Bedeutung bekommen. Es gehe nicht mehr nur um die Frage des ‹Lernens von Kindern in schwierigen Zeiten›, sondern um die soziale Frage des gemeinsamen ‹Lebens in herausfordernden Zeiten›. Das fordere die Fähigkeit, sich gemeinsam in einem instabilen Umfeld zu bewegen. Im Zentrum stehe die Würde des Menschen. Ihr Arbeitsfeld versteht Barbara als eine Schulung darin, die für immer mehr Menschen relevant ist. Der Verein macht aus diesem Grund so viel Wissen und pädagogisch-therapeutische Werkzeuge wie möglich frei zugänglich.
Für mich sticht aus Barbaras Darstellung der Aspekt der ‹Kreativität› besonders hervor. Ein menschenwürdiges Leben geht schließlich über die eigene Notdurft hinaus – Kreativität bedeutet Fülle und Entwicklungsmöglichkeiten zu spüren. Trotz der Differenzierung zwischen ‹Leben› und ‹Lernen› knüpfen die zwei Aspekte aus meiner Sicht aneinander an: Lernen ist ein aktiver, schöpferischer, kreativer Vorgang, für den ich einerseits Kapazitäten haben muss und der selbst die größte Ressource für ein resilientes Leben ist.
Der Leiter der Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung, Jan Göschel, greift die Frage nach Resilienz ebenfalls auf. Unter dem Aspekt der sozialen Transformation fragt er nach Bedingungen für Resilienz und wie wir eine gemeinschaftliche Zukunft gestalten. In anderen Lebensprozessen zeige sich, dass Resilienz an Diversität und Verbundenheit auf vielen Ebenen geknüpft sei und dass sich resiliente Systeme immer auch durch Überfülle, also Mehr-als-Nötig von Kräften, auszeichneten. Ohne in Sozialromantik zu verfallen und Katastrophen oder chronische Krisen weichzeichnen zu wollen, sei es ein Zeichen resilienter menschlicher Gemeinschaften, dass sie Herausforderungen nicht nur überstehen, sondern sogar an ihnen wachsen würden.
Zeigt sich in der Not manchmal eine Fähigkeit, Mensch zu sein, die wir sonst oft verschlafen? Sind die ‹sozialen Samen› der Zukunft sogar ein Teil der Kräfte, die das gewordene System zum Einsturz bringen? So ein Gedanke führt schnell in den Widerspruch, weil er anmaßend, relativierend oder unempathisch gefunden werden kann. Aber ich muss an die vielen Berichte, die es aus katastrophalen Zeiten gibt, denken, in denen sich stets Zeugnisse für ein leidenschaftliches menschliches Engagement finden. Vielleicht sind das nur Einzelne, die unter Druck zu mehr Größe erwachen, aber mir scheint, sie sind definitiv Samen für eine zukünftige Gemeinschaftlichkeit. Wer kennt nicht auch die erhöhte Wachheit oder Empfindsamkeit, die sich gerade nach einem Schicksalsschlag einstellt? Doch es scheint eine Frage von Raum zu sein, den wir entweder innerlich zur Verfügung haben, um wach zu bleiben, oder den wir nicht haben, in den wir uns im Schmerz nicht erweitern können und ohne den wir dann zumachen, um uns zu schützen.

Trauma begegnen
Vom Parzival-Zentrum Karlsruhe ist die Vorständin und Schulleiterin Melanie Reveriego angereist. Sie berichtet von der Arbeit in ihrer Schule, in der besonderes Augenmerk auch auf Kinder und Jugendliche gelegt wird, die mit wenig ‹Raum› leben. Ihr Beispiel aus der Praxis erzählt von einem Heranwachsenden, der tiefer und tiefer in einem traumatischen Strudel versinkt und den Weg nicht findet. Er habe später gegenüber einem Richter angegeben, dass der einzige Ort, an dem Menschen an ihn geglaubt haben, die Schule gewesen sei. Es ist eine Geschichte, die beim Zuhören wehtut, aber sie holt auch eine Wirklichkeit hinein, die zeigt, dass es hier nicht um Wundergeschichten geht. In manchen Fällen verlieren sich Menschen völlig und ein gutes Umfeld unter vielen zerstörerischen reicht nicht aus. Traumatisierungen sind eine gesellschaftliche Realität, auch wenn sie Einzelne zu betreffen scheinen. Melanie beschreibt, was Trauma auf den Ebenen der vier Wesensglieder nach Rudolf Steiner bewirkt: Im physischen Leib ist es die Wunde. Auf Ebene der Lebenskräfte sind es zum Beispiel Rhythmus- und Gedächtnisstörungen, im Astralleib zum Beispiel Beziehungs- und Resonanzstörungen, mangelnde Impulskontrolle oder Depressionen. Und im Ich-Leib fehlt es an der Kraft, die Kräfte der anderen Leiber und die Seelenkräfte (Denken, Fühlen, Wollen) zu ordnen, was zu einem Mangel an Selbstwirksamkeit führt. Auf diesen Ebenen müsse man ansetzen. So legt das Parzival-Zentrum Wert auf u. a. Schulhausgestaltung als sicherer Ort, Rhythmus im Schulalltag, verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen und die innere Grundhaltung der Lehrpersonen. Dieses Verständnis mache Waldorfpädagogik für sie zu einem idealen Ansatz für Kinder mit besonderen Lebensherausforderungen.
Auch Philipp Reubke, Co-Leiter der Pädagogischen Sektion, stellt die These auf, dass die innere Haltung der erwachsenen Bezugspersonen eine seelische Umgebung für die Kinder erzeuge, welche der stärkste Einfluss auf sie sei. Entgegengebracht wurde ihm das in einem Gespräch mit einer ukrainischen Kollegin, die berichtete, dass es nicht allein ihr äußeres Tun für die Kinder sei, das sich auswirke, sondern besonders ihre eigenen Gefühle. So habe sie beobachtet, dass ihre Wut über den Krieg in ihrem pädagogischen Alltag eine sehr negative Wirkung hatte. Wer Kindern in schwierigen Zeiten wirklich helfen will, muss also vor allem bei sich selbst ansetzen. Es braucht viel, um sich von Hysterie abzugrenzen und sich im Schock selbst zu halten, sodass man sogar noch Bedürftigeren ein Halt sein kann.

Die Co-Leiterin der Medizinischen Sektion, Karin Michael, bringt Wärme ins Gespräch ein: «Wärme ist das Element, das alle anderen Elemente zu durchdringen, verwandeln und verflüssigen vermag. Wärme löst Verhärtungen, Erstarrungen. Wärme zieht nach oben, wirkt der Schwerkraft entgegen.» Das lässt sich auf die unterschiedlichen Ebenen des menschlichen Wesens anwenden und es ist in unterschiedlichen Entwicklungsphasen auch differenziert pädagogisch umsetzbar. Am wesentlichsten ist aber, dass Wärme inkarniert – das heißt, sie macht möglich, dass Leib, Seele, Geist als integrierte Einheit im Irdischen anwesend sind. Trauma entsteht, wenn diese Integration verschwindet. Für die Kinder, die sich erst zu entwickeln beginnen, können Traumata das Inkarnieren verhindern. Aber alle Entwicklung sei letztlich Heilung; jeder Mensch sei heilungsbedürftig, entwickle sich und heile dadurch ein Stück weit. Hier spannt sich der Bogen auch zwischen den Disziplinen. ‹Heilung› durch Wärme ist ein Motiv, das sowohl die Anthroposophische Medizin als auch die Waldorfpädagogik kennt und das Entwicklung in die Zukunft ermöglichen will.
Wie erschütternd das Leben plötzlich sein kann, zeigt sich, als Ida Oberman und Rosa Balderrama von der Initiative Regeneration Education sprechen. Die beiden kommen aus Kalifornien (USA). Sie haben ein Projekt gegründet, das sich um zwei Schulen mit einem Fokus kümmert. Ida berichtet, dass es Rudolf Steiner war, der das antike Motiv ‹Erziehung ist Heilung› wieder in die moderne Pädagogik brachte. Es sei darum ein besonderes Moment, dass sich dieser Kreis jetzt im Goetheanum versammelte, um ein Zukunftsnetzwerk zu weben. In Kalifornien haben sie sowohl die Pasadena Waldorf School als auch die Community School for Creative Education in Oakland gegründet. Letztere ist ein Ort der Unterstützung zum Lernen für Kinder in sehr schwierigen Lebensumständen. Die Waldorfschule in Pasadena ist im Januar 2025 in den verheerenden Waldbränden vollständig niedergebrannt. Rosa, die als Notfallpädagogin tätig war nach dem Hurrikan in Nashville (USA), erhielt nun selbst Notfallhilfe. Sie hat neben ihrem Arbeitsort auch ihr Heim im Feuer verloren. Sie ist sichtlich berührt, als sie davon erzählt. Ihre Kollegin Stepha Weinstein sitzt auch in der Runde; auch ihr Haus ist abgebrannt. Rosa erzählt, gerade ihre Arbeit als Waldorfkindergärtnerin habe ihr geholfen, da diese alle wichtigen Elemente beinhalte: Bewegung, Rhythmus, Geschichten, Musik. In unserer Zeit brauche es mehr Training für eine traumainformierte Pädagogik. Für die betroffenen Erwachsenen sei es aber auch immens wichtig, Gemeinschaftlichkeit zu erleben, zusammen zu trauern und sich auch angenommen zu fühlen. Zum ‹Fokus› ihrer zwei unterschiedlichen Schulen gehören deshalb die Prinzipien: «Fokus auf das ganze Kind. Fokus auf die ganze Schule. Fokus auf die ganze Gemeinschaft.»
Sich angenommen fühlen entsteht aus der Beziehung, die wir untereinander ermöglichen. Es ist ein Teil unseres fragilen Menschseins, dass wir Beziehungswesen sind, die einander das Leben möglich, aber auch unmöglich machen können. «Den anderen Menschen zu sehen, ist das eigentlich Heilende. Nicht die Methoden», sagt mir Stefanie Allon in der Pause. Sie ist aus Israel angereist, wo sie seit Jahrzehnten als Waldorfkindergärtnerin und Ausbilderin tätig ist und sich unermüdlich für Frieden engagiert. Was für die Heilung gilt, gilt auch für die Krise. Auch davon sind wir alle Teil. Niemand steht außerhalb der Welt; sondern wir gehören zu den Schwierigkeiten dazu. Stefanie eröffnet das der Runde mit einem interessanten Bild: Der starke Wanja, der an einen Sumpf kommt, in dem die Hexe Babajaga lebt. Sie versucht ihn in den Sumpf hineinzuziehen, worauf ein Tauziehen entsteht. Wir alle seien in diesem Tauziehen mit den Kräften verbunden, die im Sumpf bleiben wollen. Und es braucht viel, vielleicht auch von diesem inneren Ringen mit Babajaga, um aufrecht und mutig wie Wanja daraus hervorzugehen. Mir leuchtet in Stefanies Worten auf, dass es nicht um die Idee von Innen und Außen gehen kann, sondern dass Beziehung etwas viel Wesenhafteres ist. Ich bin das Ganze und das Ganze bin ich. In der Tiefe geschaut ist das ‹Elend der Welt› mein Elend, sind die Abgründe, an die wir stoßen, Teil von uns selbst. Vielleicht ist mein gefühlter ‹Knoten› dann nur der Anfang meiner Nabelschnur zur Welt.
Sich gemeinsam finden
In der abschließenden Gesprächsrunde bringt Fiona Bay, Leiterin der Notfallpädagogik für die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, eine spannende Aufforderung ein: Jeder Mensch, der in der Notfallpädagogik oder in hoch traumatischen Situationen arbeiten wolle, müsse sich fragen: Warum? Was motiviert jemanden, sich da direkt hineinzubegeben? Sie spricht darüber, wie relevant es sei, wirklich in der Zeit zu leben, wirklich teilzunehmen an der Welt. Ein Anruf der Zeitgenossenschaft. Aber mir scheint, dass sie, ohne es dann vertiefen zu können, auch darauf hinauswill, dass Helfende ein Teil des Geschehens sind, dass sie sich nicht nur selbst gut kennen müssen, sondern auch ihr Motiv zum Helfen ergründen sollten. Braucht auch das offensichtliche Bedürfnis, sich zu engagieren, noch eine Läuterung? Peter Selg, der die Allgemeine Anthroposophische Sektion co-leitet und einige Stunden vor Fiona gesprochen hat, wirft ein Licht auf dieses innere Licht, indem er die spirituelle Schulung in den Blick nimmt. Eine esoterische Schulung könne nur dann gedeihen, wenn man sich selbst verändere. Wer nur die Ideen von einem geistigen Inhalt habe, aber sich selbst nicht verändere, könne kein Licht bringen. Man müsse das eigene Denken sehen, das eigene Fühlen spüren und das eigene Wollen erkennen können, damit sie nicht Schatten werfen. Wem dies gelinge, der tue, was zu tun sei. Die innere Schulung reinige das Denken und entfache ein neues Feuer, einen anderen Mut, um die Welt zu gestalten. So könnten wir letztlich lernen, ‹über dem Abgrund› zu stehen.

Am Ende dieses Treffens ergibt sich aus dem Puzzle von Beiträgen für mich ein lebendiges Bild, das – wenn wir es ernst nehmen – uns allen eine Zukunft schenkt. Durch die Notfälle und die chronischen Krisen erübt sich diese kleine Szene ein Bewusstsein vom Zusammenhang der Welt, schaut auf sich selbst und auf das, was es in jedem Moment braucht. Tiefgreifende Erfahrungen haben alle in dieser Gruppe über die eigene Krisenhaftigkeit belehrt und in der Kunst bestärkt, sich immer wieder zu verbinden. Damit könnten sie auch über die Leuchttürme wachen, nach denen jeder Erwachsene in Zukunft navigieren wird. Wenn uns die Komplexität der Welt immer mehr zu Bewusstsein kommt, braucht es auch immer mehr Raum, um dieses komplizierte ‹Innenerleben› zu halten, und immer mehr ‹Raumhaltende›, die reich an Erfahrung sind und Wege dahin kennen.
Jorge Schaffer ist Vorstand von Notfallpädagogik ohne Grenzen international aus Karlsruhe. Er kommt direkt von seinem Einsatz nach dem Amoklauf an einer Grazer Schule zum Kolloquium. Er beschreibt die Anwesenden als Stamm eines gemeinsamen Baumes. Alles, was sie transdisziplinär aus Pädagogik, Therapie, Medizin, Kunst usw. wüssten, seien ihre Wurzeln. Die ‹Nahrung› aus diesem Geflecht gehe durch sie – die Aktiven – hindurch und erreiche die Krone, um unterschiedliche Felder zu bereichern und weiterzuentwickeln, bis hin zu den äußersten Spitzen, wo Politik und die Gesetzgeber die Früchte integrieren würden. Der Baum sei ein Ökosystem, das sich dynamisch verändere und ständig interagiere. Die Aktiven seien nicht abgeschlossen voneinander, sondern ein Netzwerk. Aus diesem Bewusstsein heraus kann ich mir vorstellen, dass die Versammelten nicht nur mehr zusammenarbeiten, sondern dass sie ein resilienter ‹Lebensprozess› werden könnten. Menschen, die Resilienz, Diversität und Überfülle verstehen und teilen. Wie der Baum es versteht, der in sich nicht eine Sache, sondern vieles ist und tut. Der, je tiefer die Wurzeln und je dicker der Stamm, umso mehr segensreichen Lebensraum und Schatten spendet.
Links
- Inter-agency Network for Education in Emergencies > Stichwort ‹Essence of Learning›
- stART
- Parzival-Zentrum
- reGeneration Education
- Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners (Abo für einen Newsletter zum Thema möglich)
- Notfallpädagogik ohne Grenzen e.V.
Fortbildungen in dem Bereich können bei Start International oder bei Notfallpädagogik ohne Grenzen angefragt werden. Die Abteilung Notfallpädagogik der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners konzentriert ihre Fortbildungen auf die betroffenen Menschen vor Ort.
Buchtipps
- Trümmer und Traumata. Anthroposophische Grundlagen notfallpädagogischer Einsätze. Bernd Ruf, Verlag des Ita Wegman Instituts, 2. Aufl. 2012.
- Kinder stärken – Zukunft gestalten. Pädagogisch-therapeutisches Praxisbuch zu Trauma, Widerstandskraft, Kunst und sozialer Beweglichkeit. Hrsg. von Start international, Verlag Freies Geistesleben, 3. Aufl. 2023.
- Erscheint in Kürze: Notfall- und Traumapädagogik. Ein Handbuch mit praktischen Beispielen. Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners; Abteilung Notfallpädagogik.
Goetheanum tv
Eine Gesprächsrunde zum Thema erschien am 25. Juli auf goetheanum.tv: Wie kann Kindern in Krisen- und Kriegssituationen geholfen werden?
Titelbild Flüchtlings-Erstaufnahmestelle für hauptsächlich ukrainische Geflüchtete in Heidelsheim bei Bruchsal. Foto: Notfallpädagogik Ohne Grenzen








