Weckruf zum Wachen

Seit dem Überfall der Hamas-Kämpfer auf die israelische Bevölkerung am 7. Oktober tobt in Israel und Gaza der Krieg. Die Krise ist auf allen Ebenen, die Katastrophe ist offenbar. Wie kann sich der einzelne Mensch dem gegenüberstellen – wie können wir uns selbst in einer Krise einlassen?


Es ist schwierig, Worte für die Gefühle und Empfindungen zu finden. Es ist schwer zu sprechen. Ein traumatisches Ereignis, ein ganzes Land im Trauma. Es geht auch über Israel hinaus und erschüttert die ganze Welt. Wenn wir versuchen, es in zwei Worten zusammenzufassen, handelt es sich um eine lähmende Begegnung mit dem Tod und dem Bösen. Und daneben und daraus gibt es unglaubliche Geschichten von Mut und Opferbereitschaft.

Es ist zu früh, um direkt auf die kulturellen und historischen Zusammenhänge einzugehen. Ich werde mich der inneren Einstimmung zuwenden, die wir in dieser Zeit entwickeln können oder sollen. Allerdings ist es mir wichtig, die Dinge in eine gewisse Perspektive zu rücken, ohne zunächst auf Details einzugehen. Die unmittelbare Perspektive der letzten Jahre in Israel, und gewissermaßen auch auf der ganzen Welt, ist eine Krisenperspektive. Wir bewegen uns von Krise zu Krise. Man kann sagen, dass wir uns seit mehreren Jahren mit Unterbrechungen in einer Dauerkrise befinden. Wir erlebten ‹Corona›, was uns alle betroffen hat, danach befanden wir uns mitten in einem juristischen Revolutionsereignis, und jetzt erreicht es mit dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 einen gewissen Höhepunkt.

Iftach Ben Aharon

Zu uns selbst erwachen

Die weite Perspektive, die Rudolf Steiner der Menschheit in unserer Zeit gibt, ist die Perspektive des Überschreitens der Schwelle, und das bedeutet, dass die Menschheit als Ganzes nun das durchmacht, was der einzelne Mensch in den esoterischen Initiationsprozessen durchlebt. Wir erleben einen umfassenden Bewusstseins- und Existenzwandel. Steiner nennt dieses Stadium, in das die Menschheit eintritt, auch ‹apokalyptisch›. Die Bedeutung des Wortes ‹Apokalypse› im Griechischen ist ‹Enthüllung›. Durch diese Schwellenüberschreitung, den Prozess der Enthüllung, beginnen die routinemäßigen Stützen, die uns über Hunderte und Tausende von Jahren fast instinktiv durch die Kräfte der Kultur und Tradition getragen haben, zusammenzubrechen. Der Boden bebt unter unseren Füßen, der Vorhang geht auf. Die verborgene Realität wird in ihrem Wesen offenbart: das Höchste, aber auch das Niedrigste. Wir dürfen zum ersten Mal unser Wesen als Menschen, als Ich, auf ganz neuen Ebenen tatsächlich vollständig erfahren und müssen andererseits auch notwendig den unerlösten Aspekten unseres Selbst begegnen. In der anthroposophischen Sprache ist dies die Begegnung mit dem Großen und dem Kleinen Hüter der Schwelle. Hierin liegt die grundlegende Spannung unserer Zeit, wir müssen gleichzeitig das Höchste und das Niedrigste in unserem eigenen Wesen und in der Welt halten.

Wenn wir von einer Krise sprechen, von einer Krisenzeit – und das gilt sowohl für das persönliche Leben als auch für das Leben eines Volkes, eines Landes und der gesamten Menschheit – dann sprechen wir von einem Bruch. Die Stützen der Vergangenheit brechen. Wir alle wissen, dass Krisen in diesem Sinne auch Chancen für innere Schritte, für Entwicklung sind. Solange mich die Stützen der Vergangenheit – Gewohnheiten, Denk- und Verhaltensmuster, Sprache usw. – tragen, binden sie mich auch. Das heißt, unser eigentliches Wesen verlangt nach der Krise, damit es einen neuen Entwicklungsschritt machen kann. Die alten Formen müssen gebrochen werden, damit neues Leben entsteht.

Diesem Bild muss noch etwas hinzugefügt werden: Wenn ein Mensch einen bewussten inneren Weg geht, muss er nicht auf Krisen warten, um Schritte der Veränderung zu schaffen. In gewisser Weise ist der bewusste innere Weg eine Art Reise, eine selbst initiierte Krise. Ich initiiere ständig eine Krise durch ehrliche Beobachtung meiner selbst, durch Konfrontation mit meinen Grenzen und Schwächen. Durch die ausgelöste Krise kann ich mich auf einer höheren Seinsebene zur Welt bringen. Es gibt für uns zwei Möglichkeiten, die Strukturen der Vergangenheit in uns zu überwinden: das Überwinden der alten Formen als Transformation auf uns zu nehmen, indem wir einen bewussten inneren Weg gehen, oder, sofern uns dies nicht gelingt, die Hilfe als Krise ‹von außen› zu empfangen. Das ist manchmal sehr schmerzhaft. Die Krise im spirituellen Sinne, im inneren Sinne, ist ein Aufruf zum Erwachen. Hier gibt es einen Weckruf.

Die Frage, die sich stellt, ist: Wozu erwachen? Für die ‹normalen› Ohren mag es seltsam klingen, aber tatsächlich befindet sich der Mensch in seinem alltäglichen, ‹normalen› Zustand in einem Schlafzustand. Wir schlafen über die tiefen Fragen der Existenz, schlafen über die tiefen Gründe, die uns im Karma bewegen. Eine Krise ist ein Weckruf. Es ist nicht nur ein Aufruf zum Aufwachen, sondern ein Aufruf, wach zu bleiben und uns immer wieder bewusst aufzuwecken.

Betäubende Normalisierung

In diesem Zusammenhang müssen wir zugeben, dass es auch viele Aspekte in uns gibt, die nicht erwachen wollen. Das zeigt sich in Krisenmomenten. Schwierige Ereignisse, wie wir sie gerade erleben, verschärfen diese Verteilung. Einerseits der Wunsch aufzuwachen und andererseits, gleichzeitig oder alternativ, der Versuch, das Alte zu halten und zu stärken. Der Aufruf zum Aufwachen steht der Tendenz zur Normalisierung entgegen. Normalisierung ist in diesem Zusammenhang der Versuch, das Leben wieder in den Zustand zu versetzen, in dem es vor der Krise war, dass wir einfach so weiterleben, wie wir es wollten. Der Ruf zum Erwachen fordert mich tatsächlich auf, den Drang nach ‹Normalität› zu überwinden. Auf das zu hören, was mich aus der Krise herausruft, auf den Ruf zu neuen Möglichkeiten, zu einer neuen Tiefe. Wenn man es aus dem Leben selbst betrachtet, kann man sagen, dass die einzige Möglichkeit, die Tendenz zur Normalisierung zu überwinden, darin besteht, bereit zu sein, in Situationen der Ohnmacht zu stehen. Ich muss mir erlauben, nicht zu wissen und orientierungslos zu sein in Situationen, in denen mir alles, was mir bisher zur Verfügung stand, nicht mehr nützt. Es sollte hier zwischen Depression bzw. Verzweiflung und Ohnmacht unterschieden werden. Verzweiflung oder Depression sind Situationen, in denen ich mich noch nicht ohnmächtig stellen kann. Das ist der Moment davor, an dem ich immer noch festhalte. Die Bereitschaft, in der Ohnmacht zu stehen und sie durchzustehen, ermöglicht es mir, mich jetzt neuen Dimensionen des Seins zu öffnen.

Jeder Mensch wird es anders erleben. Ich kann für mich selbst bezeugen, dass ich als jemand, der aus einem säkularen Elternhaus stammt, in einem Zustand absoluter Ohnmacht war, als ich zum ersten Mal betete und mich um Hilfe an die geistige Welt wandte. In diesem Moment kam das Gebet aus der Seele. Das Gebet ist ein sehr tiefes Bedürfnis des Menschen, eine Möglichkeit, sich direkt durch das Herz zu verbinden. Ohnmacht kann auch dazu führen, dass ich mich selbst auf einer völlig neuen Ebene erlebe und erkenne, jenseits der normalen, alltäglichen Trennung von mir hier und dem anderen dort. Aus der Ohnmacht entsteht ein neues Selbsterlebnis, allumfassend, allmitfühlend. Das Erkennen meines Ich als allumfassendes Wesen, als ‹Ich bin›, ist gleichzeitig das Erkennen des anderen als einen Aspekt meines Wesens. Situationen der Ohnmacht können in mir die Frage entfachen: Wozu bin ich hierher gekommen? Was ist mir wirklich wichtig? Welche Aufgaben möchte ich in der Welt erfüllen? Es ist ein Prozess der durchdringenden Selbstdestillation. Ich möchte mein Leben zu etwas Bedeutungsvollem wandeln. Ich möchte mein Leben zu einer Möglichkeit für etwas machen. Ich möchte etwas durch mein Leben erlauben.

Zwei Gesichter des Bösen

Das Ereignis des Überschreitens der Schwelle unserer Zeit ist Ausdruck der realen Möglichkeit, die uns zur Verfügung steht, das Bewusstsein des Todes, also das Bewusstsein der Endlichkeit, zu überwinden. Aber gerade hier stellt sich uns die Frage des Bösen in verschärfter Form. In dem 7. Oktober 2023 erleben wir eine Begegnung mit dem Bösen in seiner extremsten Form. Aus geistiger Sicht ist das Böse ein Rätsel. Eine der tiefgreifendsten Fragen der Entwicklung der Menschheit. Was ist das Böse? Wie ist es entstanden? Warum gibt es das Böse? Das Erste, was man zu dieser Frage sagen kann, ist: Wenn ich etwas als böse erkenne, bedeutet das, dass auch etwas anderes in mir lebt. Georg Goelzer schreibt darüber in seinem Buch ‹Alpha und Omega›. Das Böse weist auf das Göttliche und damit auch auf das wahre Menschliche hin. Darin haben wir bereits einen gewissen Hinweis auf seine Rolle. In einem Brief aus dem Jahr 1900 schreibt Wladimir Solowjow: «Nie sollst du versuchen, den Antichrist zu verstehen, ohne es zu lernen, das Wesen zu lieben, das er anfeindet.» Darauf müssen wir achten, denn das Böse hat einen magnetisierenden, anziehenden Charakter. Wir müssen innerlich auf die Begegnung mit den Phänomenen des Bösen vorbereitet sein. Nur wenn wir uns mit dem Wesen der Liebe, dem ‹Ich bin›, verbunden haben, werden wir die Kraft und Vernunft haben, dem Bösen zu begegnen und es vielleicht auch zu erforschen und zu verstehen. Bereits hier beginnt sich eine gewisse Transformation abzuzeichnen.

Von diesem allumfassenden, in mir geborenen Ort aus kann ich nun meinen Blick richten und konkretere Fragen zum Bösen stellen. Goelzer spricht von zwei Erscheinungsformen des Bösen in unserer Zeit. Die erste, die wir normalerweise nicht als böse bezeichnen, kann als ‹Scheinmenschliches› bezeichnet werden. Wenn ich vorher von der Tendenz zur Normalisierung gesprochen habe, dann ist sie eindeutig im Scheinmenschlichen enthalten. Ein großer Teil der westlichen Kultur der letzten Jahrhunderte ist der Versuch, ein Kultursystem zu schaffen, das uns alle unsere Bedürfnisse und Wünsche erfüllt. Wir sehen dies im wirtschaftlichen Bereich, im seelisch-sozialen Bereich, aber auch im geistigen Bereich. Dabei handelt es sich um die Tendenz, alles als Produkt zu betrachten und auch mit Idealen sowie kulturellen und spirituellen Produkten zu handeln. Das Scheinmenschliche verkleidet sich als menschlich, strebt aber danach, das Wichtigste von allem zu leugnen: die Möglichkeit der Umwandlung, also die Möglichkeit der Entwicklung und schöpferischen Freiheit. Diese Richtung tritt deutlich in Goethes ‹Faust› hervor. Der Bund, den Faust mit Mephisto schließt, bedeutet: Mephisto wird ihn hier auf Erden mit all seinen Wünschen versorgen, und im Gegenzug wird Faust nach seinem Tod nur eines geben: seine Seele. Dies ist eine Tendenz, die jeder Mensch in seiner eigenen Seele erkennt, wenn wir Bequemlichkeit dem schwierigen Weg der inneren Veränderung vorziehen. Dies ist die eine Richtung, und sie ist verborgen und schwer zu erkennen. Ich tue alles Notwendige, auch geistig, praktiziere die richtigen Meditationen, schicke die Kinder in die richtige Bildungsform, und doch gibt es in mir einen Punkt, den ich nicht erreichen kann, einen Ort in mir, den ich nicht zu berühren wage.

Die andere Seite der Erscheinung des Bösen beschreibt Goelzer als ‹Unmenschliches›. Ein Terroranschlag der Art, wie wir ihn gerade erlebt haben, ist eindeutig ein Unmenschliches. Das Unmenschliche hat einen explosiven Charakter, es tritt aus den Schichten der Verhüllung der Geschichte hervor, nimmt seine Masken ab und schlägt hart zu, sät Schrecken und Furcht und untergräbt die Grundlagen der Existenz. Das Wesen des Unmenschlichen strebt direkt danach, die Sphäre des ‹Ich› zu vernichten. Wobei es sich vor allem gegen das ‹Ich› desjenigen Menschen richtet, der das Böse begeht. Eine unserer großen Aufgaben in der Gegenwart und Zukunft liegt darin, unseren Blick dorthin zu richten.

Der lange Pfad der Verwandlung

Betrachtet man die kulturelle und geistige Realität unserer Zeit, lässt sich erkennen, dass zwischen diesen beiden Widerstandstendenzen ein enger Zusammenhang besteht. Das Scheinmenschliche bereitet den Auftritt des Unmenschlichen vor. Je mehr ich mich in Normalisierungsprozessen verschließe und mich in meinen Schutzstrukturen fixiere (durch das Abstoßen des anderen), desto mehr beschwöre ich das Unmenschliche herauf. Und umgekehrt, wenn das Unmenschliche angreift, verschließen wir uns immer mehr in unserer irdischen Persönlichkeit. Das ‹normale›, gesunde Leben spielt eine wichtige Rolle als Plattform für die innere und gemeinschaftliche Entwicklung, für die Verwirklichung unserer geistigen Aufgaben in der Welt. Wir müssen uns ein Leben aufbauen und es manchmal auch schützen. Doch sobald das ‹Normale› zum ausschließlichen Ideal wird, fangen wir an, den Angriff von außen heraufzubeschwören. Schon in diesem Bild liegt ein Aufruf zum Erwachen.

Ich muss in mir selbst den Mut finden, tief in die dunklen Ebenen meines Wesens einzutauchen und den unerlösten Seiten zu begegnen, die dort walten. Und für das, was in mir lebt, die volle Verantwortung zu übernehmen. Gerade aus spiritueller Sicht kann man sagen, dass es nicht möglich ist, das Böse äußerlich auszurotten. Das bedeutet nicht, dass wir nicht äußerlich dagegen vorgehen sollten, aber wir sollten nicht der Illusion verfallen, dass wir es auf diese Weise wegschaffen können. Der einzige Weg, es zu überwinden, ist die Transformation, und der Ausgangspunkt dafür liegt zuallererst in mir. Es ist ein schrittweiser Pfad der Umwandlung, der uns tief in die Zukunft führt. Hier treffen wir tatsächlich auf die große manichäische Mission, die im Zentrum der anthroposophischen Strömung steht. Steiners Vers aus der Zeit des Ersten Weltkriegs lautet:

Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassner,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht –
Lenken Seelen geist-bewusst
Ihren Sinn ins Geisterreich.

Das Wesentliche daran und worauf wir unseren Blick und unsere innere Aktivität richten müssen, ist, dass das Opfer des Krieges nur dann eine Geistesfrucht werden kann, wenn «Seelen geist-bewusst Ihren Sinn ins Geisterreich» lenken werden. Der Erste Weltkrieg ist nach Steiner der erste Krieg, der nicht direkt einen kulturellen oder spirituellen Impuls förderte. Anstatt den Kampf nach innen zu führen, als einen inneren Kampf zur Transformation des Bösen, wird er nach außen geworfen und wird zum Krieg. Dabei handelt es sich tatsächlich um das Böse als ein Gut, das nicht an seinem Platz ist. Aber wenn ein Krieg entstanden ist, ist es auch möglich, daraus etwas Gutes hervorzubringen. Wir müssen hier ein dynamisches Denken entwickeln. Seit dem Ersten Weltkrieg, oder genauer gesagt, seit dem Beginn des menschheitlichen Schwellenübertritts, muss der Kampf um die Entstehung geistiger und kultureller Impulse nach innen geführt werden. So wird er zu einem Kampf für das Gute in mir, zu einem Kampf um das Erwachen und die Geburt des Geistes. Wo wir dies in uns selbst nicht erreichen, wird es hinausgeworfen und kehrt von außen als Katastrophe zu uns zurück. Aber wenn die Katastrophe eintritt, kann ich sie in einen Katalysator für die Entstehung einer höheren Ebene des Guten verwandeln. Unter welcher Bedingung? Wenn ich es schaffe, durch sie zum Geist aufzuwachen. So können die «Opfertaten» zu einer Substanz, einem Samen, auf beiden Seiten der Schwelle für eine neue Kultur, eine zukünftige Kultur werden.


Dieser Artikel basiert auf dem öffentlichen Zoom-Vortrag, den der Autor am 25. Oktober 2023 auf Hebräisch hielt.

Bilder in dieser Ausgabe Miriam Wahl, ‹Was Goldmarie sich hinter die Ohren schrieb›, Gouache und Acryl auf Papier, 2023

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