Eine Zusammenschau, wie sie mit Kant ein intuitiver Verstand hat, eine Zusammenschau aller Dinge und aller Dinge wiederum in ihrer Totalität wäre für den Menschen wohl zu viel.
Die Erkenntnis eines intuitiven Verstandes, der in einem Schlag die gesamte Zeitlichkeit, ihren Ursprung, ihren Inhalt und ihr Ende erfasst, ist wohl etwas, das dem Menschen nicht widerfahren sollte. Er würde aufhören, Mensch zu sein, weil eine Grenze überschritten würde. Wir würden wiedereintreten in die höhere, himmlische Welt und alle würden uns fragen, was denn nun mit der Erde würde. Verwundert würde man uns anschauen, fragend, wozu wir uns die Zusammenschau aller Dinge haben aneignen wollen. «Was hat euch dazu getrieben, so zu schauen, wie nur manche Engel schauen? Wo seid ihr Menschen nun geblieben? Was ist dem All von der Menschlichkeit geblieben?» Nicht wütend, aber verwundert und etwas irritiert, würde man uns anschauen, nicht wissend, wie dieses Malheur in den gesamten Weltenplan sich einfügt. Vielleicht würde es nicht lange dauern und wir würden zurückgeschickt. Dies Sehen aller Dinge, die sich in der Zeitlichkeit entfalten; alle ihre Gestalten, Entwicklungsstufen und Entschlüsse in einem Mal zu erfassen, wie ein endgültiger Glockenschlag, der in der Mitte der Welt als ihr letzter Ton erschallt, in dem die Welt anfing und endet in einem Augenblick; dies Sehen würde uns um unsere Menschlichkeit bringen. Wir müssten dafür unsere Menschlichkeit lassen, nicht, weil wir böse würden. Wir würden nur unsere Gestalt und unser Leben als Menschen verlieren. Es gäbe keinen Alltag mehr, keine Krankheit, keine Fußballspiele unserer Kinder, keine Blätter, die im Herbst vom Baum fallen, keinen Tod, keinen Applaus nach einer Aufführung, kein Im-Juli. Es gäbe nichts, das sich in der Zeit ereignen muss, weil wir alles in einem ewigen Blick zusammenhielten. Wir schauten nur die Ewigkeit mit geöffneten, lider-losen Augen, aus denen reines Licht hervorbricht. Wir vernähmen Seinen Klang, Sein Wort und ewig wären wir eingefügt in Seinen goldenen Reigen, der um Ihn ist. Es ist dies eine Ahnung der fernen Zukunft, die aus unserer Vergangenheit naht, in der wir nicht mehr als Menschen leben, sondern anders. Unsere Menschlichkeit ist nicht gemacht für die große Zusammenschau. Wir dürfen Einzelnes sehen, vieles; dürfen die Zeit ablaufen sehen, uns mit Konkretem beschäftigen. Gebunden an Situationen gestalten wir unser Miteinander. Wir dürfen eine Perspektive unter vielen haben. Die Menschlichkeit ist an eine Welt gebunden, die irgendwann vergeht. Von der Erde aus blicken wir zum Himmel, wo die Zeit aufhört und die Ewigkeit die Wirklichkeit durchhallt, wo die Ewigkeit sich zur Erde neigt. Die Sonne, dies Fenster zum Licht, geht über uns auf und es ist menschlich, den Tag zu erblicken.
Bild Ulrich Schulz, ‹Hoffen›, 2013. Messer, Spachtel. Leinwand, Leim, Asche, Marmor, Edelsteinpulver, Pigmente, Pflanzenfarben.