In den zwölf heiligen Nächten zwischen den Jahren spiegeln sich zwölf Tierkreisbilder – zwölf Inspirationen für eine innere Neugeburt – denn in den Raunächten sind sich Seele und Kosmos nahe.
Das Laub am Boden raschelt beim Schritt. Die Luft ist klar. Die laubfreien Bäume ragen wie Skulpturen in den Himmel. Es ist still, windstill. Noch stiller wird’s, wenn der Schnee fällt und sein Weiß auf die Landschaft legt. Dann nehmen die Kristalle jeden Laut. Nachts sind mit den Sternbildern Orion, Löwe und Zwillinge die hellen Gestirne am Himmel versammelt. In der Nacht das Licht! Am Morgen glitzert Reif auf den Zweigen. Er bricht das Licht der tief stehenden Sonne, als seien die Sterne auf die Erde gefallen. Der Kosmos ist zum Greifen nah! Ein wildes Jahr klingt aus und wohl niemand, bei dem es nicht Wunden geschlagen hat oder Wunden geöffnet hat. Jetzt, in diesen heiligen Tagen und Nächten zwischen den Jahren mögen sie heilen. Die Raunächte, eine Zeit des Erwachens, des Aufwachens. Das Leben der Natur ist zur Ruhe gekommen. Nicht anders als in der Seele, wo Ruhe bedeutet, aufzuwachen, ist es in der Natur. Jetzt ist sie wach, hat ihr Leben nach innen genommen. Das ist das Geschenk der Winterzeit: inneres Leben!
Jede Jahreszeit bietet eine Einladung an die Seele. Jede Jahreszeit feiert eine Hochzeit zwischen Himmel und Erde. Mit unserem komfortablen Leben in beheizten, klimatisierten Räumen haben wir uns vom Jahreskreis befreit, können Früchte das ganze Jahr genießen, im Winter den Tropenurlaub, im Sommer ein Skiwochenende. Das ist gut, denn so ist es heute ein freier, ein selbst gewollter Schritt, mit dem Wechsel der Jahreszeiten in Resonanz zu gehen, dem Ruf der Natur von Neuem folgen zu lernen. Sich selbst Freund und Freundin zu werden, sich selbst vertraut und zum Rätsel zu werden, für all das ist in dieser Zeit der Raunächte die Gelegenheit. Goldgrund der Raunächte ist dabei die Stille. Sie ist die große Schwester der Ruhe. Beide, die Ruhe und die Stille, sind das Tor zur eigenen Seele. Von Dag Hammarskjöld gibt es den viel zitierten Satz: «Die längste Reise ist die Reise nach innen.» Die Raunächte bieten für diesen Weg Siebenmeilenstiefel für die Bereitschaft und den Mut für die Reise zum Selbst!

Der magische Moment
Wenn wir all die Veränderungen der letzten Jahre für die kommende Zeit hochrechnen, so bedarf es keiner prophetischen Gabe, um ein Bild der Zukunft zu malen, auf dem kaum ein Stein auf dem anderen bleibt. Laut dem diesjährigen Report des World Economic Forum fallen in den nächsten fünf Jahren ein Fünftel aller Berufe weg oder verändern sich von Grund auf. Nicht anders im Innern: Es türmen sich Fragen. Die Liste ist lang, was alles zu erfüllen ist, was andere erwarten und man selbst von sich wünscht. Und wie beginnt diese Reise zu dir selbst? Durch diesen einfachen magischen Moment: Es gelingt, einen Atemzug bewusster und tiefer zu nehmen. Es gelingt, die Augen zu schließen und ein Lächeln spielen zu lassen und es nach innen zu schicken, in die Tiefe, dorthin, wo die Raunächte ihre Resonanz haben und inmitten der Unruhe einen Halt, inmitten des Taumelns festen Grund versprechen – inmitten der Fragen eine Antwort, ein Zuspruch, inmitten des Alleinseins Gefährtenschaft.
Das ist es, wozu unsere wilde Zeit aufruft: still zu werden und aufzuwachen und zu entdecken, dass es unter und in diesem Leben ein größeres, ein friedlicheres Leben gibt. Die Raunächte, dieser große Atemzug, der sich über zwölf Tage streckt und dem folgenden Jahr Tiefe verleiht! Es lohnt zur Einstimmung in diese stille Zeit, sich an einen Moment besonderer Stille zu erinnern. Bei mir war es eine Paddeltour durch die Masuren. Es war so still, dass das Wasser, das vom Paddel zurück in den See tropfte, zu laut schien. Etwas von dieser Magie unendlicher Ruhe zieht jetzt ins Innere ein. Die Entdeckung: Die Ruhe bedeutet nicht Stillstand, sondern das Gegenteil geschieht. In der Ruhe regt sich etwas, etwas, für das es viele Namen gibt: Zuversicht, Vertrauen, Gelassenheit. Mit dieser Erfahrung leuchtet ein, wie Rudolf Steiner seine Ruhemeditation eröffnet:
Ich trage Ruhe in mir,
Ich trage in mir selbst die Kräfte,
die mich stärken.
Die Ruhe ist in uns, sie lässt sich nicht aneignen oder ersehnen. Wenn man einen tiefen Atemzug nimmt, innehält, dann befreit sie sich und offenbart, dass Ruhe mehr ist als Abwesenheit von Lärm und Stress. Sie ist eine eigene Kraft. Es ist die Botschaft aller Religionen und spirituellen Schulungswege, dass in der Ruhe eine geheime Nahrung der Seele liegt und die Raunächte ihr Quellort sind.
Was wir fühlen, können wir wandeln
Im weiteren Verlauf dieses Ruhe-Spruchs ruft Rudolf Steiner dann mit dem Willen das Gefühl herbei. Denn das Gefühl ist der Acker, der Schreibtisch der Seele. Was wir fühlen, können wir wandeln. Dabei stößt man auf einen Widerspruch: Das Gefühl schenkt einen Dialog, und zugleich ist es der Dialog, der das Gefühl erst weckt. Das Ziel ist zugleich der Anfang. Was man auf dem inneren Weg gewinnt, nämlich tiefer zu fühlen, das ist zugleich am Anfang nötig. Sobald man innerlich zu hören, zu schauen anfängt, beginnt sich etwas auszusprechen, regt sich dein Gefühl. Das Gefühl ist Ausdruck des Gesprächs der Seele mit sich selbst. Aus ihm wird der dritte Schritt, der Wille möglich. Das ist dann der Dreischritt: vom Gedanken an die Ruhe, der zur Gewissheit sich steigert, über das Gefühl der Ruhe, wodurch die Ruhe zur ‹eigenen› Ruhe wird, zum Willen in der Ruhe! Der eigene Wille schenkt der Ruhe ihre Kraft, lässt in der Machtlosigkeit die Macht erfahren – so klingt es auch in den weiteren Zeilen von Rudolf Steiners Ruhe-Meditation (GA 268, 1999, S. 179):
Ich will mich erfüllen
Mit dieser Kräfte Wärme,
Ich will mich durchdringen
mit meines Willens Macht.
Und fühlen will ich
Wie Ruhe sich ergießt
Durch all mein Sein,
Wenn ich mich stärke,
Die Ruhe als Kraft
In mir zu finden
Durch meines Strebens Macht.
Von der Ruhe zur Stille
Die Meeresströme bringen es ins Bild: Oben an der Oberfläche der Ozeane strömt das Wasser als Golfstrom von den USA nach Europa oder als Humboldtstrom an der Küste Südamerikas so schnell, wie man geht: ein bis zwei Meter pro Sekunde. Doch wie anders ist es in der Tiefe! Das Wasser des Golfstroms sinkt östlich von Island auf den Meeresboden. Dann wandert es in der atlantischen Tiefsee nach Süden, um Südafrika und steigt vor Indien wieder auf. Dieser Tiefseestrom fließt nur wenige Zentimeter pro Sekunde, hundertmal langsamer als an der Oberfläche! Das Meereswasser in der Tiefe bewegt sich kaum schneller als im sprichwörtlichen Schneckentempo. Das Wasser, das jetzt in Island absinkt, kommt erst in 15 Jahren vor Indiens Küste wieder an die Oberfläche – ein Strom unendlicher Ruhe! So ist es mit unserer Seele: An ihrer Oberfläche schaffen Gefühle, Emotionen und Gedanken fortwährend Bewegung und wechselnde Zustände. Nach einer Studie der Queens University in Kanada mit MRT-Scans wechseln wir im Alltag alle 10 Sekunden unseren Gedankenzustand.1 Das ergibt 6000 bis 8000 Gedankensequenzen pro Tag. Gegenüber diesen Schaumkronen des Bewusstseins zieht in der Tiefe ein ruhiger, mächtiger Strom in unerschütterlichem Gleichmaß. Wenn man ruhig wird und aus der Ruhe in die Stille weiterschreitet, dann versenken wir uns in diesen Tiefenstrom der Seele. Während zur Ruhe die Abwesenheit des Alltagsrauschens gehört, ist Stille Anwesenheit. Stille ist immer da, wird jedoch überlagert vom Auf und Ab, vom Getöse der Oberfläche. Wer sie erfährt, wird wohl zustimmen, welche schweigende Macht in ihr liegt. Sie lässt uns unsere Schwächen willkommen heißen. Es ist die Stille, die uns die Kraft schenkt, in den Stürmen unserer Zeit Kurs zu halten. Es ist diese Stille, die zur Antwort führt auf die heilige Frage, wer wir in unserem Kern sind. Arthur Zajonc beschreibt in seinem Buch über Meditation ‹Aufbruch ins Unerwartete› das «stille Selbst», das «Mysterium unserer tiefsten Identität».2 Dabei geschieht das Wunder, dass wir zu uns selbst kommen und zugleich in ein großes Gespräch, ein kosmisches Gespräch eintreten. Das Gefühl der Einsamkeit des Egos wandelt sich zur Ahnung der Einheit. Das ist das Ereignis der Meditation, dass wir tastende Schritte machen in ein Sein, in dem die Trennung von Ich und Welt sich beginnt aufzuheben.

Jungfrau Schmeichelei – Unhöflichkeit; Höflichkeit > Herzenstakt.
Die Raunächte
Was an Ostern ein Weg der Verwandlung, das ist an Weihnachten eine Zeit der inneren Geburt. Zu Ostern bilden die sieben Tage der Passion einen aufsteigenden Weg. Bei den zwölf Raunächten geht es – so meine ich – weniger um eine solche Ordnung. Wie bei den zwölf Tonarten oder den zwölf Tugenden zählt hier ein Nebeneinander und kein Nacheinander. «Zum Raum wird hier die Zeit» – dieses mythische Wort an den suchenden Parsifal gilt auch für die Raunächte. Deshalb beziehe ich hier nicht jeden Tag dieser heiligen Auszeit auf jeweils einen bestimmten Monat, wie andere Autoren und Autorinnen es tun. Vielmehr lade ich ein, sich an jedem Tag und in jeder Nacht dieser Zeit einer bestimmten Frage des seelischen Lebens zuzuwenden. Die Reihenfolge ergibt sich für mich aus dem Gestus der Tierkreisbilder. So gehört zum geflügelten Widder, der so weit oberhalb des übrigen Tierkreises zieht, das ‹Loslassen›, zum Löwen mit seinem Bruststern Regulus die Verwandlung des Herzens und zur Waage, die Mitte zu finden. In der Folge der Wesensglieder von der Physis über das Leben, die Seele und den Geist bieten sich für jeden Tag der Raunächte, in Anlehnung an die zwölf Tierkreisbilder vier Handlungen an: ‹Wunsch› für die Leiblichkeit, ‹Ritual› für das Leben, ‹Beobachtung› für die Seele und ‹Meditation› für den Geist. Jeweils inspiriert durch ein Tierkreisbild ergibt sich an den zwölf Tagen und Nächten der Weihnachtszeit zwölfmal die Gelegenheit, mit einem Wunsch, einem Ritual, einer Beobachtung und einer Meditation diese besondere Auszeit zu heiligen. Nun genauer:
Wunsch Mit einem Wunsch schlagen wir die Brücke zum Schicksal. In manchen Märchen heißt es über die Vergangenheit, sie sei die Zeit, «als das Wünschen noch geholfen hat». Es hilft noch immer – sofern es Wünsche des Ich sind und nicht des Egos. Die Wünsche, deren Erfüllung man ‹verdient›, sind Wünsche des Ich. Wünsche sind Einladungen. Man lädt sich selbst ein, sich auf die Erfüllung des Wunsches auszurichten, den Blick und die Gedanken für die Erfüllung zu schärfen. Es ist ein Auftrag an dein Unterbewusstsein, die Empfänglichkeit auf die Erfüllung dieses Wunsches zu richten. Es ist die Einladung an den Kosmos, an die Geister, die mit unserem Leben verbunden sind, an die Verstorbenen, dich zu unterstützen. Einen Wunsch zu fassen, bedeutet, den Mut zu haben, um Hilfe zu bitten. Dabei zeigt die Selbsterfahrung, dass es sich lohnt, einen solchen Wunsch schriftlich zu fixieren. Wie wäre ein Tagebuch, in das neben dem Blick zurück auch der Blick voraus notiert wäre? Zu diesen vier Verrichtungen der Seele fügen sich ihre drei Farben: Denken, Fühlen und Wollen. Sodass an jedem der zwölf Tage und Nächte der geweihten Nächte, der Raunächte es sieben Perspektiven, sieben Einladungen gibt, die man selbstverständlich nicht alle eingehen muss.
Beobachtung Mit der Wahrnehmung verankern wir die eigene Seele mit dem Leben der Natur. Ihr Leben, ihre Weisheit und Gelassenheit, ihre Langsamkeit werden zum Gefährten.
Ritual Mit dem Ritual verbinden wir die Kraft der Transformation mit dem Leben. Was wir verwandeln, das wird symbolhaft Wirklichkeit und manifestiert das Neue.
Meditation Mit der Meditation öffnen wir uns in der Tiefe unseres Geistes für die einzelnen Raunächte. Mit jeder Meditation verschieben wir die Grenzen unseres Bewusstseins, öffnen Türen zu den Kräften des Lebens, kommen innen und außen einander näher.
Außerdem lohnt es sich zu fragen, wie sich die Qualität jedes Tierkreisbildes an einer der Raunächte als Aufgabe, Übung oder Entdeckung im Denken, Fühlen und Wollen spiegelt. Im Ganzen eröffnet sich so die Einladung, täglich siebenfach das, was als Tierkreisbild am Himmel steht, im Innern auferstehen zu lassen. So bildet sich in der Seele in den zwölf heiligen Nächten ein innerer Tierkreis. Hier ist der Widder beschrieben, für die weiteren Nächte mag man sich am Ausdruck der weiteren Tierkreisbilder inspirieren lassen oder meinem Vorschlag folgen, den ich im jetzt erschienenen Buch ‹Die Rauhnächte feiern› ausgeführt habe.3

24. auf 25. Dezember – die erste Nacht – Widder – Lass los!
Ein Mann des Westens sucht nach dem Sinn des Lebens und hört, dass es in Japan einen Mönch gebe, der darüber etwas zu sagen habe. Also reist er um die halbe Welt und trifft in einer einsamen Klause den Weisen. «Du weißt den Sinn des Lebens?», fragt er den Mönch. Dieser nickt. «Zuerst trinken wir Tee, dann erzähle ich dir vom Sinn», so der Weise und verschwindet in seiner Küche. Ungeduldig wartet der Weitgereiste. Nach langer Zeit kommt der Mönch mit der Teekanne wieder und bittet den Fragenden, seine Tasse zu halten. Doch was passiert: Der Mönch gießt den Tee in die Tasse und hört, als diese vollgelaufen ist, nicht auf zu gießen. Der heiße Tee läuft dem Gast über die Hand. «Siehst du nicht, dass meine Tasse voll ist!», schimpft dieser. «So voll wie dein Geist! Wenn er leer ist, beantworte ich deine Frage!», erwidert der Mönch. Tatsächlich: Eine Welt, die sich so dramatisch verändert, ruft danach, sich ebenfalls zu verwandeln, um in ihr zu Hause zu sein. Jeder Schritt, den wir tun, beweist es: Du hebst einen Fuß, und für kurze Zeit balancierst du auf einem Bein, bis der Fuß neuen Grund findet. Jeder Schritt ist für einen Augenblick ein Loslassen. Loslassen kannst du das, wie die Schriftstellerin Anke Maggauer-Kirsche schreibt, was du liebst.4 Dabei ist ‹Loslassen› das Gegenteil von ‹Loswerden›. Wer loslässt, bleibt verbunden, aber nicht gebunden. Mit dem Loslassen des alten Jahres beginnen die Raunächte. Der geboren wird, sagt später: «Siehe, ich mache alles neu!» (Offb 21,5) Für das Neue Platz zu machen, es willkommen zu heißen, bedeutet, das Vergangene in Liebe loszulassen, und das bedeutet wiederum, zu ihm Ja zu sagen. Es bedeutet, noch einmal durch das vergangene Jahr zu wandern, um es dann abzuschließen und zu verabschieden.
Was waren die drei wichtigsten Begegnungen, Erfahrungen, Lernaufgaben? Was hast du gehen lassen, was empfangen dürfen? Was war der größte Schmerz, das größte Glück? Was hast du an dir kennengelernt? Bei jedem mögen es eigene Fragen sein, die so am Eingang der Rauen Nächte stehen. Was zählt: Je stärker die Energie ist, mit der wir das ausgehende Jahr befragen, desto reicher ist die Antwort.
Tierkreisbild Widder
Für das Loslassen steht am Nachthimmel der Widder. Mit diesem Bild beginnt der Tierkreis. Weit oberhalb der Tierkreislinie steht das kleine Bild und springt so beim Aufgang in die Sichtbarkeit. Als einziges Tierkreisbild ‹schwebt› er vollständig oberhalb der Sonnenbahn. Der Blick in die Kulturgeschichte bestätigt den Rang des Widders oder Schafs als erstes Bild der zwölf. 9000 v. Chr. begann die Menschheit, dieses Tier als eines der ersten zu domestizieren. Es ist das einzige Herdentier, das Kinder hüten können. Die enge Beziehung des Schafes zum Menschen ist in vielen Kulturen überliefert. So heißt im Hebräischen die Lieblingsfrau des Erzvaters Jakob ‹Rahel›, was zugleich ‹Mutterschaf› bedeutet. Dabei sind es polare Eigenschaften, die dem Schaf zugesprochen werden. Es ist das ‹Opferlamm›, das geduldig alle Leiden auf sich nimmt. Diese Ergebenheit darf man aber nicht mit Dummheit verwechseln, ein Klischee, das häufig mit dem Schaf in Verbindung gebracht wird. So berichten Schäfer aus den Alpen, dass Schafe vor dem Abgang einer Lawine unruhig werden und andere Weideplätze aufsuchen, wenn sich die Witterung ändert. Von der Weihnachtsgeschichte am Anfang, in der Hirten mit ihren Schafen als Erste von dem Ereignis erfahren, bis zur Johannes-Apokalypse am «Ende aller Tage» kommt das Schaf im Neuen Testament vor. Es bildet den Rahmen. Dieser große Zeitbogen zeigt sich auch in den Abbildungen des Widders. Immer wird er mit in die Vergangenheit gewendetem Kopf dargestellt. Er steht zwischen Vergangenheit und Zukunft – und zwischen Erde und Himmel. Denn im griechischen Mythos vom Goldenen Vlies kann der Widder fliegen und rettet so zwei Kinder vor dem Opfertod. Zu dieser himmlischen Seite des Widders gehört auch sein Fell. Es ist golden wie die Sonne, und erhaben über alle irdischen Werkzeuge, denn nichts kann es zerschneiden. So sehr das Schaf mit dem Weg des Menschen auf der Erde verbunden ist, das sesshafte Leben ermöglicht, so schildert der Mythos doch, dass es zugleich seine Heimat im Himmel hat. Der Widder schlägt die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erde und Himmel und ist deshalb Pate der ersten Raunacht. Dass das Lamm das Urbild des Opfers ist, fügt sich in das Bild, das wir hier zeichnen, denn Opfern ist die höchste Form des Loslassens.

Loslassen in Denken, Fühlen und Wollen
Im Kopf entspricht dem Loslassen der Perspektivwechsel: Lass eine gewohnte Vorstellung fallen und werde so frei für einen neuen, frischen Blick. Der französische Philosoph Jacques Derrida nennt das ‹geistige Gastfreundschaft›. Du lässt Altes los und bist offen für Neues, ja noch mehr, du kannst das Unbekannte willkommen heißen. ‹Aufbruch ins Unerwartete›, lautet dazu ein wunderbarer Buchtitel des amerikanischen Meditationsforschers Arthur Zajonc. Ein Beispiel für das Loslassen im Kopf: für eine Zeit die politisch polare Überzeugung still sich zu eigen machen.
Im Herzen bedeutet solch ein Perspektivwechsel, sich von festgefahrenen Gefühlen zu befreien. Ein Beispiel ist die muslimische Geschichte über Jesus: Jesus ging an einem Markt vorbei; ein toter Hund lag auf dem Wege, eine Gruppe stand um das Aas herum. Einer beklagte den Gestank, ein anderer die Hässlichkeit. Als nun die Reihe an Jesus kam, sprach er: «Die Zähne sind wie Perlen weiß.»
In den Füßen, im Willen loszulassen, bedeutet, Gewohnheiten zu verlassen. Einen anderen Weg zur Arbeit zu wählen, Alltagsroutinen freundlich zu verabschieden, alte Kleider, ungelesene Bücher zu verschenken. Let it go!
Gut zu wissen: Wie sehr das menschliche Gehirn fürs ‹Loslassen› gebaut ist, zeigen die Gliazellen, die mehr als zwei Drittel der gesamten Hirnmasse ausmachen. Der Hirnforscher Helmut Kettermann beschäftigt sich mit sogenannten ‹Hilferufen› von beschädigten Neuronen. Er zeigt, dass sich Gliazellen darum kümmern, unnötig gewordene Verbindungen abzubauen, um neu wachsenden Beziehungen Raum zu geben. Dein Gehirn ist für das Loslassen gebaut – es wartet darauf.
Wunsch: Wünsche sind die Antwort auf einen Mangel. Kann ein Wunsch nicht auch Antwort auf die Fülle sein? Wovon wünschst du dir, dass es gehen kann? Wovon willst du dich befreien, erleichtern? Welche Fesseln sollen sich lösen dürfen? Wo wünschst du dir neue Freiheit?
Ritual: Nimm eine Postkarte, die du aufbewahrt hast, eine Urkunde, ein Foto und schenke es den Flammen. Was fühlst du, wenn das Andenken in Rauch aufgeht?
Beobachtung: Nimm dir ein herbstliches Laubblatt vom Ast oder Boden und versenke dich in die Schönheit seiner Farben, seines Welkens. Es sind Farben des Loslassens.
Meditation: Nimm den Satz «Leid ist Schmerz, den wir festhalten»5 in die Mitte deiner Seele. Sprich ihn leise oder still und fühle seinen Sinn, fühle den Unterschied von Leid und Schmerz, fühle, wo du Schmerz festhältst, dich vielleicht darin manchmal wohlfühlst. Wandere durch die sieben Worte, als wären sie eine Landschaft. Dann lausche dem Nachklang. Der Konzentration und Sammlung folgt die innere Weite. Das ist der Weg vom Auge zum Ohr, vom inneren Sehen zum inneren Hören.
Für die zweite heilige Nacht folgt der Stier. Das Tierkreisbild ruft auf, den Willen zu wandeln – im Denken, Fühlen und Wollen, als Wunsch, Ritual, Beobachtung und Meditation. So geht es Tag für Tag, Nacht für Nacht weiter bis zu den Fischen. Sie rufen auf, zu lernen sich für das Neue zu öffnen!
Bilder ‹Tugenden›, Laura Summer, 2025. Mehr dazu in dieser Ausgabe unter Malerische Erforschung der Tugenden
Fußnoten
- Anne Craig in Queens Gazette, 13. July 2020.
- Arthur Zajonc, Aufbruch ins Unerwartete. Stuttgart 2010.
- In dem Buch von Wolfgang Held: ‹Die Rauhnächte feiern – 12 Schritte zu deinem inneren Sternenhimmel›, Stuttgart 2025, sind für alle zwölf Nächte bzw. Tierkreisbilder entsprechende Schritte vorgeschlagen. Man kann sie sich auch selbst aus der Anschauung der Tierkreisbilder schaffen. Der Text hier ist eine verkürzte Fassung aus dem Buch.
- Anke Maggauer-Kirsche, in Franziskanerkalender 2005, hrsg. von den Schweizer Kapuzinern, Olten 2004.
- Der Satz stammt vom Autor Deepak Chopra.








