Weltenmitternacht auf sechs Metern Höhe

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Christian Peter spielt seit 48 Jahren in den Mysteriendramen und verantwortet seit 18 Jahren das Schauspiel in den Dramen. Sieben Fragen an ihn von Wolfgang Held.


Schmerzt es dich, dass Rudolf Steiner seine Dramen nicht vollständig schreiben konnte?

Das ist ja die Frage, ob er tatsächlich dieses Vorhaben hatte, sieben oder womöglich zwölf Dramen zu schreiben. Bekannt ist, dass er ein nächstes Drama an der Kastalischen Quelle bei Delphi spielen lassen wollte. Wenn man ein Verständnis für Geschichte hat, dann zählt allein, was ist, und nicht, was hätte sein können. Genauso ist es mit der Unvollendeten Sinfonie von Schubert: Sie ist vollständig! Das Leben ist anders, als man sich vorgestellt hat, deshalb haben solche Vorstellungen, wie die von weiteren, hypothetischen Dramen, für mich keine Relevanz. Da ist es für mich stimmig, dass Rudolf Steiners viertes Drama uns in eine Lebenslage führt, in der wir uns heute befinden. Nach dem Krieg wollte er die vier Dramen am Goetheanum aufführen (Sommer 1923), was aber dann durch den Brand des Ersten Goetheanum nicht möglich war. Es wäre eine Wiederaufnahme geworden, denn die Kulissen waren ja alle eingelagert und die Kostüme hatte man noch. Die Schauspieler waren bereits angefragt. Vielleicht hätte er, wenn die Aufführung stattgefunden hätte, die Geschichte weitergeschrieben. Das sich heute auszudenken, finde ich nicht fruchtbar. Albert Steffen hat da einen interessanten Ansatz verfolgt, indem er mit eigenen Stücken aufgriff, wovon in den Dramen die Rede war.

Was bedeutet für dich die Tradition im Spiel der Dramen?

Man muss verstehen, dass Steiner die Dramen direkt vor den Aufführungen schrieb. Er hatte die Menschen, die diese Rollen spielten, vor sich und hat in die Probenarbeit hinein den Text geliefert. Es gibt diese Anekdote des Schauspielers Gümbel-Seiling, der neben seiner Rolle als Strader noch die Stimme des Gewissens sprach, dass Rudolf Steiner im zehnten Bild Hüter kurzfristig noch einen Text für die Stimme des Gewissens einfügte. Als ihn Gümbel-Seiling darauf aufmerksam machte, dass er das nicht sprechen könne, wies Steiner spontan diesen Text der ‹Anderen Philia› zu. Deswegen sollte man vorsichtig sein, Rudolf Steiners Schritte für sakrosankt zu erklären. Ein weiteres Beispiel: Der Herrenausstatter damals hatte für die vorgesehene rostrote Farbe des Jackets von Dr. Strader nur Samtstoff. Deswegen hat bis in die Achtzigerjahre hinein Strader ein Samtjackett getragen, nur weil es zu Steiners Zeit in München keinen anderen Stoff gab. So sind manche Dinge in den Dramen aus der damaligen Situation entstanden. Einfach Dinge zu ändern bzw. zu belassen, ohne das ‹Warum› zu erkennen, scheint mir unter dem Aspekt der Entwicklung nicht angemessen.

Was macht die Mysteriendramen modern?

Jede der Figuren steht in inneren Fragen und Konflikten, die wir heute gut kennen. Ich nehme einmal die Gestalt des Hilarius im vierten Drama als Mensch unserer Zeit. Er will etwas Gutes für die Menschheit schaffen, aber er schöpft mit seinem eigenen Wollen ganz aus sich, es ist sein Projekt, nicht das der Menschen, deshalb scheitert er. Er vermag es nicht, in Resonanz mit seinen Mitmenschen zu kommen. Er steht sich selbst im Weg.

Jedes dieser vier Dramen hat einen eigenen Charakter, der auch damit zusammenhängt, dass Rudolf Steiner beim Schreiben seine literarischen Fähigkeiten weiterentwickelt hat. Das sieht man besonders im vierten Drama. Da wird die Interaktion mit der geistigen Welt zu einem dramatischen Geschehen, das gibt es in den anderen Dramen so nicht. Das erste Drama ist ganz dem ‹Märchen› von Goethe entlehnt. Das gilt auch für die Figuren. Im zweiten Drama werden die Figuren Menschen aus Fleisch und Blut. Interessant ist, dass das, was im zweiten, dritten und vierten Drama geschieht, oft im ersten gar nicht angelegt ist. Das zeigt, dass Rudolf Steiner 1910 beim Verfassen des ersten Dramas noch kein detailliertes Konzept für das Ganze hatte. Die Geschichte hat sich erst im Tun entwickelt. Man könnte sagen, Steiner hat es genau umgekehrt wie Hilarius gemacht: Er hat die Dramen mit und aus den Menschen geschrieben.

Die Spielzeit der Dramen ist gut 20 Stunden. Denkst du über Kürzungen nach?

Wir spielen seit 15 Jahren auch Szenen in thematischen Formaten, gekürzt. Manche Szenen gewinnen tatsächlich, werden so klarer. Ob es sinnvoll ist, die Mysteriendramen insgesamt zu kürzen, wage ich nicht zu sagen. Ich bin auch gespalten bezüglich der gekürzten ‹Faust›-Inszenierung und spreche mich dabei für das Sowohl-als-auch-Prinzip aus anstelle des Entweder-oder. Das bedeutet: Wenn das Ensemble neben der vollständigen Fassung auch eine gekürzte ins Repertoire nimmt, dann hat das eine andere Energie, als wenn man nur eine gekürzte einstudiert.

Mysteriendramen 2023, von links: Christian Peter, Catherine Ann Schmid, Andreas Heinrich, Foto: Georg Tedeschi

Wie hat sich das Publikum verändert?

Mein Ansatz, die Figuren näher zu uns zu holen, menschlicher zu machen, kommt sicherlich dem Bedürfnis des heutigen Publikums entgegen. Es geht ja nicht darum, es einfach anders, ‹moderner› zu inszenieren. Unser Publikum reagiert einerseits empfindlich auf Veränderungen, da die Menschen sich mit der Darstellungsform identifizieren, andererseits sind sie auch bereit, Veränderungsprozesse mitzugehen. Daneben gibt es aber auch eine Zuschauerschaft, die sich die Mysteriendramen in jener Form wünscht, wie sie 1910 uraufgeführt wurden.

Nach 40 Jahren Beschäftigung, bist du da im Reinen mit den Dramen?

Kürzlich ist mir aufgegangen, dass es drei Figuren in den Dramen gibt, die ein bisschen außerhalb der Gemeinschaft stehen. Steiner hat sie sehr gut charakterisiert und ihnen auch gute Sätze in den Mund gelegt. Zugleich spricht er selbst eher abfällig über sie. Das finde ich merkwürdig. Es handelt sich hier um Estella, Ferdinand Reinecke und den Bürochef. Estella beäugt kritisch die anthroposophische Gesellschaft, in der ihre Freundin ist. Es ist eine durchaus berechtigte Kritik, die sie äußert. Von Ferdinand Reinecke sagt Rudolf Steiner, er würde wie gedruckt lügen. ‹Reineke Fuchs› von Goethe ist hier ja auch das sprachliche Vorbild. Wenn ich dann in seinen Text schaue, finde ich keinen Satz, bei dem er tatsächlich lügt. Ja, er hat eine sehr klare, kritische Haltung. Er rät im ersten Bild Hüter, «erst zu prüfen, was dieser Mysten Absicht ist, und dann zu folgen rechtem Menschensinn». Das ist doch legitim? Aus seiner Sicht versucht er, Strader zu helfen. Er will ihm beweisen, dass sein Mechanismus einen Fehler hat, den er nicht erkennen kann. Da finde ich kein destruktives Motiv. Ich sehe da nichts Gelogenes. Der Bürochef steht der Gesellschaft auch kritisch gegenüber. Er ist auch spirituell unterwegs, doch sieht er die direkte Anwendung geistiger Erkenntnisse auf die produktiven Abläufe als problematisch an. Das ist ja auch eine legitime Ansicht. Obwohl er mehrere Versuche unternimmt, sich konstruktiv einzubringen, fahren ihm Hilarius und Strader ziemlich an den Karren. «So stellt ein Geisteswissensirrtum sich gegen meine Absicht feindlich hin» (erstes Bild ‹Der Seelen Erwachen›). Selbst, wenn das so wäre, ist das kein hilfreicher Lösungsansatz. So gibt es einige Stellen, mit denen ich hadere. Ich versuche dann, sie aus dem Schwarz-Weiß-Modus herauszuholen und jede Figur in ihren positiven Qualitäten zu zeigen.

Was war ein schöner, was ein schrecklicher Moment?

Auf der Bühne ist nichts schrecklich – schreckliche Momente kenne ich nicht. ‹Schrecklich› wäre nur ein Unfall. Den habe ich glücklicherweise nie erlebt, obwohl auf einer Bühne viele Gefahren lauern. Ich bin 1976 ans Goetheanum gekommen und habe meine Sprachausbildung angefangen. Schon nach vier Monaten habe ich bei einer landwirtschaftlichen Tagung Strader in zwei Bildern gespielt, weil Michael Blume, der eigentliche Darsteller, nicht da sein konnte. Nach einem Jahr Studium hatte ich mit Retardus meine erste feste Rolle. So war ich voll in die Mysteriendramen integriert und war zugleich auch rechte und linke Hand des Regisseurs. 1979, Weihnachten, war Paul Theodor Baravalle, Regisseur und Darsteller des Benedictus, erkrankt. Seine Frau rief mich am Vorabend des vierten Dramas an und teilte mir mit, dass ich am nächsten Tag Benedictus spielen müsse. Ich kannte natürlich die Szenen, weil ich immer in den Proben saß, aber ich konnte den Text nicht auswendig. Am nächsten Morgen trat Manfred Schmidt-Brabant, der damalige erste Vorsitzende, vor das Publikum und sagte, dass Baravalle erkrankt sei und ein «Schüler» ihn vertreten würde. Da ging ein enttäuschtes Raunen durch den Saal. Ich war 23 Jahre alt. Ich musste mich der Situation vollständig hingeben. Ich war gezwungenermaßen einfach nur im Hier und Jetzt und musste diese Texte durch mich sprechen lassen. Das ist ein Erlebnis, das ich nie vergessen habe. Zwei Momente waren besonders existenziell: In der Szene ‹Weltenmitternacht› stand Benedictus damals in ca. sechs Metern Höhe auf einem ein Meter breiten Podest. Dort oben zu stehen, geblendet vom Scheinwerferlicht und mit maximaler Kraft die Worte durch mich sprechen zu lassen, war für mich wie eine Art ‹Einweihung›. Der andere Moment war in der ägyptischen Szene. Da musste ich als ‹Höchster Opferweise› am Schluss nach vorn treten und ein Luftzug blätterte mir das Textbuch auf eine andere Seite. Ich konnte in diesem dramatischen Moment unmöglich ins Buch schauen und den Text suchen. Auch war der Text zu lang, als dass der Souffleur mir hätte helfen können. Intuitiv fuhr ich mit der Hand über das Buch und der richtige Text war wieder da. Das sind unvergessliche Momente. Mich haben Menschen immer wieder auf dieses Ereignis angesprochen. Selbst nach über 40 Jahren. All diese Erfahrungen und Erlebnisse aus bald 50 Jahren Mysteriendramen spornen mich an, dem Kern der Dramen näherzukommen und den Boden zu bereiten, dass sie mit Ensemble und Publikum geschehen können.


Titelbild Mysteriendramen 2023, von links: Christian Jaschke, Andreas Heinrich, Foto: Georg Tedeschi

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