Kürzlich, auf einer Reise im Südkaukasus, nahm Ulrich Weger berührende Eindrücke mit: die Schönheit der Gebirgszüge, die Herzlichkeit und Tiefe der Menschen und die Begegnungen mit einer reichen Kultur und Spiritualität. Im Nachklang entstanden noch andere Eindrücke.
Aserbaidschan Die Eindrücke der Reise klingen auf unerwartete Weise nach. Gleich am ersten Morgen führte uns die aserbaidschanische Reiseleiterin in Baku zu den Gefallenen des sogenannten ‹Schwarzen Januars› von 1990. Sie kamen durch sowjetische Truppen ums Leben. Federführend auf Sowjetseite war damals, so berichtet die Reiseleiterin, Michail Gorbatschow, der deshalb ein Feindbild vieler Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner ist. Wie sehr war ich geneigt, mit der Reiseleiterin eine Diskussion zu beginnen. Aber dann wurde mir klar: Das deutsche und vielleicht auch das europäische Narrativ der Geschichte ist eben das speziell deutsche beziehungsweise europäische – und damit ein ganz anders als dasjenige anderer Länder. Wenn dann auch noch jeder vorerst einmal die Selbstverständlichkeit der eigenen Wahrheit für sich beansprucht, weil er ein Leben lang nichts anderes gehört hat und die Sichtweise so tief verankert ist, dass sie im Grunde identitätsbildend wirkt, so wird es schwierig. Denn wer ist schon bereit, seine Identität von einem Reiseleiter infrage stellen zu lassen? Noch schwieriger wird es für jene, die gar nicht erst auf die Idee kommen, dass an dem bekannten Narrativ etwas unvollständig sein oder dass es gar andere Narrative geben könnte – zum Beispiel, weil man selbst noch nie nach Aserbaidschan gereist ist. Oder, um es allgemeiner zu formulieren: Wenn ein Narrativ so selbstverständlich wird, dass man gar nicht mehr berücksichtigt, dass Menschen andere Standpunkte haben könnten, sind die Fronten schnell verhärtet. Damit soll übrigens gar nicht das Bild von Michail Gorbatschow angekratzt werden. Aber mir ist klar geworden: Es braucht einen systematischen Umgang mit den eigenen blinden Flecken. Denen ist schwer beizukommen, gerade weil es sich um blinde Flecken handelt. Was an unseren heutigen Narrativen über Kriege und Krisen, über Russland oder die Ukraine ist wirklichkeitsgesättigt – und wo sehen wir nur unsere eigenen Verzerrungen und Fremdprojektionen? Vielleicht besteht ein Ansatz darin, sich diesen blinden Flecken zu nähern, ihre Wirkungen in den Blick zu nehmen und von dort aus gleichsam rückwärts zu den Quellen vorzudringen. Erkennt man die Wirkung blinder Flecken nicht zum Beispiel an ihrer Emotionalität? An Feindbildern, Angstmacherei, Widersprüchlichkeiten? Herzlich willkommen in unserer Welt von heute.
Armenien Ein Blick auf die eigenen blinden Flecken wurde mir übrigens auch im Völkermord-Museum von Jerewan (Armenien) zuteil. Welche Empörung brauste in mir auf, als ich von den Details der Gräueltaten von 1915 erfuhr, die Kämpfer des damaligen Osmanischen Reiches am armenischen Volk verübt hatten. Aber dann der bittere Nachgeschmack: Deutschland hat diese Ereignisse sehenden Auges geschehen lassen, ohne seinen Einfluss geltend zu machen, aus strategischen Gründen, um nicht einen Verbündeten im Ersten Weltkrieg zu verlieren. Der auf andere zeigende Finger befindet sich an einer Hand, deren weitere Finger auf uns selbst zurückweisen. Im besagten Museum in Jerewan wird übrigens auch auf jüngere Kriegsgeschehnisse hingewiesen. Bei den Grausamkeiten, die dort zu sehen sind, fragt man sich: Warum redet man in Deutschland und Europa heute so selbstverständlich davon, dass wir wieder kriegstauglich werden müssen? Wo bleibt in einer Welt aus Narrativen, die ohnehin auf tönernen Füßen steht, der Ruf nach Abrüstung und Diplomatie, den es beim Kriegsgeflüster der jüngeren Vergangenheit immer gegeben hat? Warum sagt ein deutscher Außenminister Wadephul, Russland werde «immer ein Feind und eine Gefahr für unsere europäische Sicherheit sein»?
Georgien In Georgien überraschte mich die große Wandlung, die das Land und insbesondere die Stadt Tbilissi seit meinem ersten Besuch 1997 durchlaufen hat. In den harten Jahren nach dem Umbruch mangelte es an allem. Damals gab es regelmäßige Blackouts, heruntergekommene Straßenzüge und Stadtviertel. Unter der Präsidentschaft von Micheil Saakaschwili änderte sich vieles im Land. Die zahlreichen Glasbauten zeugen von dem Bemühen, für mehr Transparenz zu sorgen in einem Land, in dem es lange Zeit eher auf die richtigen Beziehungen ankam. Später wurde Saakaschwili dann selbst Fehlverhalten vorgeworfen, seit einigen Jahren sitzt er in Haft und wirkt in einem auf Youtube verfügbaren Interview nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Er freilich spricht von einer Hexenjagd – die Strafverfolgung von massivem Fehlverhalten. Womit wir wieder bei der Frage nach den Narrativen sind. Wo begegnet uns Realität und wo befinden wir uns in einer Medienschlacht? Um ähnliche Schlachten geht es übrigens auch bei anderen Ex-Präsidenten: Brasiliens Lula da Silva und Jair Bolsonaro brachten sich quasi gegenseitig ins Gefängnis. Mit Frankreichs Sarkozy und Südkoreas Yoon sieht es nicht viel besser aus. Argentiniens Cristina Fernández Kirchner darf ihre Haftstrafe immerhin unter Hausarrest verbüßen. Und natürlich nicht zu vergessen: Donald Trump, dessen Verurteilung nur wegen seiner Präsidentenwahl außer Kraft gesetzt wurde. Werden unsere führenden Repräsentanten unmoralisch? Oder projizieren wir auf sie die Unmoral, die wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen? Zurück zu Tbilissi: Mit ihren wunderbaren Kirchen pulsiert die Stadt heute und ist ein echter Touristenmagnet geworden. Mit dem Bus fahren wir über die Zviad-Gamsachurdia-Allee, benannt nach dem früheren Präsidenten Georgiens, der Anthroposoph war, sich für ein spirituelles politisches Leben einsetzte und damals übrigens nicht eingesperrt wurde, sondern – wie soll man es nennen, um nicht in ein weiteres Narrativ zu stolpern – in den Wirren des Umbruchs ums Leben kam.
Bild Klosterkomplex Davit Gareja an der georgisch-aserbaidschanischen Grenze, Foto: Lars Hanf








