Freiheitsfragen — Liebeserklärungen an eine spirituelle Philosophie

Die Frage nach Erkenntnis und Freiheit regte Renatus Ziegler an, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das sich schon lange vorbereitet hatte: die ‹Philosophie der Freiheit› so zugänglich zu machen, dass durch Fragen, Übungen und Betrachtungen ihr Inhalt selbstständig erarbeitet und erfahren werden kann. Die ‹Briefe› sind als Kooperationsprojekt mit dem Philosophicum Basel entstanden. Christiane Haid führte ein Gespräch mit dem Autor und mit dem Initiator des Philosophicums Basel, Stefan Brotbeck.


Was bedeutet für euch Freiheit?

Renatus Ziegler Freiheit ist für mich die Verbindung eines aus meiner innersten Tätigkeit heraus entspringenden Impulses mit den Ermöglichungen, Herausforderungen, Notwendigkeiten, Fragen und Nöten meiner Umwelt und meiner Mitmenschen. Die reinigende Kraft des denkend erfassten intuitiven Impulses dient der Gestaltung der Mitwelt und der Förderung einer Bewusstseinsverwandlung.

Stefan Brotbeck Freiheit ist eine Liebeserklärung an den verwandlungsfähigen Menschen und damit auch an den Stern der Verwandlung, den wir ‹Erde› nennen. Verwandlung ist eine sinn- oder intuitionsorientierte Veränderung, die mich und die Welt umfasst und mich als ganzen Menschen mit Kopf, Herz und Hand involviert. Sie ist der Begriff, den ich bilde, wenn ich verstehen will, wer ich bin. Aber zur Freiheit gehört auch freies Interesse an der Freiheitsfähigkeit des Anderen. Freiheit fragt nach dem Du, nach dem Anderen. Sie ist die Sinnquelle der Begegnung. Dies ist der Punkt, der mich am tiefsten bewegt: Die Philosophie der Freiheit ist auch eine ‹Dialogosophie›!

Wie habt ihr die ‹Philosophie der Freiheit› kennengelernt?

Ziegler Ich wuchs in einer anthroposophischen Familie auf, habe mich jedoch schon als junger Mensch für den wissenschaftlichen Weg in die Anthroposophie über die philosophischen Grundschriften entschieden. In die ‹Philosophie der Freiheit› wuchs ich sehr langsam hinein, es gab kein Erweckungserlebnis. Durch eigenes Studium und Teilnahme in Arbeitsgruppen arbeitete ich mich immer mehr hinein. Ich verstand jedoch anfangs vieles nicht hinreichend genau. Ich blieb aber dem Werk treu und es begleitet mein Leben.

Brotbeck Als Jugendlicher, nach ebenso prägenden wie waghalsigen Suchbewegungen in der philosophischen Bibliothek meines Vaters, las ich auch in der ‹Philosophie der Freiheit›. Ich erinnere mich noch gut, wie mich da vor allem ein Satz bewegt hat: «Man sagt: die Liebe mache blind für die Schwächen des geliebten Wesens. Die Sache kann auch umgekehrt angefasst und behauptet werden: die Liebe öffne gerade für dessen Vorzüge die Augen. Viele gehen ahnungslos an diesen Vorzügen vorbei, ohne sie zu bemerken.»

Hat das Buch euer Leben verändert?

Ziegler Durch den Umgang mit diesem Werk lernte ich allmählich, dass es um einen Erlebnisgrund ging, der einen das dort Dargestellte selbständig aufschließen lässt: Man kann den Inhalt nicht nur verstehen, sondern im tätigen Leben auch immer wieder neu selbständig finden und erkennen. Man wird allmählich zum Autor seines eigenen, nie abgeschlossenen Freiheitswerkes. Daraus ergeben sich geschärfte und klarere Blicke auf mancherlei Lebensfragen.

Brotbeck Ich hoffe, dass die Gedanken des Buches mich immer neu verändern. Ich lese die ‹Philosophie der Freiheit› nicht nur so, dass hier die Freiheit als Thema der Philosophie erscheint, sondern auch so, dass die Philosophie als Ausdruck der Freiheit erlebbar wird – Philosophie als Initium für das, was freies Geistesleben bedeutet. Sie ist ein Buch für echte Anfänger, und zwar im denkbar konkreten, nämlich praktischen Sinn. Wäre die Gründung des Philosophicum ohne die ‹Philosophie der Freiheit› möglich gewesen? Gerade die ‹Philosophie der Freiheit› lehrt mich, dass wir Organe des freien Geisteslebens nur gründen, indem wir sie jeden Tag neu gründen.

Foto: Stefan Brotbeck und Renatus Ziegler

Was waren entscheidende Fragen, Erlebnisse an und durch das Buch?

Ziegler Je mehr man sich in das Werk vertieft, desto mehr erlebt man dessen Komplexität und Vielschichtigkeit. Es spricht verschiedenste Themen von unterschiedlichen Gesichtspunkten an. Steiners offenlassende, scheinbar unscharfe Formulierungen können so zu Eingangstoren tiefer liegender Einsichten werden.

Brotbeck Das Buch hat mir vor allem zwei Perspektiven erschlossen: 1. Die [metatheoretische] Einsicht, dass Erkennen und Handeln zusammengehören – es sind die beiden Aufgaben und Seiten der Freiheit. 2. Die denkstilistische Erfahrung, dass Scharfsinn und Witz zusammengehören – es geht um die Verbindung der Fähigkeiten, das Unterschiedliche im Ähnlichen und das Ähnliche im Unterschiedlichen zu sehen.

Wie aktuell ist das über 100 Jahre alte Buch heute?

Ziegler Das Thema der inneren und äußeren Freiheit wird nach wie vor weitherum kontrovers diskutiert. Die Fragen, Einwände und Bedenken sind weitgehend dieselben geblieben. Steiners Ansatz macht darüber hinaus deutlich, dass der Ausgangspunkt und Kern der Freiheit in der inneren Autonomie der Zielbildung gründet und nicht in der Realisierung oder dem Gelingen wirklich intendierter Impulse. Entscheidend für die Freiheit ist also nicht, ob ich tun kann, was ich will, sondern ob ich klar und hingebungsvoll wollen kann, was ich zu tun gedenke.

Die wirklich gefährlichen Angriffe auf die Freiheit betreffen demzufolge nicht Behinderungen oder Einschränkungen meiner Ausdrucks- oder Handlungsmöglichkeiten, sondern die Ablenkungen und Verunmöglichungen innerer Besinnung, die Abhaltung von der Bildung, dem geduldigen Aufbau eigenaktiv erfasster innerer Freiräume. Das geistige Zentrum meiner Freiheitspotenz kann nicht bedroht werden, wohl aber die Möglichkeit seiner individuellen Ausübung und damit seiner Ausbildung in der Gegenwart als Entwicklungsgrundlage für die Zukunft.

Die ungebrochene Aktualität dieses Werkes besteht auch darin, dass Steiners konsequente Verbindung von Erkenntniswissenschaft und Handlungs-/Freiheitslehre (Ethik) noch kaum im Gegenwartsbewusstsein angekommen ist.

Was für Erfahrungen habt ihr mit Seminaren zu diesem Buch gemacht?

Brotbeck Mein erstes Seminar zur ‹Philosophie der Freiheit› war sozusagen mein vorletztes Seminar an der Universität Basel. Seither habe ich einerseits keine und andererseits nur noch Seminare zur Philosophie der Freiheit gemacht. Ich habe kein Seminar zum Buch gemacht und zugleich sind alle meine Seminare und vor allem die zehn Philosophicum-Jahreskurse im Grunde existenzielle Meditationen über die Philosophie der Freiheit. Sie ist weniger Gegenstand als vielmehr das Licht, das alle Themen erleuchtet und erwärmt.

Welche Schwierigkeiten bringt dieses Werk mit sich?

Ziegler Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass das Buch nicht die Erwartung erfüllt, nach der Lektüre zu wissen, was Freiheit ist, sodass man das Gelernte dann einfach nur noch umsetzen muss. Es ist ein Übungsbuch, das wie eine Partitur erst zum Klingen gebracht werden muss. Der Text ist nur eine Anregung: Die Aufführung muss selbst geleistet werden. Aktualität und Geistesgegenwart findet man nicht in Texten, sie können nur durch Ich-Menschen geleistet werden.

Welche Hilfestellungen brauchen Lesende heute? Welchen Impuls verbindest du, Renatus, mit deinen ‹Freiheitsbriefen›?

Ziegler Natürlich stammen die bekanntesten und schönsten Zitate meist aus dem zweiten Teil des Werkes. Ich möchte mit meinen Übungen und Ausführungen aber deutlich machen, wie fundamental der erste Teil des Buches ist. Hier wird der Grundstein einer Philosophie als Erfahrungswissenschaft gelegt (oder auch: der anthroposophische Kern der Philosophie offengelegt). Es geht von Anfang an um Freiheit, nämlich um die Freiheit des Denkens und Erkennens als unabdingbarer Grundlage der Freiheit des Handelns in der Welt. Nur hier kann ich anfänglich lernen, was es bedeutet, ein aktuell selbständig denkender und erkennender Geist zu sein; nur hier kann ich mir die begründete Hoffnung erringen, dass die Welt grundsätzlich denkbar und erkennbar ist und damit auch meine eigenen Handlungen als Teil der Welt. Auch wenn es mir im Einzelnen selten gelingen mag, das zu erreichen. Von da aus sind es dann nur noch ‹kleine› Schritte zur Freiheit des Handelns. Das Buch ist ein Lebensbuch für das heutige Zeitalter. Es eröffnet ein Erfahrungsfeld, das jedem Menschen der Gegenwart zur Verfügung steht. Er lernt erleben, dass Philosophie ein existenzielles Unternehmen sein kann, das selbst Ausdruck der Freiheit ist, indem er in Freiheit eigene und fremde Fragestellungen aufgreifen und zu innersten Anliegen umschmelzen kann.

Brotbeck Lesende brauchen Gratwan­derungsfähigkeiten. Wir können nach rechts oder nach links abstürzen. Der eine Absturz macht das Buch zu einer Art Heiliger Schrift. Es wird auf falsche Weise wertgeschätzt, so überhöht, dass man in dessen Schatten bestens stehen bleiben kann. Der andere Absturz besteht darin, dass man nicht müde wird, nachzuweisen, dass im Buch grosso modo nichts zu finden ist, was nicht bereits anderswo und vielleicht sogar besser steht. Das eine ist wie das andere Ausdruck einer – weitgehend selbst verschuldeten – Impotenz im schöpferischen Denken, einmal in Form von sektiererischen Antiakademikern und einmal in Form von akademischen Antisektierern.

Wie wirken die ‹Briefe› auf dich, Stefan?

Brotbeck Sie wirken auf mich als sachliche und eben deshalb hochindividualisierte Einladungen zu einem erfahrungsorientierten Philosophieren. Erfahrungen sind keine Informationen aus einer sinnlichen oder übersinnlichen Guckkastenwelt, sondern begründungsfähige Zeugnisse existenzieller Sinnfelder. Die ‹Briefe› sind Liebeserklärungen an eine spirituelle Philosophie, die geistige Sinnerfahrung ermöglicht. Das Schönste dabei ist: Sie tragen zur Einsicht bei, dass die Anthroposophie nicht nur in der Philosophie wurzelt, sondern auch in einem neuen Verständnis der Philosophie ‹erblühen› könnte.


Information Ab November werden die ‹Briefe› auf den Webseiten der Sektion für Schöne Wissenschaften und des Philosophicum abrufbar sein. Es besteht die Möglichkeit, anschließend alleine oder in Gruppen an einem vertiefenden Seminar mit dem Autor teilzunehmen. Für die ‹Briefe› wird kein Beitrag erhoben, doch sind Spenden erbeten. Renatus Ziegler möchte damit die Arbeit der Sektion für Schöne Wissenschaften und das Philosophicum fördern.

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