Ich bin, was fehlt

«Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein, kein Baum sieht den andern. Jeder ist allein.» So dichtet Hermann Hesse den November. In den November 2025 führt Andreas Lauderts Reise in Stadt, Land und Seele und ruft poetisch auf, sich die Erde und alles zu eigen zu machen, um zu entdecken: Ich bin, was fehlt.


Aus den Alltagsgründen des gewordenen Lebens bin ich immer wieder zwischen den Hansestädten Hamburg und Lübeck unterwegs; oft kommt noch die Hauptstadt Berlin hinzu. Das Meer ist dort nicht weit, die Nord- und vor allem die Ostsee. Aber das ist nicht der vorherrschende Erinnerungseindruck, der sich bei diesen Reisen und Fahrten in die Seele senkt, nicht das, was sich dem Gewohnheitsleib einprägt. Es ist eher eine unendliche Reihe von Tagen und Stunden in einem Zuviel, in grauem Gedränge, in akustischer, olfaktorischer und visueller Bedrängnis. Züge fahren nicht, halten auf freier Strecke, Regen prasselt gegen Scheiben, Türen sind gestört und – so denke ich dann oft – unser ganzes Leben. Warum tun wir uns das an? Vielleicht erleben andere Menschen in ihren Städten und Regionen Ähnliches. Vielleicht nicht in der ordentlichen Schweiz, vielleicht aber im Ruhrgebiet. In solchen Momenten etwa am ZOB Lübeck, dem zentralen Omnibusbahnhof, vielleicht um 22.30 Uhr, an solchen auf ihre Weise mystischen Orten, wo es kein Licht gibt, sondern nur Beleuchtung, habe ich eine solche sinnliche Sehnsucht nach Natur, nach dem Meer, nach Weite und Stille und Schönheit, nach Sonnenlicht. Oder nach meinem Rad, mit dem wir im Hochsommer auf der Insel Fehmarn zwischen Rapsfeldern und grünen Wiesen hindurchfuhren. Und ich kann dann alle verstehen, die sich diesem Stress entziehen, die ihre Kinder niemals in einer Großstadt aufwachsen lassen wollen, oder die lieber Auto fahren, weil sie dann, sogar noch im Stau, wenigstens allein sind und das Steuer ihres Lebens in der Hand haben.

Gleichzeitig fühle und denke ich, dass die Natur keine Alternative ist. Die Natur wird entwürdigt, weil sie zum Sehnsuchtsort wird, zur Projektionsfläche unseres Verlangens, weil die Zivilisation uns anstrengt. Auf dem Land braucht man ein Auto, in der Stadt braucht man einen Garten. Wir denken in Ruhezonen und Naturschutzgebieten, weil wir die Natur nicht mehr selbstverständlich schützen. Auch sie bietet mittlerweile keinen Schutz mehr, sondern wird wieder zu jener Gefahr, die sie immer schon war. Plötzlich beunruhigt uns jeder Wetterumschwung, und aufkommender Wind oder Regen ist eine Eilmeldung wert. Die Bahn warnt vor «hoher Auslastung» und die Tagesschau vor übermäßiger Hitze. Sich nach dem bestellten richtigen Sommer zu sehnen oder nach Waldeinsamkeit und Vogelgezwitscher, sich wieder nach Hause zu sehnen, weil «Personen am Gleis» sich verirrt haben und die eigenen Termine platzen lassen, bedeutet, selber auf halber Strecke stehen zu bleiben.

Denn es ist zu spät. Wir können nicht mehr zurück ins Paradies, nur noch nach vorn, ins himmlische Jerusalem. Die Städte sind unser Schicksal geworden, es ist richtig, dort zu wohnen, wie es nicht falsch ist, sie zu fliehen, zumindest, wie sie gegenwärtig sind. Die Mitmenschen sind unser Schicksal geworden, und dem zu begegnen, offenbart erst unsere potenzielle Freiheit.

Wir selber sind die Apokalypse. Denn ich merke, am Hamburger Hauptbahnhof um 22 Uhr an einem lärmenden Samstag, oder in einer Backstein-Kleinstadt an einem trostlosen Montag um Mitternacht, zwischen Notdurftgeruch, Alkohol und Hässlichkeit, dass ich all das, genau das, lieben muss, lieben will, dass ich all diese verwundeten Menschen und auch mich selber lieb haben lernen muss, einschließlich meiner finsteren Miene oder, je nach Tagesform, der Bleistiftmine, mit der ich als schreibender Beobachter, der es sich leisten kann, Erhellendes notiere, weil ich nicht, wie die Obdachlosen in den eiskalt gefliesten Geschäftsdurchgängen, mir in der einsamen Nacht ein Lager machen muss.

Ich bin, was fehlt. Ich bin der Weiher, auf dem stille Wellen kreisen. Ich bin der sanfte Windhauch, die erhabene Bergesruhe, der blauende Himmel. Ich bin das saftige Grün. Ich bin der Sonnenaufgang am Meer. Ich schreibe die Geschichte um oder niemand.

Dieses ganze Unterwegssein in Blech und Stahl, auf Autobahnen oder Schnellzugschienen, ist ein Bild für unseren Übergang als Zivilisation und als Menschheit. Wir haben gewählt. Wir wenden uns ab vom Land, und so wird es zur Alternative. Wir hängen an der Natur, weil wir sie abgehängt haben, wir haben begonnen, es eilig zu haben, es praktischer haben zu wollen, effizient. Die Wahl ist irreversibel, und der Herzschlag zwischen Peripherie und Zentrum stockt. Kein Bus wird mehr fahren, kein Führer wird kommen, keine Hebamme wird helfen, kein Arzt wird heilen. Jetzt muss unser ätherisches Herz zu schlagen beginnen. Das nicht physische Christuslicht will entzündet werden am Bahnhof Berlin-Lichtenberg und auf der A7, im Norden und Süden und Osten und Westen, in den nomadischen Zelten, die wir aufgeschlagen haben, als wir im Smartphone versanken. Erst wenn an der Peripherie, im Umkreis unseres Auges, dasjenige lebt, was auch in den Zentren lebt, ist die Welt sozial. Wenn wir in den Blick nehmen, was sich ihm entzieht. Wenn wir die Provinzen so interessant finden wie die Metropolen, erst dann sind wir eine menschliche Gesellschaft. Keine Handyregelung an Schulen wird unsere Kinder retten, kein Masterplan und kein Klimaziel, und keine magische Zahl. Wir müssen durch, denn wir sind erneuerbar. Wir müssen uns hassen lernen, um wieder lieben zu können. Die Hässlichkeit aushalten, um sie zu wandeln. Nicht verschönern, beschönigen, liften – verwandeln.

In den Metropolen erregt nichts Aufsehen: Zwei küssen sich selbstvergessen im Menschengewimmel unter den Arkaden, jemand torkelt und schimpft, ein anderer predigt, hier fällt ein Schuss und dort fällt jemand aus allen Wolken. Niemand schaut auf, oder wenn, nur kurz. Die Sekunde verkündet nichts, nachhaltig ist nur die Stunde, die volle Aufmerksamkeit. Auf den Dörfern, wo alles langsam geht und beschaulich scheint, ist alles eine Sensation, in den Provinzen unserer Seele, in der kleinen neuen Gewohnheit, im Ein-Cent-Stück, das ich verschenke, im Wort, das ich zuspreche, in der nebensächlichsten Übung der Güte, mit der ich alle, und nicht zuletzt mich selbst, überrasche. Auf den Dörfern schauen wir auf und heben den mit Terminen überfüllten Kopf. In Zukunft schauen die Dörfer auf die Städte, und die Städte achten die Dörfer. Schauen wir also auf! Schauen wir die Sonne um Mitternacht, die Sonne in den Augen des Mitbürgers und der Mitreisenden, ja, wir sind unterwegs. Nehmen wir den Mond persönlich und die ganze Erde, und sehen wir zu, dass wir wieder aufsehen können zu uns selbst.


Foto Fridolin Freudenfett, Wikimedia

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