Die Erziehung des Rudolf Steiner

Das Schauspiel Stuttgart zeigt die neue Produktion des britisch-irischen Theaterkollektivs Dead Centre. Noch bis Mitte Dezember ist dort ‹Die Erziehung des Rudolf Steiner› zu sehen.


In der Hauptrolle ein Kind, das über den ganzen anderthalbstündigen Abend den roten Faden webt und die Temperatur bestimmt, die einem sofort zu Herzen geht! Manche mögen kurz an Saint-Exupérys ‹Kleinen Prinzen› oder Michael Endes ‹Momo› denken: Sofort ist der ganze Saal zum spontanen Dialog aufgeschlossen mit einem sehr jungen Menschenwesen, das sich in erstaunlich souveräner Weise direkt an die zahlreichen Ich des Publikums wendet. Selten bin ich im Theater so bald Teil eines komplexen Geschehens geworden, in so natürlich vereinnahmender Weise.

Neben ein paar Ausrutschern ins Krasse, ein paar der scheinbar unverzichtbaren, gängigen Klischees, wenn’s um Waldorfschule und Anthroposophie geht, sind es in erster Linie geglückte theatralische Kunstgriffe, die den Abend unter Buch und Regie von Dead Centre (Ben Kidd, Bush Moukarzel) bestimmen. Den Bühnenhintergrund bildet ein raumgreifender Spiegel, in dem sich bereits vor Beginn das gesamte Publikum live spiegelt. Manche winken ihrem Spiegelbild zu und blinken mit ihrem Handy. In den Szenen wird diese Spiegelfläche immer wieder transparent und lässt dahinter auf eine weitere Realitätsebene blicken, die mit der vorderen kausal verknüpft ist. Diese Fantasiewelt bzw. Geistwelt ist konkreter Teil des dramatischen Geschehens und macht eindringlich deutlich, was dieses Kind erlebt beziehungsweise wie es hinter der physischen Wirklichkeit eine weitere Wirklichkeitsebene wahrnimmt.

Die Entwicklung des Kindes und Rudolf Steiners Biografie werden in eindrücklichen Sequenzen verschmolzen, die Ebene der Erwachsenen wird durch zwei Paare dargestellt, ein kinderloses und die Eltern des Bühnenkindes Flinn. In den beiden Paaren wird die aktuelle Elterngeneration beispielhaft dargestellt. Jeder und jede im Publikum fühlt sich irgendwann in typischen Situationen gesehen und erkannt. Theater at it’s best! Der Abend strotzt von packenden Theatermomenten, artistisch gekonnt, mal heiter, mal komisch, mal dramatisch, mal tragisch. Goethes ‹Faust› wird oft und treffend zitiert, Shakespeare ist latent anwesend. Eine sympathische Wärme zwischen Bühne und Publikum bestimmt die Atmosphäre. Im Schlussapplaus kommt das nachdrücklich und von Herzen zum Ausdruck! Ein erstaunlicher Abend!

Durch Flinn erfahren wir nach und nach, was hinter dem Wort An-thro-po-so-phie steckt, nicht etwa flapsig oder gar zynisch, sondern mit kindlichem Ernst und vor allem in klärenden Bildern, die weit mehr und Umfassenderes sagen können als ein überbordendes Textgeschwurbel. So hat man einen wirklichen Theaterabend unter Einsatz feinster, dem Zirkus eigenen Mittel. Man wird gleichermaßen leiblich, seelisch und geistig angesprochen, in mentaler, emotionaler und auch ganz haptisch-dynamischer Hinsicht ergriffen durch fantasiereiche szenische Virtuosität. Ein ausverkauftes Haus voller Erwartungsspannung wird als Erstes befragt: Warum kommt ihr hierher? Warum kommt ihr immer wieder hierher? Warum eigentlich geht ihr ins Theater? Warum schaut ihr euch das eine oder andere Stück sogar mehrmals an? Nach anderthalb Stunden weiß man darüber erheblich mehr! Einprägsame Bilder dieser Art erlauben es, komplexe Zusammenhänge im Nullkommanichts verständlich einzugliedern.

Die biografischen Momente driften nie in Historienklamotte ab, der Kontakt bleibt unmittelbar im Hier und Jetzt, geht uns direkt an und nimmt uns mit in die Zukunft. Die Waldorfschulgründung findet in Gegenwart Emil Molts statt und lässt ihre zentralen Anliegen in aufschlussreichen Kernsätzen aufleuchten. Wenn‘s die Waldorfschule noch nicht gäbe: Man müsste gleich ans Werk gehen, sie zu eröffnen!

Das Motiv des Brandes ist omnipräsent im ganzen Stück, eingangs exponiert durch eine Theaterzigarette, die sich das Kind coram publico ansteckt und dabei lässig kommentiert. Das entwickelt sich in der Schlussszene zum Brand des Ersten Goetheanum und zum Bild einer vor Problemen und Auseinandersetzungen in Brand geratenen Welt. Ein leiser Anflug von Wagners Götterdämmerung ist nicht weit. Große Bilder werden angerissen und entfacht. Es scheinen Dimensionen auf und werden nicht zu Ende formuliert. Es ist einiges an Denkanstößen geboten, an denkerischem Pluralismus, an Multiperspektiven, an Aufbruch hinaus aus dem eindimensionalen Mainstream, an Umdenken und Neuansätzen.

Ein lohnender Theaterabend. Eine Art Kompliment an das anspruchsvolle Vorhaben beziehungsweise Thema beziehungsweise Wagnis! Jedenfalls ein Abend von Relevanz.


Bild Schauspiel Stuttgart

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