Ein Jahr, um innerlich lebendig zu werden

Im Herbst beginnt am Goetheanum ein einjähriges neues Kunststudium auf Deutsch. Was treibt die beiden Initiantinnen dazu?


Wie entstand die Idee für ein künstlerisches Studienjahr am Goetheanum?

Barbara Schnetzler Es waren vor allem die Studierenden hier am Goetheanum, die hier den Anstoß gaben. Sie fragten immer wieder danach, künstlerisch mehr arbeiten zu können. Das erlebe ich immer wieder in meinen Kursen, dass eine Sehnsucht besteht, das Gehörte und das Gelesene auch künstlerisch zu verarbeiten. Und auf der anderen Seite waren es auch Christian Hitsch und Thorwald Thiersch, die als erfahrene Kunstschaffende auf mich zukamen und sagten: «Das braucht es!» Dann haben Christiane und ich gedacht: «Jetzt machen wir das, wir versuchen das einfach!» Die Idee eines Studienjahres ist auch aus dem heutigen Lebensgefühl heraus entstanden. Jüngere Menschen sind nach der Schule oft auf der Suche, da gibt ein Jahr Kunststudium einen Boden. Außerdem hilft solch ein Studienjahr, über die Anthroposophie, aber auch über die Erkenntnis des Lebendigen sich selbst anders zu verorten, anders kennenzulernen, sich zu festigen und dann den nächsten Schritt zu tun.

Das Studium umfasst je drei Trimester zu den Künsten Architektur, Malerei und Plastik. Ist es somit mehr als ein Einführungskurs und weniger als ein Vollstudium in einer Profession?

Schnetzler Ja, es ist vergleichbar einem Vorkurs an einer Kunstgewerbeschule, wo man in viele Gebiete eintaucht. Was wir hier im Studienjahr bieten können, ist dann natürlich eine Vertiefung und bedeutet, sich auch handwerklich gewisse Fähigkeiten im Künstlerischen anzueignen, bildhauerisch oder mit den Farben.

Was übt man?

Schnetzler Die Studierenden lernen beispielsweise, Flächen schön zu spannen. Ich weiß, wenn eine Form ein Innenleben hat, wo ich Ton auftragen muss, damit es eben den Eindruck erweckt, dass etwas Lebendiges hier sich entfaltet. Zuerst beschäftigen wir uns mit den Grundformen und dann werden wir auch bildhauerisch, also im technischen Umgang mit dem Stein tätig. Wie schlage, wie schleife ich einen Stein? Wie setze ich eine Kante? Diese Formerfahrungen führen uns dann zur Metamorphosenlehre.

Christiane Haid Ein Freund von mir hatte an dem früher bestehenden Studienjahr von Christian Hitsch teilgenommen. Er war nach einem beruflichen Wechsel unsicher und ohne Orientierung. Das Studienjahr hat ihm einen neuen biografischen Impuls gegeben, er hat danach 20 Jahre als Kunsthandwerkslehrer unterrichtet. Solch eine einjährige Bildungszeit ist oft ein biografischer Wendepunkt. Bei den anthroposophisch inspirierten Kunstschulen wie der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg oder der Alanus-Hochschule spielen inzwischen die Grundlagen des anthroposophischen Kunstimpulses kaum mehr eine zentrale Rolle, eher die berufliche Qualifikation. Das ist bei uns anders: Hier vor Ort haben wir mit den Originalen, vom Archiv bis zum ‹Menschheitsrepräsentanten› und dem Goetheanum selbst, die Kunstwerke, um die es uns geht. Das bietet die besten Möglichkeiten, am Original wirklich in die Tiefe zu gehen und die Anregungen, die durch Rudolf Steiners Kunstimpuls und den Goetheanismus gegeben sind, zu studieren. Das zu ermöglichen, sehe ich als zentrale Aufgabe der Sektion für Bildende Künste.

Es geht für mich dabei um zwei Richtungen. Zum einen, was man als klassischen anthroposophischen Kunstimpuls bezeichnen kann, der sich in der Formensprache des Ersten Goetheanum bis hin zum Zweiten Goetheanum entwickelt hat. Zum anderen geht es darum, sich durch das Studium der Anthroposophie inspirieren zu lassen und daraus zu gestalten. Ein Schwerpunkt unseres Angebots liegt darin, den Kunstimpuls Rudolf Steiners in seinen Grundlagen kennenzulernen. Es gibt dann natürlich Momente, Freiräume, in denen man das Erarbeitete in den eigenen Ausdruck überführt. Das wollen wir ermöglichen und fördern, soweit es die kurze Zeit zulässt. Wir suchen Menschen, die existenziell daran interessiert sind, künstlerisch zu arbeiten.

Gleichwohl ist es keine volle Kunstausbildung – oder?

Haid Jeweils elf Wochen beschäftigen wir uns mit Malerei, Bildhauerei und Architektur. Das zielt in den Kern jedes Gebietes. Zugleich erlebt man Anthroposophie durch die künstlerische Tätigkeit. Jeden Morgen studieren wir zudem die Grundwerke Rudolf Steiners. Das übernehmen Renatus Ziegler und ich. Die praktisch-künstlerische Arbeit steht jedoch auch zeitlich im Mittelpunkt. Hier, im Umgang mit Ton, Holz und Farbe, soll jeder der Studierenden seine Selbstwirksamkeit entfalten. Diese kennenzulernen, scheint mir in einer digitalisierten Kultur wesentlich zu sein, denn für viele Menschen besteht gegenwärtig die Problematik, dass sie ihre Selbstwirksamkeit nicht erleben können. In diesem Sinne ist uns auch die Gruppe als Lerngemeinschaft ein zentrales Anliegen. So kann in der Begegnung der Studierenden etwas entstehen, was kein Buch und kein privates Studium ersetzen kann. Dem möchten wir Raum geben.

Die bestehenden Studiengänge um das Goetheanum tragen dazu bei, diesen Ort zu einem Kraftort zu machen. Hier wird eure Ausbildung eine nächste Energiezelle?

Haid Das hoffe ich! Ich freue mich darüber, dass wir mit Barbara Schnetzler und Nathaniel Williams jüngere Dozierende und mit Esther Gerster und Christian Hitsch Persönlichkeiten im Team haben, die schon jahrzehntelang ausbilden und etwas weiterzugeben haben, was es so nicht mehr in Fülle gibt.

Welche Resonanz erlebt ihr auf eure Initiative?

Schnetzler Wir sind erst seit Weihnachten mit unserer Idee unterwegs, deshalb kann ich hierzu nicht viel sagen. Es gab einige, die sich darüber freuen, dass die Ateliers auf dem Goetheanum-Campus nun wieder stärker belebt werden.

Haid Es ist nicht ganz einfach, denn Studium und Tagungsbetrieb müssen harmonisch zusammengehen. Das merken wir, wenn wir nach Arbeitsräumen im Haus suchen. Wir freuen uns, dass wir die Textarbeit einen Stock über den anderen Studierenden durchführen können. So gibt es Begegnungsmöglichkeiten von Anfang an. Wir sind im Nordteil der Schreinerei angesiedelt. Für die Zukunft wünsche ich mir noch weitere Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort zu allen möglichen Fragen des Lebens. Das verjüngt diesen Ort! Gleichzeitig müssen wir schauen, was machbar ist. Jetzt rufen wir hinaus und hoffen, dass wir reges Interesse finden.

Kann man auch nur ein Trimester besuchen und sich auf ein künstlerisches Feld beschränken?

Haid Ja. Es ist möglich, sich jeweils nur ein Trimester von elf Wochen lang in Bildhauerei bei Barbara Schnetzler zu schulen oder nur Architektur mit Christian Hitsch und Pieter van der Ree oder nur Malerei mit Esther Gerster und Nathaniel Williams im Sommer zu studieren. Das ist frei wählbar.

Schnetzler Es kann gut sein, dass wir je nach Interesse die einzelnen Trimester noch anpassen.

Welcher Kerngedanke leitet euch?

Haid Für mich ist es beim Studienjahr wesentlich, Anthroposophie nicht als reines Studium zu ergreifen, sondern sie durch Kunst zu verinnerlichen. Das ist ein anderer Zugang, weil hier Kopf, Herz und Hand unmittelbar beteiligt sind. Letzten Sommer hatten wir eine Kunstintensivwoche zum Ersten Goetheanum – 24 Stunden praktische künstlerische Arbeit, morgens und abends Vorträge. Das war eine ungemein vitale Stimmung. Da gab es Teilnehmende in weit fortgeschrittenem Alter, die vormittags und nachmittags einen Kurs in Plastizieren belegt hatten und am Ende der Woche fitter als zu Beginn waren. Wer in diesen inneren Formprozess einsteigt, auch ins Soziale, Gemeinschaftliche, wird belebt und erfrischt. Ich glaube, es ist ein allgemeines Zeitphänomen, dass man durch die ganzen Lebensumstände, in denen wir sind, hauptsächlich im Kopf sitzt – auf dem Stuhl und im Kopf. Da ist solch ein Kunststudienjahr eine Befreiung.

An welche Altersgruppe wendet ihr euch?

Haid Unser Blick richtet sich auf Studierende, die gerade die Schule abgeschlossen haben oder am Anfang ihres Berufslebens stehen. Aber die Grenzen zwischen den Generationen sind heute weniger scharf gezogen, so schauen wir individuell, wer sich bewirbt.

Schnetzler Man kann solch ein Studienjahr auch hervorragend als eine Weiterbildung in seinem Beruf verstehen oder eine Auszeit, um die Lebensquellen zu regenerieren.

Für Waldorflehrer und -Lehrerinnen ist so ein intensiv genutztes Freijahr sicher interessant. Mein Impuls für diese Initiative ist auch, Menschen direkt nach der Schulzeit anzusprechen. Es ist ein biografischer Schatz, wenn man vor seiner eigentlichen Berufsausbildung die Prinzipien von Metamorphose, von Komposition und eigenem Ausdruck versteht und ergreifen kann. Im  künstlerischen Vertiefen erfahre ich, dass ich in der Lage bin zu transformieren, das Gegebene zu verwandeln und Neues zu schöpfen. Es geht um die Verlebendigung der Materie. Ich erlebe in meinen Kursen viele Teilnehmende, denen es nicht reicht, Vorträge zu hören oder zu lesen. Sie wollen selbst etwas tun und dabei erfahren, wie sie den Stoff und sich selbst verwandeln.

Was mag für Interessierte den Ausschlag geben, so ein Studium anzutreten?

Haid Der Wunsch, lebendig zu werden, könnte ich mir denken.

Schnetzler Ja, der Wunsch, seine innere Lebendigkeit zu finden.


Info Goetheanum Studium

Titelbild Barbara Schnetzler und Christiane Haid, Foto: Wolfgang Held

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