Vom Boden guten Miteinanders

‹Governance› ist das englische Wort für all die Vereinbarungen und Grundsätze, mit denen Gemeinschaften ihr soziales Miteinander ordnen und entfalten. Wie bilden wir Vereinbarungen und wie werden sie tragfähig? Welche Fähigkeiten brauchen wir, um sie in einer Zeit des Individualismus und der sozialen Unsicherheit wahrzunehmen und zu verwirklichen?


Wenn Vereinbarungen gelingen, machen sie das Zusammenleben friedlich und leicht und das Außenleben überschaubar, ja befreiend. Ob sie durch Gewohnheit entstanden sind, in einem Moment gemeinsamer Erkenntnis begründet oder auf demokratischem Wege ausgearbeitet wurden: Wir brauchen sie für das Zusammenleben. Es gibt verschiedene Ebenen von Vereinbarungen: von Bräuchen über Verhaltenskodizes bis hin zu Gesetzen und Verfassungen und der moralischen Ebene der Pflicht, die Johann Wolfgang v. Goethe als «das zu lieben, was man sich selbst zu tun gebietet» charakterisiert. Das meint die innere Vereinbarung, eine Verpflichtung mit sich selbst. Manchmal werden Vereinbarungen von anderen getroffen oder bestehen bereits, bevor wir in ein soziales Umfeld treten. Manchmal ist es an uns, sie herzustellen, um dem sozialen Chaos Kohärenz zu verleihen.

Wichtig ist, ein Bewusstsein für die Vereinbarungen und deren Umsetzung zu haben – für unser individuelles Wohlbefinden wie auch für ein gesundes Sozialleben. Wo wir uns unserer Vereinbarungen bewusst werden, da regen sie unser inneres Urteilsvermögen an. Mit anderen Worten: Vereinbarungen und die Art und Weise, wie wir mit ihnen leben, tragen maßgeblich zur Selbsterkenntnis bei und zeigen auf, wie wir diese Erkenntnis in und durch andere erleben. Wie wir uns begegnen, ist von Vereinbarungen durchdrungen. Sie sind notwendig und sind – das lohnt sich zu wissen – Spiegel unserer moralischen und ethischen Werte und stammen aus dem spirituellen Bereich, dem wir alle angehören. Sie sind Teil des Karmas, das verbunden ist mit all unseren Entscheidungen, unserem Ja und Nein, sowie mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen. Was wir Vereinbarungen nennen, spiegelt die gegenseitige Anerkennung und die Antwort auf die stille Frage: Warum sind wir zu diesem Zeitpunkt hier zusammen?

Ursprünge von Vereinbarungen

Vereinbarungen existieren bereits vor unseren Beziehungen, auch wenn sie sich erst dann zeigen, wenn zwei oder mehr Personen ihnen zustimmen. Damit ist nicht Vorherbestimmung gemeint. Es widerspricht nicht spiritueller Freiheit, sondern ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass wir Freiheit üben, wenn wir Vereinbarungen treffen und diese einhalten. Vereinbarungen sind ein verantwortlicher Ausdruck unserer Freiheit.

Entsprechend gibt es innere Vereinbarungen, die wir mit uns selbst treffen – jeder Einzelne lebt in einer Vielzahl von Vereinbarungen, von denen einige vererbt, andere selbst geschaffen sind –, noch bevor wir eine Beziehung zu einer anderen Person eingehen. Wenn nun zwei Menschen sich begegnen, sind neue äußere Vereinbarungen notwendig, um auf deren Boden die Beziehung zu erkunden, sei es in der unmittelbaren Reaktion aufeinander oder auf der intimeren, schicksalhaften Ebene.

Sich solcher schon bestehender Vereinbarungen bewusst zu werden, bedeutet, zu erwachen. Um mit diesem Erwachen zu arbeiten und es zu überwinden, gibt es Wege der Selbsterkenntnis, wie sie beispielsweise in Rudolf Steiners ‹Wie erlangt man …?› beschrieben sind. Das Verständnis der Natur und Präsenz von Vereinbarungen, inneren und äußeren – und wie sie in einem bestimmten Moment oder unter bestimmten Umständen wirken –, bietet jeder Partei innerhalb der Vereinbarung das Potenzial, voll und ganz präsent zu sein und den anderen wahrzunehmen, sich tief in Vertrauen zu verbinden und als eine Art Verantwortlichkeitspartner für ihn zu fungieren.

Dies ist eine tiefgreifende soziale Transformation, die das Interesse der spirituellen Welt an menschlichen Bestrebungen weckt. Eine neue Beziehung zu den Prozessen der Vereinbarungsbildung zu finden, die persönliche Muster und Annahmen in den Hintergrund treten lässt, wird dazu beitragen, spirituelle Freiheit in einer Kultur der Gemeinschaft zu erfahren, auch in Organisationen, die eine bestimmte Mission in der Welt haben.

Wenn wir den Begriff der Reinkarnation akzeptieren und darüber hinaus davon ausgehen, dass wir in Zyklen über mehrere Leben hinweg wiedergeboren werden, dann können bereits bestehende Vereinbarungen ebenfalls über mehrere Leben hinweg mit uns ‹reisen› und uns Möglichkeiten zum weiteren Lernen, zur Kurskorrektur und zur Versöhnung bieten – kurz, zur Harmonisierung von altem und neuem Karma. Wenn wir darüber hinaus die Realität von Hierarchien in der spirituellen Welt akzeptieren, dann hat jeder von uns einen Engel, und darüber hinaus gibt es einen Erzengelbereich, der sich mit unserer Verbundenheit befasst, und einen Archai-Bereich, der uns mit kosmischer Weisheit verbindet. Dies ist ein entscheidendes Verständnis, denn jeder von uns entwickelt sich nicht nur aus Selbsterkenntnis, sondern auch aus dem, was uns von anderen vermittelt wird. Die Gegenseitigkeit mit der spirituellen Welt, die sich auf alle unsere Beziehungen auswirkt, ist ein irdisches und nicht hierarchisches soziales Bild der Aktivität spiritueller Wesen.

Die Brücke zwischen Spiritualität und Sozialem

Es gibt ein weiteres Bild aus dem Neuen Testament. «Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen» (Mt 18,20). Dies deutet auf eine tiefgreifende Schnittstelle zwischen Spiritualität und Sozialem hin. Wenn wir dieses Angebot des Christuswesens annehmen, dann liegen sowohl unsere tiefste Verbindung zum Geist als auch die Harmonisierung des Karmas in unseren sozialen Fähigkeiten. Im Zentrum dieser sozialen Fähigkeiten stehen Vereinbarungen, ausgesprochene und unausgesprochene, die wir mit uns selbst und miteinander treffen, sei es persönlicher oder eher organisatorischer Natur. Darüber hinaus sind die moralischen Grundlagen für diese Vereinbarungen umso wichtiger, wenn es eine bewusste Anerkennung einer spirituellen Dimension gibt, wie beispielsweise in einem anthroposophischen Bestreben.

Den Weg zum Spirituellen über das Soziale zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Es erfordert ein Maß an Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, das in der Aktivität einer sich entwickelnden Bewusstseinsseele liegt. Diese Aktivität wird durch Misstrauen und Urteilsvermögen stark behindert. Vielmehr kann man durch Interesse, Geduld und Neugierde in die Gedanken und das Wesen eines anderen eintauchen. Es liegt an jedem von uns, innere Freiheit zu erkennen und damit zu arbeiten und zu wissen, dass das Zurückstellen der eigenen inneren Freiheit, um mit einem anderen übereinzustimmen, keine Aufhebung der Freiheit ist, sondern vielmehr ein Prozess der Hingabe, der die schöpferische Freiheit unterstützt. Wir müssen einfach die Welt und andere kennenlernen, um uns selbst zu erkennen. Jeder von uns ist eine notwendige Ergänzung des Ganzen. Vereinbarungen dienen als Orientierung. So wie die spirituelle Welt niemals stillsteht, tun dies auch Vereinbarungen nicht, auch wenn es so erscheinen mag. Im Idealfall sind wir jedes Mal, wenn wir zusammenkommen, frei, unsere Vereinbarungen neu zu gestalten oder neu zu verhandeln.

Führung und Vereinbarungen

Wie wir uns selbst führen, bestimmt auch, wie wir zusammenarbeiten. Da Governance nichts anderes ist als ein Rahmenwerk von Vereinbarungen, das, wenn es gut konzipiert ist, die Freiheit unterstützt, unsere Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, stehen Vereinbarungen selbst im Mittelpunkt der Governance-Arbeit. Vereinbarungen verkörpern das Vertrauen zwischen Individuen und machen dieses Vertrauen greifbar und nachhaltig. Das Schöne an dieser Perspektive ist, dass Beziehungen durch aktives Engagement in lebendigen Vereinbarungen aufrechterhalten werden und nicht durch die Machtdynamik fester Rechts- und Unrechtsurteile außerhalb eines gemeinsamen Verständnisses. Eine Möglichkeit, diesen Prozess anzugehen, besteht darin, mit der Seelengeste des ‹Einladens› (zur Vereinbarung) statt des ‹Ausschließens› (wie bei einem Fehler) zu arbeiten. Ersteres lässt dem Einzelnen die Freiheit, wieder in die Vereinbarung einzutreten; Letzteres schränkt jemanden ein und wirkt dem Vereinbarungsprozess tatsächlich entgegen.

Manche Menschen befürchten, dass eine Vereinbarung, wenn sie aufgezeichnet oder schriftlich festgehalten wird, die Freiheit des Einzelnen beeinträchtigt oder einschränkt. Wenn es gut gemacht wird, wird das Gegenteil möglich. In dem Maße, in dem eine Vereinbarung das gegenseitige Verständnis bewusst, sichtbar und wahr macht, erhält Freiheit eine soziale und seelische Dimension, die additiver Natur ist. Dann wird das ‹Wir› zu einem erweiterten ‹Ich›. Solche Vereinbarungen vertiefen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis durch das Verständnis anderer in lebendiger Gegenseitigkeit.

Wir erkennen im Allgemeinen die Notwendigkeit von Governance in der materiellen Welt an, lehnen sie jedoch ab, wenn sie unsere Freiheit einzuschränken scheint. Dies ist eine natürliche und berechtigte Spannung, da jeder von uns auch die allgegenwärtige Schnittstelle zwischen spirituellen und sozialen Impulsen in sich trägt: die Begegnung unseres Ich mit der Realität anderer und der Welt, in der wir gemeinsam leben.

Heute geht es darum, eine neue Beziehung zu spirituell bewussten Vereinbarungen als Weg zur Freiheit zu finden. Wenn sich Geist und Seele in sozialen Räumen begegnen und kreuzen, ist es notwendig, sich zu verpflichten, lange genug in diesem Raum zu bleiben, um aus der sozialen Zusammenarbeit heraus ein neues Gefühl innerer Freiheit zu entwickeln. Der Weg der Vereinbarungen ist ein Weg zur Harmonisierung des Karmas, der jedem offensteht, der bereit ist, daran zu arbeiten. Wir können gemeinsam Vereinbarungen treffen und dann gemeinsam dafür Verantwortung übernehmen. Durch einen solchen Prozess können wir Karma aus innerer und äußerer Freiheit harmonisieren – spirituelle Freiheit, die wir füreinander und miteinander uns schenken.


Übersetzung aus dem Englischen Wolfgang Held
Bild Straßenübergang in Santiago de Chile, Foto: Mauro Mora

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