Die Not der Freiheit

Anthroposophie als Erweiterung des Bewusstseins aufgefasst, schafft Konsequenzen für den sozialen Organismus. Der Initiator der Freien Bildungsstiftung, Thomas Brunner, setzt auf die Kraft der Zivilgesellschaft und sieht in ihr das primäre Verwirklichungsfeld der Methode der Anthroposophie.


«Eigentlich weiß unsere Zeit weder von der physischen Welt noch von der geistigen viel. Sie weiß eigentlich nur von dem, was sie sich selber ausdenkt. Wegen dieses Charakters unserer Intellektualität als einer Summe von Spiegelbildern war der Mensch des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen davon, etwas zu wissen von dem, was geistig hinter den Kulissen der Weltgeschichte vorging. Er erlebte jenen großen, bedeutsamen Umschwung nicht mit, der sich im Geistigen hinter der äußeren Weltgeschichte vollzog in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und er muss erst durch eigene Anstrengungen lernen, dass die physische Welt folgen müsse der geistigen Welt. Er wird es lernen müssen, denn wenn er es nicht lernt, wird die Not immer größer und größer werden und die Zivilisation wird über die ganze gegenwärtige zivilisierte Welt hin in Barbarei übergehen.»1

‹Eule und Mond› von Lora Vanetti

Die in sich eingesponnene Vorstellungs­haftigkeit des modernen Bewusstseins ist Freiheitsereignis und Not zugleich; sie gibt dem Menschen Selbstgewissheit und verstellt ihm doch durch ihre selbst erzeugten zivilisatorischen Konstruktionen den Blick auf die tiefer liegende – wesenhafte – Weltwirklichkeit. Das Erleben der Not des Getrenntseins kann ein Anfang zur Überwindung der gespensterhaft in Erscheinung tretenden zivilisatorischen Chimären sein, denn das Eingeständnis der Ohnmacht gegenüber den bedrängenden Weltinhalten des Vorstellungslebens kann – insofern die Ohnmacht in Demut ertragen wird – neues inneres Leben eröffnen. ‹Kann›, denn so sehr auch der logische Verstand die Sicherheit des gewöhnlichen Urteilens begründet, versagt doch diese Sicherheit gerade in der Not.

Besonders im Gespräch kann sich diese innere Öffnung vollziehen. So erlebte ich es kürzlich in den späten Apriltagen dieses Jahres. Wir saßen ernst im Gespräch über neueste, beklemmende Nachrichten aus der Tagespolitik zusammen, da weckte ein Blick durch das Fenster den Impuls, den Tag mit einem Spaziergang in die Abenddämmerung zu beschließen. Als wir auf offenem Feld beim Anblick des farbenprächtigen Sonnenuntergangs zur Ruhe kamen, da begannen sich unsere zuvor im Gespräch bewegten Gedanken zu klären. Besinnlich wendeten wir uns auf den Heimweg. Und als wir – zuversichtlicher gestimmt als beim Hinweg – durch den immer noch dämmrig erhellten Park nach Hause gingen, da erwartete uns ein kleines Wunder: Aufrecht-still auf der Krone einer noch nicht belaubten Eiche sitzend, blickte eine stattliche Eule aus dunklen Augen zu uns herab – und im Hintergrund leuchtete milde der aufgehende Vollmond durch die Äste. – Erst als wir weitergingen, erhob sich auch der Vogel und flog in die Tiefe der Nacht.

Entscheidend an diesem Erlebnis war, dass die Inhalte der bedrängenden Nachrichten nicht vergessen waren (wir hatten sie uns nicht ‹schöngeredet›), sondern sie waren wie von Wesentlicherem durchleuchtet, ihr beschränkt gültiger Charakter hatte sich durch ein höheres Licht offenbart. Gerade dieses «Ineinanderspielen, das Im-Kampfe-Zeigen des Schönen mit dem Hässlichen»2 erscheint als ein besonderes Signum des seelisch-geistigen Entwicklungsvermögens unserer – die Einseitigkeit des bloßen Verstandesdenkens erleidenden – Zeit, wiewohl die neue lichte Schönheit nur als Möglichkeit auftritt, ja vielleicht nur als Gnade. Es ist die Schönheit, die Friedrich Schiller bereits als Durchgang zu höherer Erkenntnis ahnte:

Nur durch das Morgentor des Schönen
Drangst du in der Erkenntnis Land.
An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
Übt sich am Reize der Verstand.

Doch erst in Rudolf Steiners wundervoller, unter den Titeln ‹Abendglockengebet› oder ‹Beim Läuten der Glocken› überlieferter Meditationsdichtung wird die Schönheit als Tor des ganzen im bloßen Tagesbewusstsein noch schlummernden Menschen schon in den ersten vier Zeilen eröffnet:

Das Schöne bewundern, [das Gewahrwerden des Geistes im Sinnenschein]

das Wahre behüten, [das Gewahrwerden des Lebens im Denken]

das Edle verehren, [das Gewahrwerden der Beziehung im Fühlen]

das Gute beschließen. [das Gewahrwerden der Verantwortung im Wollen]

Befreiung der Begriffe

Nicht Modelle oder allgemeine Handlungsanweisungen können die zivilisatorischen Altlasten verwandeln, sondern nur ein schrittweises Sich-Selbst-Wandeln, um für immer tiefere Wirklichkeitsschichten zu erwachen. Die blendende Macht des intellektuellen Vorstellungslebens darf nicht einfach ausgelöscht werden, denn in ihr befindet sich der ‹Schlüssel› zum Tor der höheren Welten. Hier liegt die umfassend bedeutsame Korrektur, die Rudolf Steiner der Erkenntnistheorie Immanuel Kants (1724–1804) angedeihen lässt: Die Vorstellung ist nicht allein das Produkt eines subjektivierenden Abstraktionsvorganges auf Basis eines sinnlichen Wahrnehmungseindruckes, sondern sie ist «nichts anderes als eine auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene Intuition, ein Begriff, der einmal mit einer Wahrnehmung verknüpft war und dem der Bezug auf diese Wahrnehmung geblieben ist. […] Die Vorstellung ist also ein individualisierter Begriff.»3

Eine ‹Phänomenologie›, die den Begriff nicht zuerst von seiner Vorstellungshaftigkeit befreit, d. h. die Vorstellung zum reinen Begriff ausbildet (läutert), würde nur Gegebenes replizieren, also wiederum nur subjektive Seeleninhalte projizieren. Hier urständet alles utopische Denken. Erst durch den reinen Begriff kann sich die Wahrheit der Wirklichkeit in der Seele aussprechen, weil der reine Begriff nicht mehr gerichtet (subjektiv gefärbt), sondern zum Okular rein seelisch-geistiger Wahrnehmungen werden kann. In Goethes ‹Anschauender Urteilskraft› war die Wahrheit des Objekts unmittelbar gegeben, weil Goethe den Läuterungsprozess durch eine Krankheit, die ihn an die Todesschwelle führte, schicksalhaft durchlebt hatte. Deshalb konnte er sagen: «Wahrheitsliebe zeigt sich darin, dass man überall das Gute zu finden und zu schätzen weiß.»4

Die Macht des intellektuellen Vorstellungslebens darf nicht einfach ausgelöscht werden, denn in ihr befindet sich der ‹Schlüssel› zum Tor der höheren Welten.

Das Normalbewusstsein aber ist in seiner Vorstellungshaftigkeit eingeschlossen, weshalb Rudolf Steiner ‹Goethes Weltanschauung› nicht phänomenologisch, sondern «nach der Methode Schillers»5 aufzuschließen unternimmt und gegenteilige Bestrebungen sogar vehement zurückweist6, da sonst die Geisteswissenschaft sich in typushaften Kategorien verfangen würde – ohne zu einer wirklichen Wesenserkenntnis zu führen. Denn: «Die Wirksamkeit des Organismus ist ohne unser Zutun da; wir finden dessen Gesetze in der Welt fertig vor, können sie also suchen, und dann die gefundenen anwenden. Die moralischen Gesetze werden aber von uns erst geschaffen.»7

Die aus dieser Klarstellung folgenden Konsequenzen für die Gestaltung des sozialen Lebens sind fundamental, denn die Idee des sozialen Organismus kann dann selbst nur Organ der Auffassung, nicht aber Inhalt der Gestaltung sein. In den Worten der Rechtsphilosophin Katrin Gierhake: «Rechtsprinzipien sind fundiert in der Grundeigenschaft des Menschen, neben einer biologisch-empirischen Existenz (homo phaenomenon) auch selbstbestimmtes Vernunftwesen (homo noumenon) zu sein. Bestimmte Folgerungen aus dieser Grundeinsicht sind für eine freiheitliche Rechtsgemeinschaft gedanklich notwendig und müssen auch aktiv in den Diskurs eingebracht werden – und zwar mit nicht geringerem Anspruch auf Gehör als (vermeintliche) Gewissheiten der Naturwissenschaften.»8 In diesem Sinne zeigt Rudolf Steiner auf, wie der Mensch mit dem Überschreiten der Schwelle nicht mehr der sozialen Welt als kalkulierender Betrachter gegenübersteht, sondern aus dem Erfassen der Zusammenhänge zu neuer Hingabe geboren wird: 1. im imaginativen Erleben von Warenproduktion, Handel und Konsumtion; 2. im inspirativen Erwachen für die Verhältnisse der Arbeit und 3. im intuitiven Vertrauen in die individuelle Fähigkeitsentwicklung jedes Menschen.

Die mächtigen anachronistischen Sozialstrukturen der Gegenwart sind letztendlich nichts anderes als die externalisierten Vorstellungen einer Menschheit, die ihre Subjektivität dogmatisiert, anstatt sie zu einem ästhetischen Sinn umzubilden. Doch je mehr Menschen den Schritt aus der Befangenheit ihres Vorstellungslebens in die freie ‹Sphäre des Interesses› gehen, um in ihrer irdischen Gestaltung der geistigen Welt zu folgen (siehe das Eingangszitat), umso mehr Menschen werden wiederum ihre Fähigkeiten fruchtbringend entfalten und im freien An-Erkennen des anderen Menschen eine neue Vertrauenskultur aufzubauen vermögen. Die Singularität des Lebenswerkes Rudolf Steiners liegt darin, dass er uns das Unvorstellbare denkbar gemacht hat.

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Heilfaktoren für den sozialen Organismus. Siebzehn Vorträge, gehalten in Dornach und Bern zwischen 20. März und 18. Juli 1920, Vortrag vom 21. März in Dornach, Dornach 1969, GA 198, S. 28 f.
  2. Rudolf Steiner, Die Sendung Michaels. Vortrag vom 23. November 1919 in Dornach, Dornach 1954, S. 54.
  3. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Dornach 1984, tb, S. 107.
  4. Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen. Nr. 15.
  5. Siehe: Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Und siehe die Ausführungen zu dieser Thematik in: Thomas Brunner, Einsicht & Initiative – Aspekte zur Sozialen Dreigliederung in methodischer Hinsicht. Berlin 2020, S. 53 ff.
  6. «Das, was Sie Phänomenologie nennen, haben Sie in die Anthroposophische Gesellschaft hineingetragen. Sie haben mir hier die Führung entwunden, indem Sie die Gelehrsamkeit hineingetragen haben. Deshalb haben Sie die Verantwortung für die Dinge, die hereingekommen sind. Die Gemeinschaft der Gelehrten hat die Phänomenologie hineingetragen.» Rudolf Steiner, Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft. Sitzung mit dem Dreissigerkreis. Stuttgart, Mittwoch, 31. Januar 1923 (Nachtsitzung bis zum nächsten Morgen), GA 259, S. 242.
  7. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Berlin 1984, TB, S. 195.
  8. Freiheit? – Freiheit!

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