Das Hörende – das Sinnende – das Wollende

«Ich möchte meinem Lehrer Wilhelm Lehmbruck danken.» Mit diesem Satz beginnt Joseph Beuys am 12. Januar 1986 seine im Duisburger Lehmbruck-Museum gehaltene Rede anlässlich der Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises an ihn. Die beiden Künstler sind sich nie begegnet. Zwei Ausstellungen zu Beuys und Lehmbruck in Duisburg und Bonn widmen sich noch bis November dieser Beziehung.


Der Bildhauer Lehmbruck starb am 25. März 1919, 38-jährig. Der Aktionskünstler Beuys wurde am 12. Mai 1921 geboren und starb am 23. Januar 1986, elf Tage nach seiner Rede. In ihr hält er einen persönlichen Rückblick auf sein eigenes Werden, damit die von Lehmbruck aufgenommene «innere Botschaft» als zu schützende Flamme weiterreichend: «Alles ist Skulptur!»1

Abbildungen von Werken Lehmbrucks in einem Katalog, auf den er zufällig gestoßen war, hätten ihn veranlasst, sich «mit Plastik zu befassen». An dem an Lehmbruck wahrgenommenen Begriff von Plastik habe er etwas erlebt, was über den traditionellen Kunstbegriff hinausführt – die Erweiterung des Raumbegriffs durch den Zeit- und Wärmebegriff, und das habe ihn zur ‹Sozialen Plastik› geführt: «Das heißt, Plastik ist ein Begriff der Zukunft schlechthin.»

Ein Bindeglied auf diesem Weg ist Rudolf Steiners 1919, nach Ende des Ersten Weltkriegs verfasster Aufruf ‹An das deutsche Volk und die Kulturwelt›, in dem dieser dem Geistesleben für die Neugestaltung nach der Katastrophe den gleichen Rang zuspricht wie dem politisch-rechtlichen und dem Wirtschaftsleben. Beuys hatte bemerkt, dass Lehmbruck diesen zukunftsweisenden Aufruf kurz vor seinem Freitod noch unterzeichnet hatte, und Beuys erlebte dies als eine Art Vermächtnis.

Eine formale Beeinflussung durch Lehmbruck ist in Beuys’ Werken jedoch kaum zu erkennen. Vielmehr bemerkt er, dass Lehmbruck das «Erleben des Räumlichen am menschlichen Körper» auf einen nicht zu übertreffenden Höhepunkt führte, «der etwas Innerliches meint» und so zum Wendepunkt werden musste: «Das heißt, seine Skulpturen sind eigentlich gar nicht visuell zu erfassen. Man kann sie nur erfassen mit einer Intuition», die auf etwas verweist, das es bis dahin in der Skulptur nicht gab – «das Hörende, das Sinnende, das Wollende».

Mit diesem Hinweis klingt eine weitere Beziehung zu Rudolf Steiner an, der sich Beuys vermutlich gar nicht bewusst war. Steiner betont verschiedentlich im Hinblick auf die plastische Ausgestaltung der Kuppelräume des Ersten Goetheanum: «Wände […] haben in der bisherigen Kunst einen Abschluss bedeutet […] gegen die äußere Welt […]. Geisteswissenschaft soll durch das, was sie ist, geistig in alle Weiten hinausführen. Daher müssen Formen entstehen an den Wänden, als Skulpturenausbildungen und dergleichen, welche bewirken, dass die Wände im Anschauen der Formen, ich möchte sagen, sich selber vernichten, sodass man das Gefühl hat: Indem man in dem Bau lebt und den Blick lenkt bis zu den Formen, hat man in den Formen etwas, das in die Weltenweiten hinausführt.» (Vortrag vom 14.1.1916, in GA 288) Auch Steiner ging es um die erweiterte Wahrnehmung: «Es musste so sein, dass an einem Orte, in welchem in Gedanken dasjenige erklingt, was hinter der anthroposophischen Bewegung steht, auch in den Formen, welche die Zuhörer umgeben, den Malereien, die von den Wänden herunter sprechen, dasselbe zur Offenbarung kommt, was in den Worten, in den Ideen erklingt.» (28.12.1921, in GA 289)

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Erweiterte Wahrnehmung

Im plastischen Werk von Lehmbruck zeigt sich bei zunehmender Stilisierung der menschlichen Gestalt ins Allgemeine zum einen eine tiefe Verinnerlichung. Die Figuren ruhen ganz in sich, treten weder durch Blick noch Bewegung mit dem Betrachter in eine Beziehung, öffnen sich aber den erweiterten Sinnen: Der ‹Großen Sinnenden› kann man kaum anders als sinnend begegnen, die zartgliedrige ‹Kniende› lässt einen in sich selbst hineinhören und ‹Der Gestürzte› sich in sein Schicksal fügen. Lehmbrucks Gestaltungen sind weder naturalistisch noch abstrakt, sondern verweisen durch sich selbst auf Inneres – so wie Beuys mit seinen Materialien und Objekten Gegenbilder im Innern entstehen lässt: Das aus Möbeln, die auf Kupferplatten stehen, und aus verschiedenen Objekten arrangierte Raumensemble ‹Voglie vedere i miei montagne› («Ich will meine Berge sehen» – so ein letzter Ausruf von Giovanni Segantini) entzieht sich einer Deutung durch den Verstand, regt aber Assoziationen zu eigenen Lebenssituationen an, die sich zu archetypischen Bildern verdichten können.

Zum anderen greift Lehmbruck das klassische Motiv des Torsos neu auf: Die Menschengestalt erscheint wie verstümmelt und fordert den Betrachter auf, sie innerlich zu ergänzen. Mal konzentriert Lehmbruck den Blick schlicht auf die schöne Form des weiblichen Rumpfes, mal scheint es ihm um den mit der Verstümmelung verbundenen Schmerz zu gehen. Ein – in den Ausstellungen leider nicht gezeigter – früher, höchst fragiler ‹Torso› von Beuys könnte sich direkt auf Lehmbruck und die Tradition, in die sich dieser stellt, beziehen. Eine entscheidendere Parallelität ist aber wohl, wie Beuys durch Einhüllen in isolierenden Filz Musikinstrumente zum Verstummen bringt und so auf den «Innenton» verweist, der «physisch nicht in Erscheinung tritt».2

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In der Duisburger Ausstellung ist ein in Filz eingenähtes Cello zu sehen, versehen mit einem großen roten Kreuz. Mit seiner Aktion ‹Infiltration für Konzertflügel› griff Beuys die Situation der durch Contergan verstümmelten Kinder auf – «der größte Komponist der Gegenwart ist das Contergankind», das seine Kreativität nur nach innen entfalten kann.

Wie ein Gegenstück zu dem letzten, fragmenthaften ‹Weiblichen Torso› wirkt Lehmbrucks ‹Kopf eines Denkers›; beide gehören zu seinen letzten Werken: Der kahle Schädel mit der aufragenden Stirn bildet mit den Armstummeln ein Kreuz. Der Blick ist nach innen gerichtet – oder auf die linke Faust vor dem Herzen? Hier wird spürbar, was Beuys im letzten Satz seiner Rede andeutet: «Ich möchte dem Werk von Wilhelm Lehmbruck seine Tragik nicht nehmen.» Das Trauma des Krieges, Krankheit, gescheiterte Beziehungen haben ihn in eine tiefe Krise gestürzt, aus der er keinen Ausweg fand.

Wie Lehmbruck ging auch Beuys in der Mitte seiner 30er-Jahre durch eine schwere Krise, in der die Erfahrungen des Krieges ebenso nachwirkten wie das Scheitern einer Beziehung. Doch er konnte sich da herauswinden, auch mithilfe der Familie van der Grinten. Für ihn wurde diese Krise wie zum Okular für die Todeskräfte, die in der durch das rationale Denken bestimmten Gegenwartszivilisation wirken. Diesen stellte er sich und suchte sie denkend und handelnd zu überwinden. Für ihn begann die Plastik im Denken, das er aus der Bewegung heraus mit Wärme durchdrang und so mit dem Willen verband. «Ich denke sowieso mit dem Knie», lautet einer seiner lockeren Sprüche, der zugleich eine tiefe Selbstaussage beinhaltet.


Bundeskunsthalle Bonn: ‹Beuys – Lehmbruck: Denken ist Plastik›

Lehmbruck Museum Duisburg: ‹Lehmbruck – Beuys: Alles ist Skulptur›

1 Joseph Beuys, ‹Infiltration-homogen für Cello›, 1966–1985, Courtesy Céline Bastian, Berlin, © Joseph Beuys Estate/VG-Bildkunst, Bonn 2021, Foto Bastian Geza Aschoff, 2021 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH.

2 Joseph Beuys, ‹Voglie vedere i miei montagne›, 1971, Van Abbemuseum, © Joseph Beuys Estate/VG-Bildkunst, Bonn, 2021, Foto © Collection Van Abbemuseum, Eindhoven/Niederlande, Peter Cox. Auf dem Jagdgewehr an der Wand, das auf ein Bild mit einem Vogel im Käfig zielt, steht «Denken».

3 Wilhelm Lehmbruck, Weiblicher Torso, 1918, Steinguss, Lehmbruck Museum, Duisburg, Foto Dejan Saric-a258e2-original-1624266146.

4 Porträt Joseph Beuys (Ausschnitt) © documenta archiv, Foto Dieter Schwertle, und Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (Ausschnitt), Foto cyan, Collage cyan-e541cb-original-1624263658.

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Footnotes

  1. Vgl. hier und im Folgenden: Joseph Beuys, Mein Dank an Lehmbruck. Eine Rede. München 2006.
  2. Beuys zu Georg Jappe, in: Georg Jappe, Beuys packen. Dokumente 1968–1996. Regensburg 1996, S. 241.

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