Das Ende der Eindeutigkeit

Am Phänomen ‹Transgender› und wie wir es heute in der westlichen Welt behandeln, wird klar: Wir haben das Ende der Eindeutigkeit erreicht, wir sind in der Vielfalt angekommen und in der Komplexität. Das ruft nach einem anderen Bewusstsein, auch dafür, wie wir miteinander sprechen und was wir voneinander erkennen wollen.


Offensichtlich drängt uns die Zeit immer mehr an den Punkt, wo die Eindeutigkeit von schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch, Mann oder Frau, solidarisch oder unsolidarisch nicht mehr gelten will. Und wir werden sehr laut damit. Die Erwähnung des Begriffs ‹Transgender› ruft heute vielfältige Reaktionen hervor: Desinteresse, Abscheu, Wut, Empörung, Abwehr, Angst, Verwirrung, Zärtlichkeit, Besorgnis, Begeisterung und sogar Freude. Das Phänomen verdeutlicht das Ausmaß unserer Vielfalt und Komplexität. Ist das der Grund, warum wir so leidenschaftlich darauf reagieren? Irgendetwas an diesem Thema berührt uns tief, ob wir nun direkt davon betroffen sind oder nicht. Was will sich hier zeigen? Transgender geht noch mal stärker metaphorisch und im wahrsten Sinne des Wortes an die Substanz, an jenes, was als gottgegeben und bisher unantastbar galt: unser Körper und die damit verbundene Gewissheit, dass wir mit ihm leben müssen. Hier nun gerade überschreiten wir eine echte Schwelle: Ich kann plötzlich nicht mehr nur dem Schein nach verändern, sondern bis in einen physischen Umbau hinein, als was ich in der Welt stehen will und wie ich von ihr angeschaut werden möchte. Und vielleicht kann sich damit auch grundlegend ändern, wie ich die Welt anschaue.

Jenseits der Meinungen

Für uns alle ist das Thema unbearbeitetes Land, ob der Dialog nun zwischen mir und meinem Körper oder mir und meinen Mitmenschen stattfindet. Wir werden plötzlich mit etwas Unerwartetem, Fremdem und Uneindeutigem konfrontiert. Das weckt Zweifel. Woran? An uns selbst? An den Denkgewohnheiten, die wir mit unserer Biografie geerbt haben? Es ist, als hätten wir unsere ‹Götter› verloren, die uns orientierende Bilder schenkten. Wir befinden uns plötzlich auf sehr wackligem Boden, ohne objektive Sicherheit, um uns zurechtzufinden. Was passiert, wenn wir an diesem Ort der Ungewissheit erwachen? Als Kind? Als Erwachsene? Was geschieht, wenn wir das Ende der Eindeutigkeit erreichen? Klammern wir uns reflexartig an vertrauten Boden, riskieren wir, unsere Gefühle zu begraben und unsere Meinungen zu verfestigen. Machen wir uns auf den Weg, unsere Einsamkeit, unsere Angst oder unser Grauen vor der Uneindeutigkeit zu beruhigen, könnten wir Solidarität finden, stoßen heutzutage aber auch auf Widerstände, die uns ins Argumentieren, Kategorisieren, ins Rechthaben oder Unrechthaben hineinziehen.

Vielfalt artet in Spaltung und noch mehr in Abwehrhaltung aus. Ich kann mich nicht erklären; ich verstehe nicht; ich kann keine Gegenargumente finden, die einen Unterschied machen. Das Licht wird aus mir herausgesaugt. Wie aber kann man einem schwarzen Loch entkommen? Vielleicht ist es die Erkenntnis: Das schwarze Loch ist auch in mir. Irgendetwas in dieser Zeitsituation fordert mich heraus, mich selbst zu behaupten, mein eigenes Licht zu tragen, darauf zu vertrauen, dass ich meine Perspektive verdiene, wie andere die ihre auch. Perspektiven sind keine Meinungen, sondern einfach die einzigartigen Positionen, die wir alle in der Welt als Geburtsrecht haben. Sie ermöglichen durch das Leben, das wir geführt haben, jetzt zu einer Begegnung miteinander zu kommen. Auf diese Weise mache ich mir mein schwarzes Loch zu eigen. So transzendiere ich es. Meine Perspektive nimmt Gestalt an, ich fange an, sie zu spüren, meine abwehrenden Meinungen werden weicher und lösen sich auf. Ich stehe einfach da, mit dir, in der Dunkelheit. Wir sind alle Galaxien.

Schöne Unsicherheit

Worin liegt also der Gewinn, vielleicht sogar die Schönheit der Uneindeutigkeit? Lassen Sie sich diese Frage einen Moment auf der Zunge zergehen, wenn Sie sich trauen. Dann können wir vielleicht erkennen, dass der Moment der totalen Ungewissheit, dieses schwarze Loch ohne Ausweg, der einzige Ort ist, an dem die guten, schönen und wahren Fragen leben und echtes Interesse geboren wird. Was uns zurück ins Licht führt, ist nicht, unsere Differenzen zu lösen, sondern gemeinsam herauszufinden, wie wir überhaupt hierhergekommen sind. Neugier (und ein wenig Humor) stellen ein schwarzes Loch in den Schatten. Wenn ich neugierig bin, bin ich ich selbst. Ich kann nur aus meinen eigenen Fragen heraus neugierig sein. Doch worauf ich neugierig bin, ist die andere Person. Wie siehst du es? Was ist für dich wichtig? Interesse, Aufmerksamkeit und Neugierde regen die Fantasie an. Entdeckerfreude ist Lebensfreude. Es ist eine dreifache Bewegung: von der Präsenz über die Verletzlichkeit bis hin zur Neugierde als Handlung. Gegenwärtig zu sein, erfordert klares und wahrheitsgetreues Denken. Verletzlich zu sein, bedeutet, die Angst zu spüren und trotzdem dorthin zu gehen. Die schöne Frage zu stellen, ist die Handlung, die die Mauern des Widerstands auflöst. Werden Sie neugierig! Beginnen Sie bei sich selbst!

Neuer Glaube

Woher kommt also meine Fähigkeit, Ungewissheit zu ertragen? Religionen bieten das Konzept des Glaubens an eine höhere Macht, die ich außerhalb meiner selbst verorte. Stehen wir nun an einer Schwelle zum Selbst-Hervorbringen? Das neue Vertrauen liegt vielleicht gerade in meinem befähigten Willen, mich zu überwinden und den Begegnungsraum eigenständig zu bereiten. Dort erfasst sich das Bewusstsein selbst neu. Das Ende der Eindeutigkeit heißt auch die Ankunft der unmittelbaren Wahrnehmung des Gegenübers, jenseits von Agenda und Meinung. Das ist, wie auf rohen Eiern zu laufen, die man nicht zerbrechen will, weil sich das Ungeborene in ihnen verbirgt – jenes, von dem wir noch nicht wissen, wie es werden will. Vielfalt zu leben, bedeutet also, sie zu vollziehen, sie zu performen, sie zu inkorporieren. Wenn das Ich geschlechtslos ist, wie es heißt, liegt in ihm die Möglichkeit, individuell zu bleiben und trotzdem ein Gespräch zu beginnen in der Vielfalt, der Komplexität, den Erscheinungen der Unsicherheit. Damit gelangen wir nicht an ein Ende, sondern an einen Anfang. Was also fängt nach dem Ende der Eindeutigkeit an?


Bild Frey beim Malen ihres Selbstporträts, Foto: Gilda Bartel.

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