«Ein Hammer sieht nur Nägel.» – Ein Ausspruch über die Macht von Narrativen. Eine Stimmung lenkt die Wahrnehmung, das Gefühl findet Heimat, das Urteil schnappt ein. In einer komplexen Welt sind solche Erzählungen verführerisch. Als Selffulfilling Prophecy bestätigen sich Stimmungen und zementieren ein Weltbild. Eine solche verbreitete Annahme ist, dass sich unsere europäischen Gesellschaften spalten würden. Stimmt das denn?
Die Polarisierung nehme zu, so der Tenor, und tatsächlich wird in deutschen Zeitungen das Thema ‹Spaltung der Gesellschaft› heute siebenmal häufiger angeschlagen als vor 20 Jahren, werden Brexit und US-Wahlkampf als Szenarien gemalt, die auch in Mitteleuropa angekommen seien.1
Kamel oder Dromedar
Der Soziologe Steffen Mau untersucht in seinem Buch ‹Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft›, ob das auch stimmt. Ist unsere Gesellschaft polarisiert, stehen sich einzelne Gruppen mit ihren Weltbildern immer offensiver gegenüber? Mau nimmt zur Illustration ein zoologisches Bild: Verhält sich die Stimmungslage heute wie der Rücken eines Kamels, also mit zwei Höckern als Bild zweier polarer Auffassungen, oder spiegelt vielmehr der Rücken des Dromedars die Meinungslandschaft: eine gehäufte Mitte mit schwachem Rand links und rechts? Um hier ein aussagekräftiges Bild zu gewinnen, konzentrierten sich Mau und seine Mitarbeitenden auf länger bestehende Meinungskonflikte und ließen Debatten wie den Nahostkonflikt oder den russischen Krieg beiseite. Anhand von vier Schauplätzen des Streits, vier dauerhaften Konflikten, ‹Arenen der Ungleichheitskonflikte›, wie Mau sie nennt, untersuchte das Team, ob die Gräben tiefer werden: Der Oben-Unten-Konflikt – der Streit um Verteilung zwischen Arm und Reich. Der Innen-Außen-Konflikt – der Streit um Zugehörigkeit und Fremdheit, um die Frage, wie offen eine Gesellschaft sein soll. Der Wir-Sie-Konflikt – der Streit um Anerkennung, Etablierte versus Außenseiter. Der Heute-Morgen-Konflikt – der Streit um Klimawandel und Ressourcenverbrauch.
Die Zahlen sagen anderes
Die Vorstellung, dass diese vier Konfliktebenen die Gesellschaft zerreißen, kann Steffen Mau in seiner Untersuchung nicht bestätigen. «Über die letzten 30 Jahre hat sich relativ wenig getan», fasst er beispielsweise seine Umfragen zur Migrationsdebatte zusammen.2 Eine große Mehrheit der Bevölkerung sehe positiv auf die Zuwanderung. Die Akzeptanz von Deutschland als Einwanderungsland habe, so zeigen die Umfragen, zugenommen. Nur etwa 20 bis 25 Prozent der Gesellschaft seien hier kritisch eingestellt. Der eigentlich Dissens liege vielmehr darin, wie die Zuwanderung gesteuert und wie die Integration bewältigt werde. Auch der wirtschaftliche Konflikt führe nicht zu Lagerbildung. Zwar würden 80 Prozent der Befragten das enorme Wohlstandsgefälle in Deutschland beklagen, aber daraus formiere sich kein Protest. Sonst würden linke Parteien, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, Mehrheiten finden – das tun sie aber nicht. Hier zeige sich, so die Umfrage, weniger der klassische vertikale Konflikt als vielmehr ein horizontaler.
Auch im dritten Feld, dem Streit um Anerkennung und Ausgrenzung, ist die Gesellschaft liberaler und ist die Akzeptanz für das andere größer geworden. Es ist nur 35 Jahre her, dass 50 Prozent der Bevölkerung Homosexualität als Krankheit verstanden, mit entsprechendem Ausgrenzungsverständnis. Was geblieben ist, so Mau, sei die «Erlaubnistoleranz»: Jeder dürfe sein, wie er wolle, man solle seine Andersartigkeit aber nicht zur Schau stellen. Auch im vierten Feld, dem Heute-Morgen-Konflikt, zeigt sich keine eigentliche Polarisierung. Nur etwa 10 Prozent der Gesellschaft leugnen den Klimawandel. Dass mehr Nachhaltigkeit nötig ist, sieht die überwiegende Mehrheit. Es gibt keinen Zielkonflikt, sondern vielmehr einen Verfahrenskonflikt. Nicht das Ob, sondern das Wie steht zur Debatte. Das erzeugt aber keine Gräben, sondern vielfältige Anschauungen. Mau ergänzt, dass all diese Konfliktfelder nicht mehr klassengebunden sind, also nicht systemisch. Wie kommt es aber dann zum Eindruck, dass sich unsere Gesellschaft polarisiert? Wovon sonst erzählen die Bilder wütender Demonstranten und die Gewalt gegen Plakataufsteller und Kommunalpolitikerinnen, wenn nicht von einer auseinanderdriftenden Gesellschaft?
Fahrradwege in Peru
Vor Kurzem behauptete ein Politiker, dass sich abgelehnte Asylsuchende ihre Zähne sanieren lassen würden und deshalb die Zahnarztpraxen keine Termine mehr hätten. Die Folge: ein medialer Aufschrei. Ein anderer polterte über «Radwege in Peru» als unsinnige Entwicklungshilfe. Ein dritter nannte im Interview die gegnerischen Parteien «Kartellparteien» – ‹Kartell›, das kennt man von der sizilianischen Mafia oder von den kolumbianischen Drogensyndikaten. Solche verbalen Überschreitungen und Falschaussagen werden mit Bedacht eingesetzt. Sie triggern wunde Stellen der Bevölkerung. Die springt darauf an und schon ist die Polarisierung da. «Gesellschaftliche Spaltung ist nicht vorhanden, sondern wird politisch und diskursiv erst erzeugt. Spaltung kommt von oben», sagt der Soziologe Mau. Er nennt es eine «Bewirtschaftung von Triggerpunkten durch Akteure», die die Meinungsklassen erst schaffen. Polarisierung durch Politisierung. Sollbruchstellen und Spannungszonen werden so von Politik und Medien mit den sozialen Medien als Brandbeschleuniger genutzt. Zu den Parteiverantwortlichen und Medienschaffenden, die hier Feuer legen, kommen jene, die aus der Polarisierung der Gesellschaft ein Geschäft machen.
Eine wunde Gesellschaft
Mau erinnert hierbei an die Aktion des Dortmunder Museums Zeche Zollern im Herbst 2023. Eine Ausstellung zur Kolonisation bewarb das Museum mit: «Weiße Besucher am Samstag für vier Stunden unerwünscht». Anstatt das Augenzwinkern zu verstehen, gab es einen gewaltigen Aufschrei. Vor allem Menschen, die noch nie von dem Museum gehört hatten und die Ausstellung auch nicht besuchen wollten, empörten sich. Das Museum brauchte Polizeischutz. Die Gesellschaft ist nicht polarisiert, sie ist wund. Demütigung und Sinnleere, verlorene Lebensentwürfe nach dem Mauerfall und der Hochmut des Westens haben bei Millionen von Bürgern und Bürgerinnen Wunden geschlagen. «Veränderungserschöpfung» stellt Mau als Diagnose, Transformationen, die sich mit den erlernten Bearbeitungsroutinen nicht bewältigen lassen. Was brauchen Wunden? Wie heilt eine wunde Gesellschaft? Der Konfliktforscher Friedrich Glasl nennt als ersten Schritt des Friedens, dass aus kalten Konflikten heiße werden müssen. Der Groll müsse ans Licht, die Wunde geöffnet werden. Das ist geschehen. Es gibt einige Stimmen, die in den jüngsten Wahlergebnissen nicht das Demokratiedefizit bemängeln, sondern die Tatsache, dass sich der Feuerwehrmeister, die Grundschullehrerin zur Wahl stellen, egal welcher Partei sie angehören, dass sie sich in Kommunen engagieren und sich wählen lassen und das als Aufbruch in eine unmittelbare demokratische Mitbestimmung sehen. Dass dieser Aufbruch fruchtbar wird, hängt an der Frage, wie es gelingt, die gesellschaftlichen Wunden zu heilen.
Bild Environmental Decision-Marketing in time of Polarization. Inspiriert durch M. Judge et al. 2023.