Historische Studien und geschichtliche Wirklichkeit
‹Ökoprodukte für Nazis›, so hat das Nachrichtenmagazin ‹Der Spiegel› einen Artikel in seiner Ausgabe vom 5. September 2025 überschrieben. Im Untertitel heißt es: «Im Konzentrationslager Dachau experimentierte die SS mit anthroposophischen Methoden und Mitteln – unter Einsatz von Zwangsarbeit. Auch die Naturkosmetikfirma Weleda spielte dabei eine Rolle.» Fotografien von Rudolf Steiner und Margarete Himmler, der Ehefrau des SS-Chefs, waren zu sehen, sodann ein Logo der Weleda, Sigmund Rascher und ein anderer SS-Arzt bei Menschenversuchen an KZ-Häftlingen in Dachau, Fotos von Häftlingen bei der Zwangsarbeit, von Gebäuden des Dachauer SS-Betriebes der Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung (DVA) – und ein Bild der Historikerin Anne Sudrow. Die Reportage diente als werbewirksame Vorankündigung zu ihrem Buch ‹Heil Kräuter Kulturen. Die SS, die ökologische Landwirtschaft und die Naturheilkunde im KZ Dachau›, das wenige Wochen später beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschien und dem Nachrichtenmagazin vorab zugänglich gemacht worden war.
Ein «Netzwerk von AnthroposophInnen in der SS»?
In seinem Artikel referiert der ‹Spiegel›-Autor Stefan Hunglingern aus der Monografie, geht aber auch mit der Historikerin über das Gelände der ehemaligen DVA-Anlage. Er betont mit ihr, dass es innerhalb der SS ein aktives «Netzwerk von AnthroposophInnen» gegeben habe, bestehend aus biologisch-dynamischen Landwirten, Gärtnern und einem SS-Arzt (Sigmund Rascher), die im Kontext des KZ Dachau nicht Opfer, sondern Täter gewesen seien und eigene Interessen verfolgt hätten. Basierend auf den vermeintlichen Forschungen des «Hellsehers» Steiner seien bereits in den 1920er-Jahren profitable anthroposophische Unternehmen entstanden (darunter der Arzneimittelhersteller Weleda); insbesondere die biologisch-dynamische Landwirtschaft habe dann in der Nazi-Zeit die besondere Förderung der SS erfahren, namentlich als Instrument zur Bewirtschaftung des neuen «Lebensraumes» nach den Eroberungen in Osteuropa im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Im DVA-Betrieb der SS in Dachau hätten der ehemalige Chefgärtner der Weleda, Franz Lippert, und ein weiterer Gärtnerkollege der Weleda, Erich Werner, botanische Studien auf dem riesigen, von Häftlingen bewirtschafteten Areal durchgeführt; Lippert sei dabei ebenso wie der SS-Arzt Rascher, der grausame Menschenversuche (Unterdruck und Kälte) im Versuchsblock 5 des KZ machte, mit der Weleda verbunden gewesen. Das damals agierende anthroposophische «Netzwerk» innerhalb der SS sei bis heute gezielt «verschleiert» worden; Konsumenten von Demeter- oder Weleda-Produkten sollten sich, so Hunglingern und Sudrow, bewusst sein, welche menschenverachtende Förderung deren Herstellern vor nicht langer Zeit zuteilgeworden sei und welche Kollaboration mit dem NS- und SS-Gewaltstaat den moralisch belasteten Erzeugnissen zugrunde liege. Lässt man sich, so die implizite ‹Spiegel›-Aussage, mit Demeter oder der Weleda ein, so wird man zum späten Nutznießer der NS-Konzentrationslager, der Arbeitskraft, des Blutes und der Asche unschuldiger Menschen.
Nicht aufgearbeitet und verschleiert?
Bis auf wenige Einzelheiten beschreibt der Artikel Sachverhalte, die seit Jahrzehnten durch historische Studien und Publikationen bekannt sind – allerdings in gezielter Zuspitzung und tendenziöser Interpretation. Die Weleda-Frostcreme-Lieferung an Sigmund Rascher im Januar 1943 wurde Anfang 1981 durch Götz Aly publik gemacht. 1991 bis 1993 publizierte Arfst Wagner in fünf Bänden ‹Dokumente und Briefe zur Geschichte der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus› aus staatlichen wie privaten Archiven (Band III: ‹Biologisch-dynamische Wirtschaftsweise. Materialien über Sigmund Rascher›). Uwe Werner berücksichtigte 1999 alles ihm bis dahin zugängliche Material zur Beziehung zwischen dem Reichsverband für biologisch-dynamische Landwirtschaft und Gartenbau und der SS sowie der DVA, auch zu Franz Lippert und Sigmund Rascher in seiner umfangreichen Monografie ‹Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus›. Zahlreiche weitere Publikationen zu Lippert und der DVA folgten, darunter die Arbeit von Jens Ebert, Tanja Kinzel, Meggi Pieschel und Kristin Witte (2021). Im Frühjahr und Frühsommer 2024 sowie im Frühsommer 2025 (zwei Monate vor der Monografie Sudrows) sind schließlich drei umfangreiche Bände zur biodynamischen Bewegung in der NS-Zeit sowie zur anthroposophischen Ärzteschaft und zu den anthroposophischen Arzneimittelherstellern (1933–1945) erschienen – als Ergebnis mehrjähriger Forschungsprojekte und unter Mitbeteiligung wissenschaftlicher Fachbeiräte ohne jeden Bezug zur Anthroposophie. Das dokumentarische Material, soweit es der Anthroposophie nahestehende Personen oder Institutionen betraf, ist damit weitestgehend schon vor Anne Sudrow ebenso umsichtig wie kritisch aufgearbeitet, und nicht etwa gezielt «verschleiert» worden.
Verdienste und Entgleisungen einer von öffentlicher Hand geförderten Studie
Von bleibendem Wert an Sudrows Buchpublikation – im Impressum mit den Logos der KZ-Gedenkstätte Dachau, des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Bayrischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur versehen – sind die Ausführungen zur DVA-Anlage in Dachau, zur Entstehungsgeschichte und zum Kontext des ausgedehnten Betriebes, in dem in erster Linie Gewürz- und Heilkräuter in großem Umfang angebaut, erforscht und vertrieben wurden, unter Einsatz von bis zu tausend Zwangsarbeitern (KZ-Häftlingen). Von bleibendem Wert sind auch Sudrows eindringliche Schilderungen und Zeugnisse der harten Arbeitsbedingungen der Häftlinge sowie der konkreten Forschungsprogramme, die in der ab April 1940 überwiegend biologisch-dynamisch bewirtschafteten Pflanzenanlage betrieben wurden, darunter die botanischen Studien Franz Lipperts. Sudrow hat diese Programme erstmals im gesamten Umfang rekonstruiert. Die Autorin sieht die DVA-Anlage in Dachau nicht nur als Zentrum der wissenschaftlichen Lehre und Forschung im Bereich des ökologischen Land- und Gartenbaus in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch der «Alternativmedizin» und der «Neuen Deutschen Heilkunde». Mit dieser medizinhistorischen Einschätzung schießt sie sehr wahrscheinlich über ihr Ziel hinaus; zweifellos richtig ist dagegen, dass die SS unter Himmler sich als Elite verstand, das Mandat für die operative Siedlungspolitik in den von Deutschland eroberten Gebieten hatte – und in ihren DVA-Gütern Grundlagenarbeiten und Praxistests in dieser Perspektive durchführen wollte. Zu den vordringlichen Interessen Sudrows gehören dabei Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin aus der biologisch-dynamischen Bewegung, die ein unterschiedliches Verhältnis zur Anthroposophie hatten, aber mit ihr in einer Beziehung standen.
Vorurteile
Für Anne Sudrow ist die anthroposophische Geisteswissenschaft, das Lebenswerk Rudolf Steiners, nichts anderes als ein «theosophisches Dogmengeflecht»1; Steiner habe mit der «Autorität des Hellsehers» nicht eigentlich unterrichtet, namentlich keine Methoden, sondern auf esoterische «Wissensübertragung» gesetzt, was Quellenkritik und Kontextualisierung von vornherein ausschließe.2 Auch der Landwirtschaftliche Kurs in Koberwitz bei Breslau als Ausgangspunkt der Demeter-Initiative (Juni 1924) sei lediglich von «AnhängerInnen» besucht worden und habe ein «Glaubensbekenntnis zur Anthroposophie» vorausgesetzt.3 Für Sudrow stehen bei Steiners Anregungen und Vorschlägen, darunter im Bereich des ökologischen Landbaus, «anthroposophische Glaubensfragen» im Mittelpunkt.4 Auch die landwirtschaftlichen Präparate und ihre Herstellung beruhe auf «quasi religiösen Glaubenssätzen».5 Nach Koberwitz seien die biologisch-dynamischen Landwirte, gemäß den Forderungen Steiners, «naturmystischen Praktiken» nachgegangen und hätten im Kornfeld sitzend meditiert. Die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise sei eine «okkulte Version» des Ökolandbaus,6 zeichne sich durch ein «spekulativ-esoterisches Vorgehen» aus7 und werde (bis heute) nur von Menschen ausgeübt, die zuvor eine Schulung in «anthroposophischen Glaubensgrundsätzen und Denkweisen» durchlaufen hätten,8 mit «magischen Praktiken» und «abergläubischen Verwendungen von Pflanzen in der Tradition des Paracelsus»9. Es habe nie eine originär wissenschaftliche Tätigkeit im Bereich der biologisch-dynamischen Landwirtschaft gegeben; vielmehr sei von Steiner seiner «Glaubensgemeinde» der Auftrag erteilt worden, «die eigene Arbeit in scheinbar naturwissenschaftlichen Begriffen an die übrige Welt zu vermitteln, um deren esoterische Wurzeln zu verschleiern».10 Es gehe dabei lediglich um einen naturwissenschaftlichen «Anstrich»,11 um eine «religiöse Esoterik im Gewand von Naturwissenschaft»12. Die Präparate der Demeter-Bewegung seien bis heute wie die gesamte Praxis des biologisch-dynamischen Landbaus ohne jeden Wirksamkeitsnachweis geblieben; ergebnisoffene Studien seien nie publiziert worden. Vielmehr arbeite die gesamte Bewegung «esoterisch» und in der Tradition «geheimer Schulen» mit «verborgenem» Wissen, eine «Lehre», in die «neu Hinzukommende per Lehrer-Schüler-Verhältnis und durch meditative Techniken […] eingeweiht» würden.13
All diese Behauptungen Sudrows haben mit der geschichtlichen Wirklichkeit und aktuellen Lebenspraxis der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, ihrer Arbeit, ihren Inhalten, Methoden und ihrer wissenschaftlichen Forschungslage nichts zu tun. Sie verzerren und karikieren die Realität bis zur Unkenntlichkeit – und diffamieren die weltweit in diesem Bereich arbeitenden Menschen.
… in fragwürdiger Tradition
Da für Sudrow Menschen, die mit der Anthroposophie ideell und praktisch umgehen, mit einem Stigma behaftet zu sein scheinen, etikettiert sie sie stets als solche; die Arbeiten «anthroposophischer Historiker» und «anthroposophischer Biografen» sowie alle von «anthroposophischen Stiftungen» geförderten Forschungsprojekte sind demnach per se nicht ernst zu nehmen, da sie aus einer sektiererischen Subgruppe der Gesellschaft kommen und folglich nicht im Dienst der Wahrheitsfindung sondern ihrer Verbergung oder Umdeutung wirken. Bewusst oder unbewusst bewegt sich Sudrow in ihrer diskriminierenden Vorverurteilung nicht nur im Kontext der zeitgenössischen Anthroposophie-Kritik, sondern in weitaus älteren deutschen Traditionen. Wer die Berichte des Sicherheitsdienstes der SS im Rahmen der Überwachung von Anthroposophen oder Anthroposophie-Verdächtigen liest oder auch nur die letzte, bilanzierende Schrift des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) über «Die Anthroposophie und ihre Zweckverbände» (1941), findet dort nicht nur Sudrows Vorstellung von okkulten «Geheimkreisen» und «Geheimlehren» Steiners wieder, sondern auch die Überzeugung von einflussreichen anthroposophischen «Netzwerken», die nach Macht streben und im Untergrund des zeitgeschichtlichen Geschehens wirken würden. Was sich dagegen in diesen Berichten nicht wiederfindet, ist Sudrows Behauptung, die NS-Ablehnung der Anthroposophie habe ihren Grund darin, dass die anthroposophische Weltanschauung «völkischen Gedanken in großen Teilen nahestand und Überschneidungen mit den gesellschaftlichen Zielen der NSDAP aufwies».14 In allen Überwachungsberichten und NS-Gutachten, auch bei Alfred Baeumler, steht vielmehr das genaue Gegenteil – die Anthroposophie lehne die Rassenlehre ab, sei nicht biologisch und nicht völkisch, sondern individualistisch, pazifistisch und menschheitlich orientiert, dazu judenfreundlich. «An Hand dieser Feststellungen muss die Überzeugung vertreten werden, dass die Anthroposophie in jeder Erscheinungsform – sei es die Christengemeinschaft, eine landwirtschaftliche, ärztliche, pädagogische oder künstlerische Methode – als der nationalsozialistischen Weltanschauung entgegenstehend eine Gefahr für die einheitliche nationalsozialistische Ausrichtung des deutschen Volkes darstellt, die nicht unterschätzt werden darf», so die Einschätzung des Reichssicherheitshauptamtes von 1941.15
In «anthroposophischen Studien» noch nie beschrieben?
Dass einzelne Anthroposophen in den DVA-Betrieben mitarbeiteten (in Absprache mit den leitenden Funktionären des Reichsverbandes unter Führung von Erhard Bartsch und Franz Dreidax), sei nach Sudrow in «allen Publikationen der anthroposophischen Auftragsforschung» verkleinert, umgedeutet oder «konsequent verschwiegen» worden.16 Sudrow präsentiert ihre Studie selbstbewusst als erste «geschichtswissenschaftliche Korrektur des reinen Opfernarrativs der AnthroposophInnen»,17 die als solche kein Interesse an einer Aufklärung hätten. Auch die freie Entscheidung von Lippert, in der DVA Dachau in leitender Position mitzuarbeiten, sei «in anthroposophischen Studien» in ihr Gegenteil verkehrt worden;18 selbst die «engen Verbindungen» Sigmund Raschers zur Anthroposophie seien «bislang nicht angemessen berücksichtigt» worden.19
Susanne zur Nieden, Meggi Pieschel und Jens Ebert haben in ihrem Buch ‹Die biodynamische Bewegung und Demeter in der NS-Zeit›, das im Rahmen eines eines dreijährigen Forschungsprojektes im Auftrag der Landwirtschaftlichen Sektion am Goetheanum, des Demeter-Bundesverbandes und der Biodynamic Federation – Demeter International entstand und am 2. Juli 2024 in der Topografie des Terrors in Berlin vorgestellt wurde (mit Anne Sudrow im Auditorium), in ausführlichen Kapiteln den Weg der biologisch-dynamischen Landwirte im NS-Staat beschrieben.20 Sie zeigen darin unter anderem auf, wie einflussreiche Gruppierungen den agrarpolitischen Dirigismus des NS-Staates und die Industrialisierung der Landwirtschaft mit aller Macht vorantrieben, maximale Leistungserträge und Effizienz im agrarischen Bereich forderten, eine aggressive nationale Expansionspolitik befürworteten und die «Ernährungssicherheit» der Bevölkerung nur mit Kunstdünger gewährleistet sahen. Zusammen mit anthroposophiekritischen NS-Ideologen, behördlichen Fachkreisen und Vertretern der Gestapo sowie des SD drängten diese Gruppierungen seit 1933 auf das Verbot des biologisch-dynamischen «Außenseiters und Provokateurs»; auch der Reichsnährstand, die ständische Organisation der Agrarpolitik und -wirtschaft im Deutschen Reich, führende Agrarwissenschaftler und das Gros der Mitarbeiter des Landwirtschaftsministeriums lehnten den biologisch-dynamischen Landbau ab. In dieser Situation und kurz vor ihrem Verbot stehend versuchten die biologisch-dynamischen Landwirte bzw. ihr Verband unter Erhard Bartsch, Beziehungen zu industrie- und kunstdüngerkritischen Kreisen innerhalb der NSDAP sowie zu einflussreichen Anhängern der Naturheilkunde und der durch biologische Verfahren erhofften «Volksgesundheit» in Partei- und Regierungskreisen zu knüpfen, was ihnen in der Folge auch gelang und ihre Weiterarbeit ermöglichte. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs favorisierte Heinrich Himmler in der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, falls deren Evaluierung positiv ausfallen sollte, eine kunstdüngerfreie Option für die Güter in den zu erobernden Gebieten Osteuropas. Erhard Bartsch versagte sich dieser Zusammenarbeit nicht, sondern sah diesbezügliche Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten als aussichtsreich an, wie bereits von Uwe Werner 1999 kritisch herausgearbeitet wurde.21 Obwohl viele Bemühungen der Demeter-Funktionäre nach der reichsweiten Gestapo-Aktion im Juni 1941 scheiterten, der Reichsverband verboten wurde, Erhard Bartsch und andere Landwirte im Gefängnis inhaftiert wurden und der biologisch-dynamische Landbau agrarpolitisch keine Chance mehr hatte, hielt Himmler im Rahmen seiner SS-Hoheit über die DVA-Güter an seinem Vorhaben fest und sorgte trotz Heydrichs Veto dafür, dass einzelne Fachleute der biologisch-dynamischen Bewegung die Umstellung der DVA-Güter betrieben und deren Methoden dort überprüft wurden. Der gravierenden Problematik dieser Kollaboration sind zur Nieden, Pieschel und Ebert in ihrer Studie im Einzelnen nachgegangen, auch der Unkenntlichmachung des Kontextes von Lipperts und Künzels Dachauer Pflanzenforschungen in Publikationen nach 1945. Von den zwölf von Sudrow beschriebenen biologisch-dynamischen Fachleuten, die für die DVA arbeiteten, waren zur Nieden, Pieschel und Ebert bereits zehn bekannt; durch die akribischen Dachau-Studien von Sudrow kamen zwei weitere Personen zum Vorschein. Von der Interpretation dieser zehn oder zwölf im Sinne eines strategisch operierenden «Netzwerkes von AnthroposophInnen in der SS» (Sudrow) aber sind zur Nieden, Pieschel und Ebert zu Recht weit entfernt, ohne die Problematik der Mitarbeit in irgendeiner Weise abzuschwächen.
Der Fall Rascher
Nicht nur die Verbindungen Sigmund Raschers zur Anthroposophie sind – entgegen den Behauptungen Sudrows – 2024 im ersten Band der Studie ‹Anthroposophische Medizin, Pharmazie und Heilpädagogik im Nationalsozialismus 1933–1934› (im Auftrag der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte Deutschlands und der Medizinischen Sektion am Goetheanum) auf der Grundlage von allem bisher zugänglichen Quellenmaterial von P. Selg, S. H. Gross und M. Mochner bereits detailliert (weit ausführlicher als von Anne Sudrow) beleuchtet worden.22 Dasselbe gilt für Raschers Tätigkeit im KZ Dachau (im Anschluss an Julien Reitzenstein und die gesamte bisher vorliegende Literatur dazu). Analysiert wurden auch bereits Raschers Beziehungen zum anthroposophischen Arzneimittelhersteller Weleda, seine Stellung innerhalb der anthroposophischen Ärzteschaft sowie zu denjenigen Menschen, die mit den naturwissenschaftlichen Methoden Ehrenfried Pfeiffers und Lilly Koliskos im Dornacher Glashaus und an anderen Orten arbeiteten. Wie schon seit Jahrzehnten bekannt, hatte Rascher das Verfahren der ‹empfindlichen Kristallisation› in der Zeit seines Basler Medizinstudiums im Arbeitszusammenhang um Ehrenfried Pfeiffer erlernt und brachte es später damit zu einer Promotion und zu zwei Publikationen in der angesehenen ‹Münchener Medizinischen Wochenschrift›, die in den Kreisen der anthroposophischen Ärzteschaft und der Weleda für großes Interesse sorgten. Sudrows Behauptung, Pfeiffers Methoden seien in den akademischen Naturwissenschaften «mangels beweiskräftiger empirischer Wirksamkeitsstudien stets abgelehnt» worden,23 ist wissenschaftlich nicht haltbar. Dafür, dass Rascher ab Frühjahr 1939 in engen Kontakt mit Heinrich Himmler kam (über Raschers Partnerin Karoline Diehl) und zum KZ-Forscher mit brutalsten Menschenversuchen avancierte, können Pfeiffers biologische Untersuchungsverfahren schwerlich haftbar gemacht werden; sie haben mit Raschers Kälte- und Unterdruckversuchen an Häftlingen nicht das Geringste zu tun. Sigmund Rascher distanzierte sich immer mehr von der Anthroposophie, die er bereits in seinem Elternhaus kennengelernt hatte. In seiner Dachauer KZ-Zeit zeigte er unter anderen seinen Vater, den anthroposophischen Arzt Hanns Rascher, bei der Münchner Polizei an, rief auch die Gestapo auf den Plan und beschuldigte seinen Vater unter anderem der Beziehungen nach Dornach zum Zentrum der Anthroposophie24 – sehr wahrscheinlich zur eigenen Absicherung, da Himmler zwar die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise erproben wollte, aber (wie Reinhard Heydrich) in der Anthroposophie und in Steiner überaus gefährliche Faktoren sah.
Sigmund Raschers Publikationen in der ‹Münchener Medizinischen Wochenschrift› waren der anthroposophischen Ärzteschaft und der Weleda bekannt, man wusste dort aber auch um seine gravierende Persönlichkeitsproblematik, die bereits vor seiner engen Beziehung zu Himmler, seinem Eintritt in die SS-Forschungsgemeinschaft ‹Ahnenerbe› und seinem Arbeitsbeginn im KZ Dachau manifest war, wo er dann zum ‹Herrn über Leben und Tod› wurde. Ein prahlerisches Auftreten mit Zügen des Größenwahns, ein narzisstisches Geltungsbedürfnis und eine latente Gewaltbereitschaft, auch Drohungen mit Himmler und der NS bestimmten Raschers wenige erhalten gebliebene Korrespondenzen mit anthroposophisch orientierten Ärzten, die Abstand von ihm (und der SS) hielten. Mit der Weleda wechselte Sigmund Rascher einige noch erhaltene Briefe, deren Interpretation aufgrund des fehlenden Kontextes nicht einfach ist; dass Rascher, wie Sudrow behauptet, eine «wichtige Vermittlerrolle» zwischen der SS-Führung und den anthroposophischen «PraktikerInnen» gespielt habe,25 ergibt sich aus den Dokumenten nicht – eher das Gegenteil. Die Behauptung, dass «ab 1939 zwischen dem Unternehmen Weleda und Rascher Erfahrungswissen für seine Berichte an Himmler und seine Experimente im KZ Dachau zirkulierte»,26 ist ebenso aus der Luft gegriffen; damit überinterpretiert Sudrow in vorsätzlicher Zuspitzung eine Anfrage Raschers an verschiedene biologische Arzneimittelfirmen (darunter die Weleda) vom Juli 1939 über die Wirksamkeit eines Kohlepräparates, für das sich Heinrich Himmler interessierte.27 Mit der These, dass sich in der Tätigkeit Raschers «eindeutig persönliche Einflüsse und fachliche Bezüge zu Entwicklungen und weltanschaulichen Prämissen der anthroposophischen Medizin feststellen» lassen, wie Sudrow ebenfalls in ihrer Bilanz postuliert – und dass Raschers Arbeiten weiter in der Anthroposophischen Medizin «genutzt» würden28 –, geht sie ebenfalls völlig fehl. Allein Raschers Publikationen in der ‹Münchner Medizinischen Wochenschrift› zur Methode der ‹sensiblen Kristallisation› (Pfeiffer/Kolisko) werden noch in entsprechenden Publikationsübersichten berücksichtigt. Was auch sonst?
Weleda in der NS-Zeit: «Vielfältige Kontakte zur DVA und zur SS»?
Sudrow zufolge habe die Weleda ihre «vielfältigen Kontakte zur DVA Dachau und zur SS» für die eigene Rohstoffbeschaffung genutzt – und umgekehrt habe die DVA die Bestellungen der Weleda als «Anerkennung des biologisch-dynamischen Charakters ihrer Produkte» gesehen,29 wovon ebenfalls keine Rede sein kann. Der in der Literatur beschriebene Dissens zwischen der Weleda und Franz Lippert, der die Weleda verließ und über Umwege nach Dachau kam, wurde Sudrow zufolge erfunden – und zwar zur «Distanzierung und Entlastung des Unternehmens und der Verschleierung der in Wirklichkeit sehr vielfältigen und zahlreichen Verbindungen des Unternehmens mit der SS und dem KZ Dachau».30
In der im Juli 2025 veröffentlichten, über 580 Seiten umfassenden Studie zur Weleda (und WALA) in der Zeit des Nationalsozialismus dokumentieren Selg, Gross und Mochner den über weite Strecken eindrucksvoll resistenten Kurs der Weleda-Unternehmensleitung unter den schwierigen Lebens- und Überlebensbedingungen des NS-Staats. Die Weleda wahrte ihre Unternehmensidentität und ideelle Zielsetzung, passte sich in ihrer Unternehmenszeitung (mit einer Auflage bis zu 80 000 Exemplaren) und ihren Mitarbeiterfortbildungen in Sprache und Diktion in keiner Weise den Prämissen des Nationalsozialismus und der ‹Neuen Deutschen Heilkunde› an – und ging trotz Verhören und Firmendurchsuchungen (wegen des anthroposophischen Hintergrunds des Unternehmens) einen eigenständigen Weg, zumindest teilweise im Schutz des Schweizer Konsulats. Die politischen Beziehungen des biodynamischen Reichsverbandes unter Leitung von Erhard Bartsch sah die Weleda-Direktion überaus kritisch,31 wie auch weite Teile der anthroposophischen Ärzteschaft32. Der Dissens der Weleda mit Franz Lippert ist nicht erfunden worden, sondern fand real statt und hatte mit Lipperts Doppelfunktion als Leiter des Kräutergartens der Weleda und als Auskunftsstellenleiter für den Reichsverband zu tun.33
Im April 2024 und im Juli 2025 haben Selg, Gross und Mochner Dokumente aus dem Weleda-Archiv publiziert, aus denen hervorgeht, dass Lippert Anfang 1942, vier Monate nach seinem Dachauer Arbeitsbeginn, mit dem Heilpflanzenexperten der DVA, Rudolf Lucaß, nach Schwäbisch Gmünd kommen wollte. Die deutsche Weleda-Direktion reagierte daraufhin keineswegs enthusiastisch; vermutlich aber fand der Besuch statt. Eine Samenbestellung der Weleda von Echinacea angustifolia bei der DVA in Dachau (September 1941) und eine kostenlose Lieferung von Weinlaub aus dem Außenlager Heppenheim (Sommer 1942) sind ebenfalls knapp dokumentiert und bilden – neben der Testung eines Weleda-Tierarzneimittels auf DVA-Gütern und der gelieferten Frostcreme im Januar 1943 – die schmale dokumentarische Grundlage dessen, was Sudrow die «sehr vielfältigen und zahlreichen Verbindungen des Unternehmens mit der SS und dem KZ Dachau» nennt. Aufgrund eines Besprechungsprotokolls konnte nachgewiesen werden, dass der kaufmännische Direktor der Weleda, Fritz Götte, Franz Lippert einmal bei der DVA aufsuchte und sich nach seiner Rückkehr überaus kritisch im Weleda-Leitungskreis äußerte – mutmaßlich über die Lebenswirklichkeit der DVA-Anlagen mit den Häftlingszwangsarbeitern des angrenzenden KZ.
Vom Umgang mit der Vergangenheit
Die näheren Umstände der Weleda-Frostcreme-Lieferung an Sigmund Rascher konnten dagegen trotz intensiver Recherchen bis heute nicht aufgehellt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Götte und seine Leitungskollegen mit einer experimentellen Wirksamkeitsprüfung durch Rascher rechneten, der vorhatte, verschiedene Präparate zur Heilung von Erfrierungsfolgen vergleichend zu testen und am 13. Dezember 1942 einen entsprechenden Forschungsantrag stellte.34 Ob der deutschen Leitung der Weleda Anfang 1943 bekannt war, dass Rascher die Kälteschäden selbst produzierte, ist nicht klar; auch nicht, ob die Präparate der Weleda (und anderer Hersteller) zur Behandlung der Schäden je von ihm eingesetzt wurden.35 Spätestens vier Jahre nach der Lieferung, im April 1947, aber wusste man bei der Weleda durch den Bericht über den Nürnberger Ärzteprozess von Mitscherlich/Mielke (‹Das Diktat der Menschenverachtung›) von den grausamen Kälte-Experimenten Raschers. Wie die Firmenleitung damit umging, ist nicht klar; Anfang der 1980er-Jahre von Götz Aly mit ihrer Frostcreme-Lieferung konfrontiert, verleugnete sie jedes Wissen um die SS-Stellung Raschers, der die Lieferung an seine Privatadresse bestellt habe.36
Bereits die Wiederbegegnung der Weleda-Leitung mit Franz Lippert Anfang 1947 im Rahmen einer Tagung zu biologisch-dynamischen Fragen war belastet gewesen. Wie von Selg, Gross und Mochner dokumentiert, schloss die Weleda-Leitung dennoch einen temporären Beratervertrag mit Lippert, dessen Fachkompetenz die Firma dringend benötigte. Sudrows Behauptung, dass die Firmenleitung keinerlei Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit mit ehemaligen DVA-Mitarbeitern – Lippert und Künzel – nach 1945 gehabt habe,37 entspricht jedoch nicht der geschichtlichen Wirklichkeit. Die moralischen Vorbehalte waren vielmehr groß; Lippert hatte von Göttes Kritik nach seinem DVA-Besuch gehört und fühlte sich wegen seiner Mitarbeit in Dachau von der Weleda mit Misstrauen behandelt – obwohl ein ehemaliger Häftling und Zwangsarbeiter sich bei der Weleda persönlich für seinen außerordentlich menschenfreundlichen und protektiven Umgang mit den Häftlingen verbürgt hatte. Scham und Beschämung waren aufseiten der Weleda-Leitung durchaus vorhanden (offenbar jedoch nicht bei Lippert); dennoch entschied sie sich zum Kompromiss mit ihm, der jedoch von kurzer Dauer war. Der Mitarbeiterin Lipperts in Dachau, Martha Künzel, verweigerte Götte dagegen aufgrund ihrer DVA-Tätigkeit eine feste Mitarbeit, war jedoch an ihren Dachauer Versuchsergebnissen im Bereich der Pflanzenzüchtung interessiert – und ging damit nach 1945 einen weiteren Kompromiss ein. Der Name Dachau wurde in Unterlagen geschwärzt – und nach Lipperts frühem Tod 1949 die zeitweise Wiederannäherung an den ehemaligen Chefgärtner aus dem Firmengedächtnis gestrichen.38
«Ökofaschismus» und Feindbilder
Der Umgang mit der eigenen Geschichte in der NS-Zeit und den Dilemmata, in die die Weleda trotz ihres eindeutig anti-nationalsozialistischen Kurses geraten und den Kompromissen, die sie eingegangen war, fiel den Leitungspersönlichkeiten über viele Jahrzehnte und bis in die jüngste Vergangenheit schwer. Das Unternehmen war nicht den Widerstandsweg der Weißen Rose gegangen – und doch meilenweit vom Verhalten der NS- und KZ-Profiteure des IG-Farben-Komplexes und anderer deutscher Firmen entfernt.39 Von Teilen der Presse seit Anfang der 1980er der Mitarbeit am «Ökofaschismus» bezichtigt, verlegte sich die Weleda-Leitung darauf, ihre NS-Resistenz herauszustellen, was ihr am Ende jedoch nicht weiterhalf – und verpasste den Zeitpunkt für eine differenzierte Aufarbeitung des eigenen Widerstands- und Kompromissverhaltens. Durch Anne Sudrow und den ‹Spiegel› ist das Unternehmen nun einmal mehr ins mediale Visier geraten, obwohl von dem anthroposophischen Arzneimittelhersteller in der 692 Seiten umfassenden Dachau-Monografie kaum die Rede ist.
«Inhaltliche Irrtümer bleiben die meinigen», schreibt Frau Sudrow am Ende ihrer Studie. Es wäre schön gewesen, wenn einige der genannten «Irrtümer» und Behauptungen auch bei ihr geblieben wären; sie hat sie aber nicht zufällig weitausstrahlend präsentiert und propagiert. Es liegt eine unübersehbare Tragik im kollaborierenden Verhalten von Menschen wie Erhard Bartsch, Franz Lippert, Martha Künzel und anderen, auch wenn sie sich keines direkten Verbrechens schuldig machten und von einem Wohlwollen des NS-Staats gegenüber der Anthroposophie keine Rede sein kann; es liegt aber auch eine Tragik über einer Historikerin, die für die Erforschung der NS-Zeit mit vollem Einsatz arbeitet, dabei jedoch mit unübersehbarer Aggressivität neue, diskriminierende Feindbilder generiert. Dies ist mit Nachdruck zu bedauern, angesichts wichtiger Aspekte von Sudrows verdienstvoller Arbeit zur DVA in Dachau, aber auch im Hinblick auf das Ansehen der Weleda und der Demeter-Arbeit, ja, der Anthroposophie in der Öffentlichkeit. Zu hoffen bleibt, dass eine differenzierte Aufarbeitung der viel komplexeren geschichtlichen Wirklichkeit sich am Ende durchsetzt.
Fußnoten
- A. Sudrow, S. 593.
- Ebd. S. 513.
- Ebd. S. 56.
- Ebd. S. 564.
- Ebd. S. 59.
- Ebd. S. 567.
- Ebd. S. 611.
- Ebd. S. 253.
- Ebd. S. 314.
- Ebd. S. 593.
- Ebd. S. 511.
- Ebd. S. 25.
- Ebd. S. 512.
- Ebd. S. 80.
- Zweckverbände, 1941, S. 48.
- A. Sudrow, S. 567.
- Ebd. S. 28 und S. 237.
- Ebd. S. 552.
- Ebd. S. 645.
- S. zur Nieden, J. Ebert, M. Pieschel, 2024, S. 111 ff. Vgl. dazu a. bereits P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2024, S. 443–470.
- U. Werner, 1999, S. 279 ff.
- Vgl. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2024, S. 651–670.
- A. Sudrow, S. 331.
- Vgl. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2024, S. 625.
- A. Sudrow, S. 646.
- Ebd. S. 646.
- Vgl. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2024, S. 661 f.
- A. Sudrow, S. 647.
- Ebd. S. 541.
- Ebd. S. 547.
- Vgl. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2025, S. 264–280.
- Vgl. ebd. S. 452–470.
- Vgl. ebd. S. 277–281.
- Vgl. ebd. S. 667.
- Vgl. J. Reitzenstein, Himmlers Forscher. 2014, S. 177.
- Vgl. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2024, S. 339 f.
- A. Sudrow, S. 567.
- Vgl. P. Selg, S. H. Gross, M. Mochner, 2025, S. 329–341.
- Vgl. ebd. S. 69–81.








