Es ist ein Sonntag im norddeutschen Sommer. Seit Jahrzehnten praktizieren und transzendieren Menschen im ‹Gorlebener Gebet› Widerstand. Gorleben – das kleine Dorf im Wald an der Elbe, seit Mitte der 1970er-Jahre Inbegriff des Widerstands gegen die Atomindustrie, gegen das Menschenfeindliche schlechthin.
Eine junge Philosophin mit ihrem Kind auf dem Schoß spricht mitten im Wald, gegenüber dem Zwischenlager für verkapseltes, hoch radioaktives Material, von einer Ethik des Widerstands, die sich nicht gegen etwas richtet, aber den Menschen sehen möchte. Sie beschreibt dieses Sehen des Menschen als Kraft des Berührt-Werdens und Berührens, die jeden in seiner Andersheit von aller Fremdbestimmung befreit und das Mögliche wider die Bedingtheiten einen Anfang setzen lässt. Sie betet und predigt nicht, sie schaut in die Gesichter derer, ohne die hier vermutlich die größte Atommüll-Aufbereitungs- und Endlageranlage Europas entstanden wäre – und liest aus einem Gespräch mit Emmanuel Levinas: «Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken.»1
Sie drängt nicht im Sprechen, sucht keine Zustimmung, erscheint eher hörend und empfänglich; als würde sie die Begriffe von innen so abtasten, dass die Zuhörenden sich und ihre Motive in ihnen finden können – und kommt wieder zu Levinas: «Der Widerstand […] leuchtet im Antlitz des Anderen, in der vollständigen Blöße seiner Augen ohne Verteidigung, in der Blöße der absoluten Offenheit des Transzendenten. Hier liegt nicht eine Beziehung mit einem sehr großen Widerstand vor, sondern mit etwas absolut Anderem: der Widerstand dessen, was keinen Widerstand leistet – der ethische Widerstand. Die Epiphanie des Antlitzes weckt diese Möglichkeit (…).»2
Bild Kreuze des Gorlebener Gebets, Foto: Fatelessfear, CC BY-SA 4.0








