Unter den Augen des Himmels

Last updated:

Andreas Laudert liefert eine ungewöhnliche Biografie Rudolf Steiners, der es gelingt, den Protagonisten mit der Gegenwart zu verbinden.


Diese Steiner-Biografie überrascht schon durch eine ungewöhnliche Form: Es gibt vier verschiedene Textarten, die der Autor gleichsam miteinander ins Gespräch bringt. Zunächst sind die sechs Kapitel, in die er die Lebens- und Schaffensepochen Steiners einteilt, mit kurzen, kursiv gesetzten Zusammenfassungen versehen, wie man sie vor den Szenen von Brecht-Dramen kennt. Dann gibt es vor und in den Unterkapiteln viele separat gesetzte Zitate von anderen Autoren und von Steiner selbst, die einen geistigen Raum eröffnen, in dem dann als drittes formales Element die Erzählung der eigentlichen Biografie erscheint. Zu diesen drei tritt als vierte eine Darstellungsform auf, die für eine Biografie durchaus ungewöhnlich ist und dem Buch einen experimentellen Charakter verleiht: Einschübe in erlebter Rede, wiederum durch eine andere Schrifttype unterschieden, versetzen die Leserinnen und Leser in die – fiktiven – Gedankengänge Steiners zu bestimmten Situationen seiner Biografie und vermitteln dadurch eine ungewöhnliche menschliche Nähe.

Durch diese vier sich abwechselnden Darstellungsweisen entsteht für die Lesenden ein Gesprächsraum, der eine neue Annäherung an die Persönlichkeit Steiners ermöglicht, ohne eigene Deutungen zu behaupten oder aufzudrängen. Wahrnehmbar wird dagegen ein Gespräch zwischen dem Autor und dem geistigen Weg Steiners, aber auch ein Gespräch zwischen den anderen zitierten Autorinnen, Autoren und Steiner. Diese offene Form wirkt anregend und belebend, unabhängig davon, ob man die biografischen Fakten schon kennt oder nicht.

In den eigentlich erzählenden Textteilen, die den größten Raum einnehmen, wird immer wieder eine Außensicht eingenommen, sodass Verständnisbrücken für die Lesenden angeboten werden, die noch keine Kenntnis oder sogar Skepsis gegenüber der Anthroposophie haben. In diesem Sinne werden Bezüge zu gegenwärtigen Phänomenen hergestellt und damalige Erkenntnis- und Lebensfragen in einen aktuellen Kontext gesetzt. Hier könnte eine Chance für dieses Buch liegen, das öffentliche Interesse für Steiner in Zeiten der Diffamierung wieder zu öffnen.

Ein wiederkehrender Bezugspunkt in Zitaten und Reflexionen ist die Persönlichkeit Franz Kafkas. Der Spannungsraum zwischen den beiden komplementären Persönlichkeiten Steiner und Kafka, von denen zumindest ein persönliches Gespräch von Letzterem dokumentiert ist, kann in besonderer Weise den Bezug zur Gegenwart eröffnen: Kafka beschreibt den modernen Menschen, der am Schwellenübertritt scheitert und in Angst, Zynismus und Zweifel gefangen ist. Dadurch wurde Kafka zum bekanntesten und einflussreichsten Autor des 20. Jahrhunderts. Steiner weist den möglichen Schritt über die Schwelle durch Selbstverwandlung, die den Figuren in Kafkas Werk überwiegend fehlt, und hat viele Lebensbereiche nachhaltig reformiert. Aber auch die Rezeptionsgeschichte der beiden ist komplementär: Kafka hatte verfügt, seine Werke posthum zu verbrennen; stattdessen sind sie weltweit bekannt. Steiner wollte möglichst viele mit seinen Werken erreichen, deren Rezeption ist aber immer noch auf einen überschaubaren Kreis beschränkt. Das vorliegende Buch möchte einen Zugang dazu schaffen.

Dazu werden Begriffe, die im anthroposophischen Kontext gängig sind, von Laudert quasi voraussetzungslos erklärt, zum Beispiel ‹das Esoterische›: «Es bedeutet, umzugehen mit einem inneren Zusammenhang der Dinge.» (S. 117) Oder auch ‹Einweihung›: «In Extremsituationen, an den Schwellen der Biografie, wie es Krankheiten sind, das Sterben, Gefahren in der Natur, schmerzhafte Erlebnisse in der Liebe oder besondere Gewissenskonflikte, kann sich bei jedem plötzlich der Schleier lüften, und es kann zu ungewöhnlichen Wahrnehmungen, ja kleinen Einweihungen kommen.» (S. 56) Oder das ‹Ich›: «Für ihn war das Ich reine Tätigkeit, schöpferisches Sich-in-Beziehung-Setzen, während sich – um erneut einen Bogen in die Jetztzeit zu schlagen – künstliche Intelligenz nur auf bereits vollzogene menschliche Handlungen beziehen kann.» (S. 96)

Dass solche Themen und Motive auch bei Autoren unserer Zeit auftauchen, macht Steiner zugänglicher für die Lesenden der Gegenwart. Der norwegische Erfolgsautor Karl Ove Knausgård schreibt etwa: «[…] das Leben besteht aus Ereignissen, auf die reagiert werden muss. Und dass sämtliche Glücksmomente um das Gegenteil kreisen […]. Das Gegenteil davon, zu reagieren, ist, zu erschaffen, zu machen, etwas hinzuzufügen, was vorher nicht da war.» (S. 32) Hier wird unter dem Begriff des Glücks dasselbe erfasst, was Steiner mit dem Ich meint. Das Paradoxe des Individuellen, wie es sich in der Bewusstseinsseele zeigen kann, wird durch eine bekannte Stelle aus dem Film ‹Das Leben des Brian› von Monty Python illustriert: «Brian: Ihr seid doch alle Individuen! – Masse im Chor: Ja, wir sind alle Individuen! … Stimme in der Masse: Ich nicht.» (S. 82)

Schließlich überrascht diese Biografie sowohl mit weniger bekannten Fotos als auch mit überraschenden Zitaten Steiners: «Manchmal kriegt man ein bisschen Schmerzen, wenn man in anthroposophische Ansiedlungen oder Zusammenrottungen kommt. Da ist manchmal eine solche bleierne Schwere.» Und: «Werden Sie doch Tänzer, in dem Sinne, wie es bei Zarathustra gemeint ist! Leben Sie mit innerster Freude an der Wahrheit!» (S. 227)


Buch Andreas Laudert: Unter den Augen des Himmels – Das Leben Rudolf Steiners. Futurum Verlag, Basel 2025

Letzte Kommentare