Modell für Balanceakte

Rudolf Steiner als Geretteter

In der Belletristik gibt es die rhetorische Figur der erlebten Rede. Andreas Laudert nutzt hier dieses Mittel, um sich Rudolf Steiner anzunähern.


Das zwischen Bericht und Selbstgespräch schillernde Stilmittel, das die Bewusstseinsinhalte des in der dritten Person Sprechenden im Präteritum ausdrückt – als sei ‹er› oder ‹sie› man selbst –, macht Vergangenes im Ich neu gegenwärtig. Der Begriff birgt eine tiefere Schicht: Gerade Steiner erlebte, worüber er redete, er sprach nicht über, sondern aus etwas. Wer das Gehörte nicht in sich lebendig machte, hatte es nicht verstanden. In das Erleben eines anderen können wir uns, in aller Vorsicht, dann hineinversetzen, als wären wir dieser Mensch, wenn wir ihn ernst nehmen. Wer solches durchmachte wie Steiner, kann uns in der Frage nahekommen: Was, wenn man selbst damit konfrontiert worden wäre? Wir treten in eine andere Beziehung zu ihm, wenn wir prüfen, wie wir gehandelt hätten, hätten wir seelisch all das zu tragen gehabt, und wenn wir seine Sache geistig als auch die unsere verstehen. Dadurch wird nicht ‹menschlich› indiskret Steiner zu uns verkleinert, vielmehr wird die Größe der Aufgabe deutlicher. Gewiss hat dieses ‹als ob› Grenzen, wenn wir uns konkrete Ereignisse ausmalen, etwa, wie Steiner 1916 vom Gerüst zu stürzen drohte und ihm Edith Maryon geistesgegenwärtig das Leben rettete. Doch gerade im Erleben dieser Grenze spricht sich etwas Öffnendes aus: zart, verbindlich, kosmisch. Auch wir bleiben in unseren Kämpfen und unserem Schaffen, ob im Scheitern oder im Erfolg, darauf angewiesen, dass die Welt unser Wesen erkennt, dass jemand da ist und unser Ringen antizipiert. In manchen Situationen liegt auch das Scheitern im Erfolg und der Erfolg im Scheitern. Es bleibt ein Balanceakt, ein Kampf um das Gleichgewicht zwischen Höhen und Tiefen, dem Eigenen und dem anderen …


Er spürte, wie er fiel. Wie er das Gleichgewicht verlor. In dieser Sekunde schnurrte die Zeit jäh zusammen auf einen Augenblick. Er war plötzlich nur noch reine menschliche Schwäche. Ein Körper, dem die Glieder nicht mehr gehorchten. Ein Meister, der einen wichtigen Schritt nicht mehr meistern konnte. Ein auf Rettung angewiesener Retter. (Wie frei fühlte sich sein Ungeschick gleichzeitig an!) Es schoss ihm eine Empfindung durch den Kopf. Ein Schicksalsgefühl umgab ihn plötzlich, wie eine Hülle. Erinnerungen dehnten sich weit aus in die Zeit, er wankte eine Ewigkeit lang und doch nur im Bruchteil einer Sekunde. In wie vielen seiner Vorträge war das menschliche Gleichgewicht Thema gewesen. An wie vielen Pulten hatte er gestanden und darüber doziert. In die Holzplastik, an der sie zusammen feilten und schnitzten, geschwisterlich, und die nun seinen Sturz provoziert hatte, dort war das Ausgleichende eingezogen, war es Zentrum: repräsentiert in der Christus-Gestalt, die zwischen den Extremen ruhig hindurchschritt, die einschritt, hellwach.

Gedanken im Fallen: Sie. Sie besaß das seelische Fingerspitzengefühl für was in der Luft lag. Was vorfallen würde. Ihre Hände waren doch geübt darin, die Zukunft herauszuplastizieren aus dem Holz, dem Stein, dem Material? Plötzlich lag sein Tod für Sekunden in der Luft … Sie musste im Geist mit ihm oben auf dem Gerüst gewesen sein, während sie unten arbeitete. Und er war innerlich schon bei ihr, als sie jetzt panisch ihr Werkzeug fallen ließ – ihr stummer Aufschrei – und hineilte, eilte wie der Engel … gab es nicht so ein Fresko? Er kam nicht auf den Namen … Niemand müsste es erfahren. Wie er aufgefangen wurde. Von einer Frau, der Freundin, ihren sehenden Händen. Kein Zufall, dass ausgerechnet sie ihn nun hielt, dass er zurückkehrte aus den Gedanken und sich wiederfand in ihrem Arm. Im Geruch eines Arbeitskittels. Der Blick ihrer Augen, der unendlich erleichterte. Standen Tränen darin? Im Bruchteil derselben Sekunde richtete sie ihn diskret wieder auf. Ach, sie brauchte doch nicht die Augen niederschlagen …! Material für Gerüchte! Ja, durfte der Meister sich fallen lassen? Hätte er das nicht vorhersehen können?

Es gab Leute, die heimlich so dachten. Voyeure des Alltags, die sich ausmalten, wie es wohl klang, als er schrie. Gaffer, die das Hohe erniedrigt sehen wollten, die sich am Sturz und an Unfällen anderer labten. Die keine Ahnung hatten vom Leben. Davon, wie herrlich es ist, die Balance zu verlieren, um sie wiederzufinden. Sie nicht für immer zu haben. Alles ein Balanceakt: das Schicksal, die Freiheit, das Dasein. Überleben? Modell stehen für Balanceakte! Das hieß Anthroposoph sein! Wäre das Malheur in der Öffentlichkeit passiert, welche Gedanken hinter vorgehaltener Hand hätte er sich – nun ja – gefallen lassen müssen … Wie sie einander erschrocken angesehen hatten. Wie sie nun beide innehielten. Er strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, die eine, die immer dorthin fiel bei den Vorträgen. Er war vermutlich bleich vom Schock, oh, und sie auch. Jetzt der warme, ernste Druck ihrer beider ineinander gefalteten Hände. Sie dankten sich beide, auch sie ihm. Wie geschickt er gefallen sei, las er in ihren Augen. Wie gerufen sie deshalb hatte da sein können … Sie mussten jetzt lachen. Befreit. Jetzt konnte man weitermachen.

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