Die Wahrnehmung des anderen vollzieht sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Hingabe und Selbstbehauptung.
Begegnen sich zwei Menschen, versucht der eine, um sich selbst zu behaupten, den anderen quasi einzuschläfern. Lauscht man den Worten des anderen und nimmt sein Denken wahr, verschmilzt man einen Augenblick mit ihm. Da dann aber das sinnliche Gegenstandsbewusstsein verschwindet, schläft es ein. Sogleich wehrt man sich dagegen, distanziert sich von den Gedanken des anderen und ist wieder wach. Da man in der Vereinigung mit dem anderen sozial, im notwendigen Sich-Abstoßen antisozial ist und dieses Verhältnis Voraussetzung allen sozialen Lebens in der Moderne ist, nennt Rudolf Steiner dieses Pendeln das soziale Urphänomen. […] Das eine Ich kann sich im gelingenden Gespräch im anderen in einem höheren Sinne selbst finden, so wie es das andere Ich in sich aufnehmen kann. Indem etwas, das im gewöhnlichen Gespräch unbewusst bleibt, bewusst vollzogen wird, beginnt ein Erwachen am anderen.
Aus Martin Kollewijn, Einleitung zu ‹Erwachen am anderen Menschen›, Rudolf Steiner, Impulse 11, Stuttgart 2010.