The German-Jewish Issue

Christiane Leiste, ehemalige Waldorflehrerin, Konfliktmoderatorin, Coach und Achtsamkeitslehrerin, hatte Ende Mai zu einer besonderen Veranstaltung in ihr Seminarhaus nach Hamburg eingeladen. Vierzehn Menschen kamen, um sich zum deutsch-jüdischen Trauma auszutauschen. Gesprochen wurde auf Englisch.


Myrna Lewis, die Entwicklerin der Konfliktmanage­mentmethode ‹Lewis Deep Democracy›, war etwas beunruhigt, in diesen Tagen eine Gesprächsrunde in Deutschland zu leiten, die sich ‹The German-Jewish Issue› nannte. Schlussendlich wagte sie es doch und brachte zugleich ihre jüdische Biografie mit, die in Südafrika begann. Die Teilnehmenden trugen ihre eigenen deutsch-jüdischen Erfahrungen ebenfalls in diesen Kreis hinein. Und niemand wusste genau, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Es war der Versuch, etwas ins Gespräch zu bringen, das auf beiden Seiten der Angelegenheit meist immer noch mit Sprachlosigkeit belegt ist. Umso schöner unser vorsichtiges Stammeln, unsere Angst und unsere echten Tastversuche miteinander.

Vielfalt

In den Narrativen der DDR-Ideologie waren alle geeint im Kampf gegen den Antifaschismus und schon allein deshalb nicht antisemitisch. Oder? In der Schule der BRD der 1980er-Jahre schien es, als würde man extra gute Noten bekommen, wenn man sich mit dem Thema Holocaust auseinandersetzte. Oder? Die Spaltung in der Seele des deutsch-jüdischen Nachkriegskindes, das auch in der 1960ern noch als Jude gehänselt wurde und zugleich die Schuld der Deutschen empathisch wahrnahm, heilte erst viele Jahre später durch künstlerische Verarbeitung. Während ein anderes Kind im Frankreich der Nachkriegsjahre als ‹deutsches Nazi-Kind› beschimpft wurde. Die Heldengeschichten des Großvaters, der vom Krieg erzählte, ohne die Gräuel zu reflektieren, brachten dem Enkel irgendwann ein schockierendes Erwachen. Yad Vashem sei einer der schlimmsten Orte in Israel, sprach ein israelischer Mund, weil sich das Narrativ der zur Schlachtbank Geführten immer weiter fortschreibe und im Selbstbild so schwer wandeln lasse. Eine Frau war bereit, so weit in sich zu forschen, bis sie ihr eigenes ‹Antisemitisches›, ‹Ausgrenzendes›, ihren eigenen ‹Terror› fände. Eine andere Frau wollte sich so gern wieder erlauben, die deutsche Sprache und Kultur offen zu lieben. Dann der turnende jüdische Großvater, der plötzlich nicht mehr zur Mannschaft gehören durfte, weil er nun ‹falsch› war, und die Traurigkeit, die das in einer Kinderseele hinterließ. Beginnt man, sich seine Bezüge zur ‹deutsch-jüdischen Angelegenheit› zu erzählen, entsteht eine unglaubliche Vielfalt.

Selbstermächtigung

Und man kann wahrnehmen: Etwas ist immer noch eingefroren wegen der Unfassbarkeit, auf beiden Seiten. Da schafft auch eine Erinnerungskultur keine Abhilfe. Im Antisemitismus des Dritten Reichs wurde von Deutschen etwas angetan, und zugleich haben sich die Deutschen damit auch selbst etwas angetan. Was haben wir aus uns selbst deportiert an den Bahnsteigen des Abgrunds? Und es kann nicht darum gehen, etwas wiedergutzumachen. Das ist überhaupt nicht möglich. Aber wo und wie können wir das Geschehene fruchtbar werden lassen im Miteinander? Es scheint absurd, ein so großes Leid fruchtbar werden zu lassen – und darf ich das überhaupt so formulieren? Und doch: In jedem holprigen Dialogversuch zum großen europäischen Trauma des 20. Jahrhunderts generiert sich etwas, was für alle totalitären Systeme dieser Welt eine Gefahr bilden wird: die Selbstermächtigung, empfindsam zu sein für alle im Raum und nicht die Flucht in die Rationalität zu wählen oder in einer Gruppe von vermeintlich Gleichgesinnten Sicherheit zu suchen; anzuerkennen, dass es eine Weisheit der Minorität oder gar des Einzelnen geben kann. Und keine Angst vor dem auftauchenden Schmerz zu haben.

Der Tag führte uns weiter hinein in die Schichten, aus denen Geschichte sich webt. Mit ein paar konkreten Methodenbeispielen untersuchten wir die Phänomene Identität, Gruppe und Nationalität. Es ging weiter an Grenzen und über sie hinaus. Myrna war am Ende des Tages erleichtert, froh und auch erstaunt, was sich ermöglicht hatte. Der Keim für ihre lebenslange Arbeit an einer Methode, die Wut, Terror und auch Horror nicht wegwischt oder ausblenden will, liegt in ihrer Kindheit. Sie konnte nicht begreifen, wieso ihre jüdischen Eltern vor dem Hintergrund der Shoah so schlecht mit den schwarzen Hausangestellten umgingen. An der Stelle zeigt sich, wie viel komplexer die Zusammenhänge in der menschlichen Seele sind und dass der Begriff ‹Antisemitismus› vielleicht auch zu eng ist, um gefühlt zu werden. Myrna jedenfalls wollte etwas tun und nicht nur zusehen. Und wir praktizierten an diesem Tag eine Geschichtsaufarbeitung, die sich im Individuellen vollzog – ein für die Zukunft fruchtbar erscheinender Weg. Gilda Bartel


«Es war eine tolle, vielfältige Gruppe von Teilnehmenden, die sehr unterschiedliche und vielschichtige Sichtweisen und Tiefenschichten mitbrachten. Das zeigte mir, dass wir uns alle in einem komplexen Feld finden, in das wir durch Diskussionen und Argumente allein nicht einsteigen können, sondern das tiefer liegt. Die Methoden und die Haltung von ‹Deep Democracy› sind einfach super geeignet, an diese Schichten heranzukommen und mit ihnen rational zu arbeiten. Alles, was ich bisher an theoretischen Ansätzen dazu kenne, kratzt da nur dran. Von daher bin ich sehr froh, dass wir das gemacht haben. Es ist wie ein Auftakt zu einer weiteren Arbeit auf diesem Gebiet. Ich selber habe allein durch das Check-in und die Aufgabe, von sich zu erzählen, viel über mich und das Feld gelernt. Zum Beispiel: Was sind die Schuldgefühle (oder Schuldzuschreibungen von außen), mit denen wir es als Deutsche zu tun haben, ohne es klar zu wissen? Beeindruckt haben mich auch die unterschiedlichen Identifikationen mit dem Judentum, ohne Jude zu sein. Auch der subtile Aspekt, das Wort ‹Jude› zu verwenden oder nicht lieber ‹jüdische Person› oder Ähnliches zu sagen. Das ist keine Haarspalterei, sondern das betrifft das echte Gewicht der Worte. Damit umzugehen, eignen sich diese Methoden wunderbar. Wir sollten damit unbedingt weitermachen.» Ulrich Kaiser


«Was in deinem Leben hat dich, hier, an diesen Ort geführt, an dem ich dir zuhöre. An dem du mir zuhörst. Aus welcher Geschichte heraus sprichst du, welche kann ich selbst dazustellen?

Wir haben uns am 24. Mai 2024 in Hamburg verabredet, um unsere persönlichen Gefühle und Erlebnisse mit dem deutsch-jüdischen Thema vorbehaltlos und behutsam zu teilen. Ich habe erlebt, wie jede mit ihrer eigenen Erzählung einen bestimmten Ort im Raum und in der Gruppe einnahm. Es entstand dadurch eine unserer Konstellation entsprechende bewegte Verbundenheit. Im Laufe des Prozesses kam es zu einem offenen Konflikt zwischen zwei Personen. Durch die von der Prozessleiterin Myrna vorgeschlagene absichtliche Verschärfung der gegenseitigen Vorwürfe entstand genau an dem Punkt des maximalen Gegensatzes die sanfte Auflösung. Wir als Gruppe waren mit dem Konflikt der beiden und mit seiner Auflösung verbunden. Ich sehe darin eine tiefere Schicht des Verstehens. Auch in größeren Gemeinschaften? Die Möglichkeit, ernsthaft verzeihen zu können? In gegenseitigem Vertrauen neue Wege zu suchen, zu gestalten? ‹Deep-Democracy› als heilender Weg?» Sibylle Wissmeyer


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Foto Filip Komink, Unsplash

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