Es heißt, vor Gott sind wir alle gleich. Nackt im Tempel stehend, werden wir der universellen Quelle in uns gewahr. An diesem letzten heißen Tag im September verabrede ich mich mit zwei Freundinnen an der Herzquelle, einem fast geheimen Ort am Rand von Weimar. Wir freuen uns schon auf die belebende Erfrischung. Wenig später stehen wir wie drei Nymphen um den Rand des Quellbeckens, das ein froher Geist einst herzförmig in die schöne Landschaft goss. Unsere Blicke schweifen über das kristallklare Wasser, wohl wissend, dass seine Temperatur nie über 8,5 Grad steigt. Ein kleiner Bergsee in der Stadt. Ich atme tief ein und aus, dann beginnt das Ritual. Eine jede von uns hat ihren eigenen Weg hinein in die Quelle – schnell und entschlossen, umkreisend herantastend, in drei Etappen und dann komplett. Heraus kommen wir ähnlich: glücklich, stolz, uns und die anderen für unseren Mut bewundernd. Während wir langsam wieder auftauen und die Lebendigkeit in jeder Zelle genießen, kommen andere Menschen in das kleine Tal. Auch bei ihnen ist kein Zugang gleich, der Respekt, die Überraschung, die Freude hat viele Gesichter. Am Ende steht einer der Männer bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Er ist unentschlossen, zögert, zweifelt, atmet stoßweise. Ich denke an die Überwindung, die es mich jedes Mal wieder kostet, auf den Grund hinabzusteigen. Ich lächle zu ihm hin und ich denke: An der Quelle sind wir alle gleich.
Bild Cornelia Friedrich, ‹Begegnung mit dem Licht›, 2012