Über den Tag hinausschauen

«Wer heute über die allernächsten Tagesinteressen hinausblickt, der empfindet, dass die Menschheit vor Aufgaben gestellt ist, wie sie nur in den großen Wendepunkten der geschichtlichen Entwicklung aufgetreten sind. Es sind Aufgaben, die alle Völker angehen und die alle Lebensgebiete betreffen.»


Mit diesen Sätzen begann Rudolf Steiner seinen ersten Leitartikel in ‹Das Goetheanum. Internationale Wochenschrift für Anthroposophie und Dreigliederung› am 21. August 1921. Steiner schrieb bis zum Jahresende 15 Beiträge, die ins Zentrum der weltpolitischen Auseinandersetzungen zielten, die gegebene Lage analysierten und Lösungswege aufzeigen wollten, «Wege, die den Menschengeist tiefer in die Wirklichkeit hineinführen als die bisherigen». Auf die Realisierbarkeit der Sozialen Dreigliederung – oder von Aspekten derselben – setzte Rudolf Steiner nach wie vor und entwickelte in seinen Aufsätzen deren Bedeutung, stets von konkreten Situationen ausgehend. Anthroposophischer Hochmut war ihm dabei wesensfremd, obwohl er sich ständig mit entsprechenden Vorwürfen konfrontiert sah. Bereits im Eröffnungsheft hieß es dazu: «Man wird sich mit solchen Gedanken gegenwärtig gewiss dem billigen Vorwurf aussetzen: man wolle sagen, wer in den Nöten der Gegenwart, die alle Völker und Lebenslagen umfassen, sich zurechtfinden will, der solle nur bei den Leuten des Goetheanums anfragen; die wissen, wie alle Fragen gelöst werden.» Genau das wollte Rudolf Steiner nicht – seine eigenen Aufsätze und sein Auftreten in der damaligen Zeit atmen einen anderen Geist. Sein Engagement für die ‹öffentlichen Lebensangelegenheiten› gegen den drohenden Totalitarismus aber gab er an keiner Stelle auf. «Falls es die Funktion des öffentlichen Bereichs ist, Licht auf die menschlichen Angelegenheiten zu werfen – durch Bereitstellung eines Erscheinungsraumes, in dem die Menschen mit Taten und Worten, zum Guten oder Schlechten zeigen können, wer sie sind und was sie tun können –, so ist es dunkel, wenn dieses Licht gelöscht wird […].» (Hannah Arendt, 1968).


Mehr ‹Von der Weltlage der Gegenwart und der Gestaltung neuer Hoffnungen›, Rudolf Steiners Leitartikel und die Ausgaben der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› von August bis Dezember 1921. Vortrag von Peter Selg, Allgemeine Anthroposophische Sektion, Goetheanum, 31. August 2021, 20 Uhr.

Bild: Ehteshamul Haque Adit, Unsplash

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