Zu Beginn dieses Jahres erschien das Buch ‹Anfänge› von David Graeber und David Wengrow. Passend zur derzeitigen schwierigen Weltlage, liefert es eine neue Sicht auf die Frühgeschichte der Menschheit.
Der Anthropologe David Graeber, der die Herausgabe dieses Buches nicht mehr erleben konnte, war ein führender Vertreter der Occupy-Wallstreet-Bewegung in den USA, die vor zehn Jahren gegen die zerstörerische Wirkung der Finanzwelt protestiert hat. David Graeber und der Archäologe David Wengrow haben nach jahrzehntelanger intensiver Forschung ein völlig neues Bild gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen der Menschheit in den letzten 20 000 Jahren aufzeigen können.
Zugegeben, es ist ein harter Brocken Lesestoff mit unzähligen Details und speziellen Querverweisen zur Wissenschaftsgeschichte der Anthropologie und Altertumsforschung. Manchmal ein wenig ausufernd. Es eröffnet jedoch eine ganz neue Sicht auf die Geschichte der Menschheit. Unsere jetzige westlich-kapitalistisch orientierte Lebensform entstand nicht aufgrund einer logischen historischen Abfolge. Es hätte ganz anders kommen können, so resümieren die Autoren. In den letzten 20 000 Jahren hat es die unterschiedlichsten Gesellschaftsformen in der Menschheit gegeben, mit zahlreichen überraschenden Umschwüngen.
Die Autoren können mit neuesten Forschungsergebnissen aufwarten, insbesondere über die Entwicklung der indigenen Völker, welche die gängigen eurozentrischen Anschauungen infrage stellt. Sie stellen zwei europäische Denkrichtungen in der Geschichtsforschung gegenüber: einerseits den französischen Philosophen Rousseau, der das Bild des edlen Wilden geprägt hat, der erst durch Sesshaftigkeit und Landbesitz egoistisch wurde, und andererseits die Philosophie des Engländers Hobbes, der von der Annahme ausgeht, Menschen seien grundsätzlich als moralisch zwiespältig anzusehen und könnten nur durch Gesetze und ein geordnetes Staatswesen im Zaum gehalten werden. Die Autoren lehnen beide Ansichten, die zu den gängigen Geschichtsbildern führten, als einseitig ab. Sie finden eine große Anzahl Beispiele, dass es vielfältige Gesellschaftsformen nebeneinander gegeben hat und es lange Zeiten egalitäre wie auch diktatorische und kriegerische Phasen in den Kulturkreisen auf den verschiedenen Kontinenten gab. Die sozialen Gebilde waren nicht abhängig von Sesshaftigkeit oder Veränderungen der Lebensweise, beispielsweise durch die Entstehung der Landwirtschaft.
Das Sein, so muss man konstatieren, bestimmt nicht das Bewusstsein, sondern umgekehrt ist es richtig: Das Bewusstsein bestimmt das Sein des Menschen. Eindrucksvoll werden in diesem Buch die unterschiedlichsten Lebensformen und die besondere spirituelle Ausrichtung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas beschrieben. Die Autoren konnten sogar nachweisen, dass indigene Wertvorstellungen, die im 17. Jahrhundert populär wurden, das westliche Denken beeinflusst und tatsächlich die Französische Revolution mit ihren Postulaten ‹Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit› angestoßen haben.
Das Thema war ursprünglich als mehrbändige Ausgabe geplant, in der auch Forschungsergebnisse vom Mittelalter bis zur Neuzeit beschrieben werden sollten. Durch den frühen Tod von David Graeber ist diese Weiterführung leider unwahrscheinlich geworden. Aber auch schon dieses Buch wird sicherlich dazu beitragen, einen gesellschaftlichen Aufbruch anstoßen zu helfen, der uns aus der gegenwärtigen politischen und sozialen Sackgasse führt.