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Lass mich ein, ich bin deine wahre Menschenwesenheit

Am 24. März stimmt die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft darüber ab, ob Paul Mackay und Bodo von Plato ihr Vorstandsamt am Goetheanum um sieben weitere Jahre verlängern werden. Sie selbst haben diesen Zäsurmoment in die Satzung eingebracht und damit das Amt auf Lebenszeit verabschiedet. Wir baten sie zu einem Gespräch und fragen: Wie geht es ihnen selbst, wie sehen sie die Entwicklung der Anthroposophie, was ist ihnen gelungen und in welche Zukunft schauen sie?


Louis Defèche, Jonas Lismont, Paul Mackay, Philipp Tok und Bodo von Plato.

Louis Defèche, Jonas Lismont, Paul Mackay, Philipp Tok und Bodo von Plato.

Wie habt ihr euch der Zäsur angenähert? Wie ergeht es euch mit diesem Bestätigungsvorgang?

Paul Mackay Die Zäsur ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, um innezuhalten und sich zu fragen: Wo stehe ich? Macht meine Arbeit Sinn? Das fragt man sich selbst, zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen, und man fragt es sich in Bezug auf die Mitgliedschaft. Da der Vorstand initiativ für die Weltgesellschaft handelt, macht eine Zäsur Sinn. Es handelt sich nicht nur um eine Selbstbesinnung, sondern auch um eine Weltbesinnung.

Bodo von Plato Wir konzipierten die Zäsur als eine Art Evaluation unserer Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen im Vorstand, in der Goetheanumleitung und in der Konferenz der Generalsekretäre: Wie seht und beurteilt ihr unser Wirken? Sie sehen unsere Einseitigkeiten deutlicher, unsere Grenzen und auch vieles, was gelungen oder nicht so gelungen ist, und sie haben unterschiedliche Einschätzungen dazu. Wir haben also zusammen beraten, wie wir die Zukunft sehen, wohin sich die anthroposophische Arbeit, die Anthroposophische Gesellschaft und die Hochschule entwickeln und welche Kompetenzen wir dafür jetzt und in den kommenden Jahren brauchen. Aus diesen Beratungen kam das Votum, dass wir weiter zusammenarbeiten sollten, und Paul Mackay und ich mussten sagen, ob wir bereit dazu wären oder nicht.

Was haben eure Kollegen aus aller Welt zu Euch gesagt?

Mackay Sie haben unseren Beitrag im Kontext der Weltgesellschaft und -bewegung hinterfragt, besprochen und sind zu dem Ergebnis gekommen, uns zu bitten, für eine weitere Amtszeit bereit zu sein.

Plato Sie sagten vieles, sachlich und menschlich berührend. Was mich aber vor allem motivierte, für die kommenden Jahre nochmals bereit zu sein – wohl wissend, dass manche Mitglieder mir kritisch gegenüberstehen –, war die Zuerkennung einer anthroposophischen Kompetenz, sie würde gerade jetzt in den tiefgreifenden Veränderungsprozessen von Hochschule und Gesellschaft gebraucht und sie hat ihren realen Boden nicht zuletzt in den vielen menschlichen und anthroposophischen Verbindungen über die Welt hin. Und die Zusprache der Goetheanumleitung, im Rahmen der Hochschule mit Joan Sleigh und Paul Mackay besondere Entwicklungs- und Leitungsaufgaben für die Allgemeine Anthroposophische Sektion zu übernehmen.

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Ihr arbeitet seit 17 Jahren zusammen. Wie seht ihr einander?

Plato Die Hauptqualität, die ich in der Arbeit von Paul Mackay sehe, ist eine empfindliche Aufmerksamkeit für alles, was mit Freiheit zusammenhängt. Jeder hat seine Maßstäbe, seine Werte, nach denen er seine Handlungen orientiert – und bei Paul ist es meines Erachtens immer die Freiheitlichkeit. Wann erlauben eine Frage, eine Entscheidung oder ihre möglichen Folgen ein Mehr an Freiheit, ihre Vertiefung oder Differenzierung? Danach orientiert er sich, ganz unabhängig davon, ob es um finanztechnische Fragen geht oder um die Art, wie in der Hochschule mit sensiblen esoterischen Inhalten umgegangen wird. – Wenn jemand einen so starken Fokus hat, kommt auch das Gegenbild zur Erscheinung. Manche Menschen empfinden gerade das Gegenteil seines Anliegens: dass er das letzte Wort haben will oder Macht. Ich verstehe, dass sich dieser Eindruck einstellen kann. Doch in konkreten Fällen, wo ich es im Detail prüfen wollte, habe ich gesehen: Das Gegenteil ist der Fall. – Dann freue ich mich in der Tätigkeit und ganzen Persönlichkeit von Paul Mackay an dem Weltoffenen, der Weltweite. Was er tut, hat immer diesen weiteren Horizont und der ist geistig, menschlich und sachlich zu spüren. Anthroposophie ist ja – Rudolf Steiner betont es zunehmend in seinem Leben – eine kosmopolitische Angelegenheit. Diesen Aspekt muss man mit Paul nicht diskutieren, das ist immer als Voraussetzung da.

Mackay Von Anfang an sah ich zwei Elemente, die zu Bodo von Platos Wesen gehören. Das eine würde ich gerne ‹ästhetischen Sinn› nennen. Es handelt sich nicht um eine Kunstauffassung, die er reflektiert, sondern darum, dass er in jeder Lebenssituation dieses ästhetische Moment im Sinn hat: die Wechselbeziehung von Geist und Stoff, von Bewusstsein und Leben, von Reflexion und Tat. Dieses Moment drängt sich nicht auf, doch wenn es erfasst wird, bekommt die Welt überhaupt erst eine Richtung. In der Begegnung mit diesem ästhetischen Moment kann sich ein Stück Welt aussprechen. Das setzt eine Innenaktivität voraus – es ist nie von sich aus gegeben. Mit Bodo gibt es immer etwas zu entdecken. Da sind immer Entstehungsmomente und Freude.

Aus diesem ästhetischen Sinn lebt in ihm ein Anliegen zur Formgebung, zur Gestaltung: Bei ihm muss alles in Punkte geordnet sein, nicht Wischiwaschi, es soll Gestalt bekommen, aussagekräftig werden. Das kann manchmal ein bisschen zu viel sein, doch man kann es gut wieder in Bewegung bringen. – Das zweite Element ist, aus seiner starken Beziehung zur anthroposophischen Geisteswissenschaft, das unglaubliche Bedürfnis, dass sie in dieser Michaelszeit in die Welt kommt und dass sie der Welt gehört: Anthroposophie ist nicht unser Eigentum, sondern sie gehört der Welt, und dadurch wird Anthroposophie erst zur Anthroposophie. Für diese Weltbezogenheit muss man sich im Zeitgeschichtlichen gut auskennen und das ist ja sein Hintergrund. Welche Denker oder Dichter gibt es heute? Welche Auffassungen leben? Und man muss sich ein gutes Stück hineinbegeben. Das kann manchmal auch sehr unkonventionelle Züge annehmen. Das braucht es überhaupt, dass es Unkonventionelles gibt, dadurch entsteht erst die Möglichkeit der Zeitrelevanz der Anthroposophie. Dieses Element liegt in Bodos Schicksal. Ich denke, er sieht da eine wachsende Aufgabe. Man kann Anthroposophie nicht verstehen, wenn man sie nicht in Beziehung setzt zu ihrer Zeitrelevanz, dadurch wird sie gewissermaßen überhaupt erst wirksam. Anthroposophie ist für die Lebenspraxis geschaffen.

Anthroposophie klopft an deinem Herzen

Seit Rudolf Steiners Wirken hat sich die Welt verändert. Denkt ihr, dass die Anthroposophie auch eine Verwandlung erfährt? Einigen scheint es, die Anthroposophie wird verdünnt, weil wir modern, weil wir in der Welt sein wollen. Wie versteht ihr die Entwicklung der Anthroposophie?

Paul Mackay

Paul Mackay

Mackay Ich würde zunächst unterscheiden wollen zwischen Wesen und Erscheinung. Ich habe den Eindruck, dass Anthroposophie als Wesen – natürlich in Entwicklung – etwas ist, das unglaublich intim mit dem Menschen als Wesen zusammenhängt. Sie ist ein geistiges Wesen, von dem Steiner gesagt hat: «Es klopft an deinem Herzen und sagt: Lass mich ein, ich bin du selbst; ich bin deine wahre Menschenwesenheit!» Dieser Wesensaspekt hat eine Identität, eine Unverwechselbarkeit. Und dann erscheint dieses Wesen ganz verschieden, je nach Situation. Das ist eine große Herausforderung: Kann man Erscheinung und Wesen differenzieren? Erscheinung ist immer Bild, Bild ist Abdeckung, aber Bild ist auch Äußerung eines Wesens.

Bedeutet diese Auffassung nicht eine Trennung von Rudolf Steiner und der Anthroposophie? Anders: Heißt das, nicht nur Rudolf Steiner bietet sie, sondern überall ist Anthroposophie zu finden?

Mackay Wir haben es Rudolf Steiner zu verdanken, dass er dieses Wesen zur Welt gebracht hat, darauf aufmerksam gemacht hat, doch das Wesen bittet um Individualisierung. Das Wesen soll in jedem Menschen zu einem eigenen Ausdruck kommen können. Rudolf Steiner hat es bereits in der ‹Philosophie der Freiheit› beschrieben: Wir haben alle unsere eigene Intuition, aber aus einer gemeinsamen geistigen Welt. Ich glaube, unsere Herausforderung ist es, diesen Spagat zu leben.

“Bleiben die Intelligenzkräfte hängen im intellektuellen Diskurs oder ergreifen sie den ganzen Menschen?”

— Paul Mackay

Plato Es geht für mich weder um Abgrenzung noch um Anbiederung im Hinblick auf die Zeitverhältnisse. In dem Moment, wo ich mich mit einem bestimmten Wesen und seinen bisherigen Erscheinungsformen dem Zeitgeist anbiedern möchte, wird es unwürdig. Und wenn ich mich von ihm abgrenzen will, ist es nicht mehr anmutig. Durch Abgrenzung und Anbiederung verliert Anthroposophie Würde und Anmut. Ich denke, die Anthroposophie gewinnt aber Würde und Anmut in dem Moment, wo das, was Paul beschrieben hat, geschieht: dass wir individuell als Mensch, als Gesellschaft, als Hochschule versuchen, eine aktuell gelebte Beziehung zwischen dem Wesen und der Erscheinung zu realisieren. Ja, in jeder Tat oder Begegnung, in jedem Gespräch, auch jetzt: Ein erneuter Versuch durch eure Initiative zu diesem Gespräch: Werden wir etwas von Wesen und Erscheinung der Anthroposophie in einen gültigen Zusammenhang bringen? Und können die Leserinnen und Leser etwas davon erkennen? Diesem Zusammenhang gegenüber wird jeder unterschiedlich urteilen. – Mancher wird sagen: Nein, nichts zu sehen; andere werden etwas entdecken; dann wird darüber gesprochen; eine Erkenntnis, die über den Einzelnen hinausgeht, bildet sich. Für dieses lebendige Erkennen hoffe ich in Zukunft auf Verstärkung, also auf die Entstehung eines offenen, nicht zu eng begrenzten Gesprächsraumes, eines die Unterschiede liebenden Diskursmilieus.

Mackay Ich wünsche mir, dass dieses Diskursmilieu innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft seinen Raum findet. Dafür ist diese Gesellschaft da: dass man von einander lernt. Das will praktiziert, möchte versucht werden. Es ist eine Frage der Haltung und Bereitschaft.

Rudolf Steiner sprach groß – etwa über die Hierarchie der Engel, über Reinkarnation oder die Entwicklung des Kosmos – und so haben es die Nachfolgenden getan, sie zitierten ihn. Jetzt sind wir in einer Zeit, wo diese großen Zusammenhänge viel weniger erzählt werden. Wie seht ihr das? Worin liegt die große Qualität der Anthroposophie?

Plato Eine ganz einmalige Qualität der Anthroposophie als einer spirituellen Bewegung sehe ich in einer Doppelheit: in ihrer Reflexionsoffenheit – sie ist dem Denken verpflichtet; in ihrer Weltzugewandtheit – sie ist beobachtungs- und sinnesorientiert. Das ist ungewöhnlich für spirituelle Bewegungen, denen Denken und Sinne oft eher fremd, wenn nicht feindlich erscheinen.

Mackay Ich habe den Eindruck, dass diese beiden Aspekte integraler Bestandteil einer michaelischen Intelligenz sind, die sich heute entwickeln möchte. Ich denke, wir stehen mitten in diesem Kampf: Wie gehen wir um mit den Intelligenzkräften? Bleiben sie hängen im intellektuellen Diskurs oder ergreifen sie den ganzen Menschen? Und wenn sie das tun, dann ist die Sinneswelt einbezogen. Wenn nicht, dann bleibt die geistige Welt ideell, getrennt von der Sinneswelt. Doch sie ist in der Sinneswelt. Es geht heute darum: Bin ich bei der Lebenswirklichkeit oder greife ich daneben? In meinem Fach, den Wirtschaftswissenschaften, schaut man nicht so sehr, ob das soziologisch alles stimmt, man fragt: Ist es wirksam? Und wenn es wirksam ist, dann stellt sich die Frage: Wie machst du das eigentlich? – Ich glaube, das ist das Feld, das wir zu beackern haben. Gibt es eine gemeinsame Haltung in dieser Fragestellung, die auch von anderen erkannt wird? Oder betrachten wir unseren Beitrag als so wichtig und einzigartig, dass wir die Welt damit beglücken möchten? Das ist wieder die Frage der Haltung. Wenn dieser Unterschied nicht erkannt wird – hier sage ich etwas Radikales –, dann gehen wir an der Anthroposophie vorbei. Das ist eine tief esoterische Frage. Das ist eine michaelische Esoterik, die wir entwickeln können.

Ja, ich beobachte, dass heute überall eine Frage lebt, ein Suchen nach dieser neuen Esoterik, die sich auf verschiedene Weisen manifestiert.

Bodo von Plato

Bodo von Plato

Plato Ja, man hört die esoterischen Fragen heute vielleicht eher im täglichen Leben, im Klassenzimmer, im Krankenhaus, auf dem Hof und in jedem Beruf; ich höre sie aber weniger existenziell in Form der großen allgemeinen Weltanschauungsfragen: Wie ist das eigentlich mit der Hierarchie der Engel, mit Reinkarnation und der Entwicklung des Kosmos? Da werden sie leicht abstrakt. Das heißt nicht etwa, dass diese Fragen weg sind. Sie sind gerade in einer Phase, wo sie wie in die Lebenspraxis eingetaucht sind – wie sie auch bei Rudolf Steiner im Laufe seiner Biografie immer tiefer in das konkete Leben eintauchten. Das heißt aber nicht, dass die großen Fragen weg sind. Ich kenne niemanden unter meinen Kolleginnen und Kollegen, der oder die nicht mit diesen Fragen verbunden ist. Doch es gibt eine Vorsicht, mit ihnen zu direkt und nominell umzugehen. Ich vermute, dass sich das ändern wird, dass wir aus der Aktualität, der Wirklichkeitsverbundenheit, der individuellen und institutionellen Erfahrung diese Fragen still und gediegen wieder aufgreifen werden. Das wird eine andere Erzählung sein, getränkt aus dieser Erfahrung, die Rudolf Steiner ermöglichte. Seine Erzählung ist nicht weg, aber sie ist tiefer inkarniert. Und ich bin sehr neugierig, wie sich diese großen Fragen aus dem Konkreten neu bilden werden. Ueli Hurter formulierte es gerade anhand der Präparate, also des schlagenden Herzens der biodynamischen Bewegung. Er fragte: «Kann es sein, dass sich heute das Allgemeine» – also die großen Fragen – «am deutlichsten im Spezifischen zeigt?»

Mackay Diese beiden Welten, die Sinneswelt und die Welt der Ideen, brauchen sich gegenseitig. Ideen wollen schauend werden. Wenn man diese großen Ideen der Engel Hierarchien, der Christologie oder Reinkarnation und der kosmischen Evolution lebendig in sich hat, hat man leichter oder zutreffender die Möglichkeit, in der Sinneswelt schauend zu werden. Schauen heißt nicht, ich deute das eine jetzt so oder das andere so, sondern es heißt, dass die Dinge selbst sich ihrem eigenen Wesen nach aussprechen können. Ihre Zusammengehörigkeit in größeren Ordnungen, ihre Verbindungen werden sichtbar und können sich dann auch wirksamer entfalten.

Plato Ja, durch die Individualisierung, denn «das Ich erhält Wesen und Bedeutung durch das, womit es verbunden ist.» So schildert Steiner das Ich in ‹Theosophie›. Ich-Werdung entstünde also immer weniger durch Abgrenzung oder Isolation, und immer mehr durch Verbindung. Und womit werden wir uns in den nächsten zehn Jahren verbinden? Das ist für mich eine entscheidende Frage im Hinblick auf die Gesellschaft, die Hochschule, die Goetheanumleitung, den Vorstand. Es geht um eine Individualisierung, die nicht mehr durch Negation, durch Neinsagen, sondern durch Bejahung entsteht. Das, womit ich mich verbinde, wird zukünftig für die Individualisierung viel interessanter sein als das, wovon ich mich abgrenze. Das gilt vermutlich auch für Institutionen, für die Anthroposophische Gesellschaft, für die Hochschule.

Lass mich ein, ich bin du selbst

Wie seht ihr vor diesem Hintergrund die heutige Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft und ihre Beziehung zur Freien Hochschule für Geisteswissenschaft?

“Es geht um eine Individualisierung, die nicht mehr durch Neinsagen, sondern durch Bejahung entsteht.”

— Bodo von Plato

Plato Die Anthroposophische Gesellschaft ist dafür da, eine vertiefte und inspirierte anthroposophische Arbeit in der Welt zu ermöglichen und zu befördern, ja, sie ist in meinem Verständnis vor allem gemeint als eine weltweite Gemeinschaft von Menschen, die der Wunsch verbindet, dass die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, das Goetheanum, so gut wie möglich arbeiten kann; und die Hochschule möchte einen sich entwickelnden Beitrag zu den großen Fragen und Herausforderungen der heutigen Zeit liefern. Dazu muss es ein großes Netzwerk von Menschen geben, die das wollen, so, dass die Hochschule wirklich frei bleibt. Diese Förderung geschieht geistig durch Interesse, seelisch durch menschliche Verbindungen und materiell durch Finanzierungen. Ich bin dankbar, dass wir eine Gesellschaft haben, die ein so klar fokussiertes Aufgabenbild in ihren Statuten der Weihnachtstagung bekommen hat.

Mackay In den Statuten der Weihnachtstagung für die Gesellschaft kommt ihre Hochschulorientierung klar zum Ausdruck. Wir müssen jedoch aufpassen, dass die Gesellschaft kein Förderverein wird, sondern eine besondere Art von Trägerschaft entwickelt. Ich würde sagen, überall soll das Partnerschaftliche und Gegenseitige gefunden werden. In dieser Trägerschaft ist es wichtig, die Dinge nicht isoliert zu tun, sondern so, dass ich die anderen Beteiligten in meinem Bewusstsein habe. Das ist ein gegenseitiges Sichhalten oder -tragen. Eine Art des Tragens, die es heute braucht. Das ist für mich eine Qualität, eine Kultur, eine Gesellschaftskultur. In unserem Gründungsstatut steht, dass die Ergebnisse der Anthroposophie zu einem auf brüderliche Liebe gebauten sozialen Leben führen. Diese Kultur wird immanent in der Hochschule gebraucht. Diese Kultur müssen wir beginnen zu verstärken. Darin besteht das Übfeld der Gesellschaft. Sie kann zu einer Bewegung werden, mit der man Berge versetzen kann!

Plato Die Weihnachtstagung formuliert eine anspruchsvolle Herausforderung: die größte mögliche Öffentlichkeit mit tiefster, ernstester Esoterik zu verbinden. Die Hochschule stünde – voll entwickelt – mitten in der Öffentlichkeit, engagiert, sichtbar und hilfreich in den Nöten und Problemen, die die heutige Zeit ausmachen. In der Arbeit mancher Sektionen wird das ja schon bemerkbar. Zugleich enthält sie einen Kern für diejenigen, die sich entscheiden, in ihr Inneres eintreten zu wollen. Für sie ist die Erste Klasse da, sie haben sich entschieden, Anthroposophie zu repräsentieren. Es wäre ganz unsachgemäß, diesen Kern der mantrischen Arbeit in den Klassenstunden etwa zu ‹popularisieren›. Wohl aber ist es eine dringende Aufgabe, den vielen, vielen Menschen, die in ihrer Arbeit auf dem Feld, in der Schule oder im heilpädagogischen Institut Anthroposophie öffentlich repräsentieren, eine reale Verbindung mit der Hochschule zu ermöglichen und ihre Fragen und ihre Erfahrung als Teil der Arbeit dieser Hochschule zu begreifen.

Die Weltgesellschaft braucht juristische Mittel

Was ist euch gelungen?

Mackay Damit aus Gesellschaft und Hochschule und aus dem Gegenüber von Vorstand und Sektionsleitenden ein wirkliches Miteinander werden kann, sind sowohl die Sektionsleitungen als auch die Vorstände aufgerufen, über den eigenen Tellerrand hinauszudenken. Da fängt es schon an, da kommt man in Bewegung. Wenn wir das nicht hier am Goetheanum zuerst mit der Gründung der Goetheanumleitung 2012 begonnen hätten, dann hätten wir nicht die innere Berechtigung gehabt, die Goethe­anum-Weltkonferenz zu Michaeli 2016 zusammen zu rufen. Für ihr Zustandekommen habe ich mich besonders eingesetzt, weil es mir wichtig ist, dass die Bereiche der Hochschule, der Gesellschaft und der Lebens- oder Sektionsfelder zusammenkommen und sich wechselseitig verstärken. Sie sind interdependent verfasst, weil jeder Bereich seinen eigenen, unverwechselbaren und einmaligen Beitrag zu dem Ganzen, das heißt zur anthroposophischen Bewegung zu leisten hat. Die hundert Tische auf der Goetheanum-Terrasse, an jedem dieser Tische Anthroposophen aller Kontinente und Tätigkeitsfelder im Gespräch. Diese Goetheanum-Weltkonferenz ist mir ein Vorbild dafür, wie wir den Zusammenklang der Weltgemeinschaft impulsieren können. In diesem Sinne habe ich mich und möchte ich mich für die anthroposophische Sache in der Welt einsetzen.

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Plato Zwei Vorgänge, in denen ich besonders engagiert bin, möchte ich erwähnen. Das Erste ist die Neuinszenierung der vier ‹Mysteriendramen›, die 2004/06 mit Gioia Falk begann, 2010 erstaufgeführt wurde und bis heute gespielt wird. Dadurch konnte vor allem in Deutschland und hier am Goetheanum eine intensive, allgemein anthroposophische Arbeit stattfinden. – Meines Erachtens ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Anthroposophie, gerade hier am Goetheanum, sich um die ‹Mysteriendramen› und auch um den ‹Faust› zu kümmern. Zwar haben wir in der jüngsten Zeit mit dem ‹Faust› interessante und schwierige Erfahrungen gemacht. Deshalb werden wir jedoch nicht damit aufhören, an diesem Werk der Weltliteratur aus anthroposophischen Gesichtspunkten und Erfahrungen weiterzuarbeiten. – Das Zweite ist die gesellschaftliche Behandlung von Fragen zur meditativen Praxis. Bis in die frühen 2000er-Jahre blieben diese Fragen im Hintergrund, seither werden Studium, Übung und Meditation innerhalb der anthroposophischen Bewegung, der Gesellschaft und der Hochschule besprochen und bearbeitet. Mit dem Beginn der Goetheanum-Meditation-Initiative-Worldwide 2006 wurde das institutionell zu recht am wenigsten fassbare Anliegen der Anthroposophie zu einem konkreten und sichtbaren Arbeitsschwerpunkt der Gesellschaft und Hochschule. 2017 wurde ohne Gurutum oder Definitionen, was anthroposophische Meditation sei, die Living-Connections-Tagung von sehr vielen verschiedenen Menschen am Goetheanum veranstaltet. Es gelang zu untersuchen, was das Spezifikum der anthroposophischen Meditation und eines entsprechenden inneren Entwicklungsweges ausmacht.

Was ansteht und bisher noch wenig gelang, sind die weltweiten Möglichkeiten eines jeden Mitglieds der Anthroposophischen Gesellschaft, sich an Urteils- und Entscheidungsproszessen bis in die juristische Ebene zu beteiligen. Die Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten zu einer Weltgesellschaft herangewachsen. Jetzt gibt es überall Menschen, die an ihren Entwicklungsprozessen teilnehmen wollen und teilhaben sollen. Das wird uns in der kommenden Generalversammlung und darüber hinaus beschäftigen.

Dieses Strahlen fangen wir auf und möchten wir verarbeiten

Wenigen ist bewusst, wie viel ihr reist, in welchen Gruppen und Zusammenhängen ihr tätig seid. Könnt ihr daraus ein Bild für die Zukunft malen?

“Wir werden weniger der Kopf, sondern viel mehr ein Herz sein, in dem sich die verschiedenen Ströme durchdringen.”

— Bodo von Plato

Plato Meine Liebe zur Zukunft hat viel damit zu tun, dass ich entdecken durfte, wie das Goetheanum in Neuseeland, in Südamerika, am Rand der Rocky Mountains oder in Kanada, in einer Schule oder in einem Wohnzimmer im Gespräch auf einmal da ist. Auch in den Favelas von São Paulo, im Medizinschrank einer Mitarbeiterin von Ute Craemer, hängt ein Foto vom Goetheanum. Für diese Menschen an diesen Orten ist es ganz wichtig zu fragen: Du kommst von da? Und ich sage: Ja. Es wird real. Und ich bin ganz dort bei ihnen und dann bin ich wieder ganz hier. Hier sehe ich dann, wie Benno Otter die Obstbäume so schneidet, dass alle Menschen aus der Gegend kommen und es von ihm lernen wollen, und hier kann ich mit Studenten an Grundwerken Steiners arbeiten. – Das ist ein Atmungsvorgang des Goetheanum, ein Atmen von Peripherie und Zentrum. Das Goetheanum ist als Zentrum gebaut worden, das ausstrahlt. Und überall dort in der Welt, wo jemand mit der Anthroposophie verbunden ist, ist nun auch ein Zentrum, das zurückstrahlt. Dieses Strahlen fangen wir hier auf und möchten wir verarbeiten. Wir werden weniger der Kopf, sondern viel mehr ein Herz sein, in dem sich die verschiedenen Ströme durchdringen. Das Goetheanum wird ein menschlicher Weltort, zum großen Goetheanum, und zugleich müssen wir das Goetheanum hier in Dornach wirklich gut pflegen und weiterentwickeln für die, die sehen und erleben wollen, wo die Anthroposophie einst herkam. Dieser sich verändernde Atem zwischen Peripherie und Zentrum, dieses ‹Herzwerden› berührt mich sehr.

Mackay Das sehe ich genauso. Zum einen gibt es das Bild und zum anderen den Weg, um dorthin zu kommen. Dabei überkommt mich ein gewisses Gefühl der Ohnmacht. Wie sollen wir das schaffen? Wenn ich dann jedoch zum Beispiel in Osteuropa unterwegs bin, merke ich, dass dort etwas keimt, wächst und sich entwickelt. Daran nehme ich für ein paar Tage teil und nehme es mit zum nächsten Ort, von dem ich – und jeder andere auch – wiederum etwas mitnehme. Daraus entstehen Verbindungslinien, so etwas wie eine unsichtbare, aber reale Wirklichkeit als spirituelles Netzwerk, oder besser noch als Flechtwerk von Menschen, die praktisch und spirituell tätig sind und miteinander in Beziehung stehen. Das ist für mich das große Goetheanum.


Titelzitat von Rudolf Steiner am Schluss des Vortrages ‹Der übersinnliche Mensch, anthroposophisch erfasst›, 18.11.1923, Den Haag, bei der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden.

Bilder: Nina Gautier

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