Otto E. Hartleben und Rudolf Steiner in Weimar

Marginalien zu Rudolf Steiners Leben und Werk 31

In Weimar lernte Rudolf Steiner den Dichter und Lebenskünstler Otto Erich Hartleben (1864–1905) kennen, mit dem er später einige Jahre gemeinsam das ‹Magazin für Litteratur› herausgeben sollte. Hartleben war für seine «feucht-fröhliche» und gesellige Lebensweise bekannt. Er huldigte, heißt es von ihm, ausgiebig dem Dionysos und dem Eros.


Hartleben hatte zunächst auf Wunsch des Großvaters, bei dem er nach dem frühen Tod seiner Eltern aufgewachsen war, Jura studiert und kurz als Gerichtsreferendar gearbeitet. 1890 aber ließ er sich in Berlin als freier Schriftsteller nieder. 1893 heiratete er seine langjährige Geliebte Selma Hesse, von ihm «Moppchen» genannt. Der Dichter kam regelmäßig zu den jährlichen Goetheversammlungen nach Weimar, obwohl er die eigentlichen Veranstaltungen immer verschlief. Erst abends fand er sich im «Kreise der Journalisten, Theaterleute und Schriftsteller, die sich an den Abenden der Goethe-Feste […] im Hotel Chemnitius zusammenfanden», ein. «Warum er da saß», so Rudolf Steiner, «das konnte ich sogleich begreifen. Denn sich in Gesprächen, wie sie da gepflogen wurden, auszuleben, das war sein Element. Da blieb er lange. Er konnte gar nicht fortgehen.»

Die Bekanntschaft zwischen Rudolf Steiner und Otto Erich Hartleben entspann sich über Schopenhauer: «Es waren schon viele bewundernde und ablehnende Worte über den Philosophen gefallen. Hartleben hatte lange geschwiegen. Dann sagte er in wildwogende Gesprächsoffenbarungen hinein: ‹Man wird bei ihm aufgeregt; aber er ist doch nichts für das Leben.› Mich schaute er dabei fragend an, mit kindlich-hilflosem Blicke; er wollte, dass ich etwas sagen sollte, weil er gehört hatte, dass ich mich doch mit Schopenhauer beschäftige. Und ich sagte: ‹Schopenhauer muss ich für ein borniertes Genie halten.› Hartlebens Augen funkelten, er wurde unruhig, er trank aus und bestellte sich ein frisches Glas, er hatte mich in diesem Augenblicke in sein Herz geschlossen; seine Freundschaft zu mir war begründet. ‹Borniertes Genie!› Das gefiel ihm.»1

Milieu der Freiheit

An einem dieser Abende entstand auch die erste der dann durch die Zeitschrift ‹Jugend› bekannt gewordenen Serenissimus-Anekdoten, die – stellvertretend für die sogenannten Duodezfürsten, die Herrscher von Zwergstaaten – an den Weimarischen Großherzog Karl Alexander anknüpften und in denen dessen zerstreut-leutseliges Auftreten aufs Korn genommen wurde: Voller Sympathie und interessiert wandte sich der Großherzog den Menschen zu, die mit ihm zu tun hatten; machte sich die konkreten Situationen aber oft nicht genug klar. Die «Ur-Anekdote» erzählt Rudolf Steiner im Vortrag vom 27. Oktober 1918: «Serenissimus besucht das Zuchthaus seines Landes, und er will sich einen Sträfling vorführen lassen […]. Er stellt dann eine Reihe von Fragen an diesen Sträfling: Wie lange halten Sie sich hier auf? – Bin schon zwanzig Jahre hier. – Schöne Zeit das, schöne Zeit, zwanzig Jahre, schöne Zeit das! Was hat Sie denn veranlasst, mein Lieber, hier Ihren Aufenthaltsort zu nehmen? – Ich habe meine Mutter ermordet. – Ach so, so! Merkwürdig, höchst merkwürdig, Ihre Frau Mutter haben Sie ermordet? Merkwürdig, höchst merkwürdig! Ja, sagen Sie mir, mein Lieber, wie lange gedenken Sie sich noch hier aufzuhalten? – Bin lebenslänglich verurteilt. – Merkwürdig! Schöne Zeit das! Schöne Zeit! Na, ich will Ihre kostbare Zeit nicht weiter mit Fragen in Anspruch nehmen. Mein lieber Direktor, diesem Manne werden die letzten zehn Jahre seiner Strafe in Gnaden erlassen. Nun, das war die Ur-Anekdote. Sie war durchaus nicht hervorgegangen aus einer niederträchtigen Stimmung, sondern sie war hervorgegangen aus einem Humoristisch-Nehmen desjenigen, was, wenn es nottut, durchaus auch in allen seinen ethischen Werten genommen werden konnte und so weiter. Ich bin überzeugt davon, dass, wenn es je hätte vorkommen können, dass die Persönlichkeit, auf die, vielleicht mit Unrecht, diese Anekdote vielfach gemünzt wurde, diese Anekdote selber gelesen hätte, sie herzlichst darüber gelacht hätte.»2

Die Stimmung, die über dem Kreis um Hartleben lag, gehörte, so Rudolf Steiner, «ganz gewisslich zu dem Milieu der ‹Philosophie der Freiheit›, denn die Stimmung der ‹Philosophie der Freiheit› lag doch wenigstens über dem Kreise, in dem ich verkehrte»3. «Allabendlich», berichtet der Maler Josef Rolletschek, «saßen wir in der Glasveranda des Hotels Chemnitius und Hartleben erzählte dort seine ersten Serenissimus-Witze. Dann begann er mit Steiner zu philosophieren und stets wiederholte sich das Gleiche: Je vorgerückter die Stunde, desto umwölkter wurde Otto Erichs Stirne, desto unsachlicher seine Erörterungen, und Steiner übernahm ruhig und sachlich die Führung.»4

Gedichte ordnen

Nun klopfte es, wie Rudolf Steiner Ernst Lehrs einmal auf einer langen Autofahrt erzählte, eines Nachts an sein Fenster. Es ertönte «die klägliche Stimme Otto Erich Hartlebens» mit der Bitte, ihn einzulassen: «Hartleben trat, am ganzen Körper zitternd, ein. ‹Lass mich hierbleiben, ich kann unmöglich wieder heimgehen. Als ich vorhin mein Zimmer betreten wollte, sah ich eine Küchenschabe auf dem Boden.› Rudolf Steiner wusste, dass Hartleben eine geradezu krankhafte Angst vor Insekten hatte, und war sich klar, dass ihm nichts übrig blieb, als sich wieder anzuziehen und ihn die Nacht bei sich zu behalten.» Nun nutzten die Freunde die nächtlichen Stunden dafür, ein Goethe-Brevier zusammenzustellen. Aus seiner Bibliothek, so Lehrs, brachte Rudolf Steiner «die Gedichtbände seiner beiden Goetheausgaben herbei, dazu alles in der Wohnung auftreibbare Papier und den nötigen Klebstoff. Denn nun ging man daran, Gedicht für Gedicht vorzunehmen, und wenn eines Gnade vor ihren Augen fand, wurde die betreffende Seite herausgenommen und auf ein Blatt Papier geklebt.»5

Die Gedichte wurden chronologisch angeordnet und mit Kopfzeilen versehen, die über die jeweiligen, mit den Gedichten zusammenhängenden biografischen Stationen informieren, zum Beispiel über dem ‹Heidenröslein›: «Friederike – 1771 an Herder gesandt.»6 Dazu brauchte es dann noch ein Vorwort, in dem sie «mit den Philistern nicht eben glimpflich umgegangen» seien: «Besonders hatten sie es da auf die Philologen abgesehen. Deren eifrigem Forschen, so heißt es in dem Vorwort, sei es zwar zu verdanken, dass man die Daten der einzelnen Gedichte kennt, aber auf den Gedanken, eine solche chronologische Ausgabe zu veranstalten, wären sie selber nicht gekommen. Und dann wörtlich: ‹Aber, worauf kommen Philologen alles – nicht.›7 So zitierte uns Rudolf Steiner diesen Satz vergnügt. Damit war klar, dass die verschiedenen ‹Frechdachsigkeiten›, die sich in dem Vorwort befinden, keineswegs nur auf das Konto Hartlebens gehen.»8

Erste stenografische Notizen Rudolf Steiners zum Goethe-Brevier. NB 327 © Rudolf Steiner Archiv, Dornach

Der eigene Geschmack als Richtschnur

Im Vorwort selbst wird jedoch von Hartleben nicht die Mitwirkung einer zweiten Person erwähnt: «Als ich in diesem Frühjahr die Festtage der Goethe-Gesellschaft in Weimar mitfeierte», so Hartleben, «war ich – in dem zarten Alter von dreißig Jahren stehend – der jüngste unter den Jubelnden – die erdrückende Majorität der Teilnehmer bewegte sich zierlich um die Wende des sechzigsten Lebensjahres. – Diese Greisenhaftigkeit in der heutigen Goethe-Verehrung ist ein recht bedenkliches und trauriges Zeichen: und da ich Johann Wolfgang Goethe von ganzem Herzen liebe, fasste ich den Entschluss, nach meinen Kräften etwas dafür zu tun, dass er für meine Generation lebendig bliebe. – Und ich kam zu der Überzeugung, dass mehr als zwanzig gelehrte Goethe-Jahrbücher, voll des spitzigsten Scharfsinns, eine einzige Ausgabe der Gedichte leisten könne, die dem naiven Genießenwollen ohne Prätentionen entgegenkommt. – Für solch ein Buch gab es nur eine Richtschnur: den eigenen Geschmack. Ich musste ein Buch schaffen – ganz für mich: je willkürlicher und individueller, desto besser desto frischer wird es wirken!»9

Hat Rudolf Steiner nun also mitgewirkt am Buch oder nicht? Nun liegen im Rudolf Steiner Archiv interessante Dokumente vor, die die von Lehrs erzählte Version stützen – auch wenn die beiden Herren in jener Nacht vielleicht nicht unbedingt mit Schere und Klebstoff zugange waren. Es finden sich nämlich in Rudolf Steiners Notizbuch 327 aus dem Jahr 1894 über viele Seiten stenografische Notizen in einer Art zweireihigen Tabelle: Die eine Reihe enthält eben jene Kopfzeilen des ‹Goethe-Breviers›, daneben stehen die dazugehörigen Gedichtanfänge. Diese Tabelle ist wohl als erster Entwurf für das Buch in jener Nacht entstanden, denn der Druck zeigt demgegenüber noch einige Veränderungen auf.

Aber auch das gesetzte Manuskript bekam Rudolf Steiner noch einmal vorgelegt. Hartleben schreibt am 14. Juli 1894 an seine Frau: «Mein Manuskript hat jetzt Dr. Steiner, der es durchsieht, dann gebe ich es an [Eduard von der] Hellen.»10 Vermutlich von dieser Manuskriptdurchsicht liegt auch noch ein Bogen im Rudolf Steiner Archiv vor, auf dem Rudolf Steiner teilweise die Kopfzeilen noch einmal korrigierte. Diese Korrekturen wurden im Druck, der gegenüber diesem Bogen eine andere Seitennummerierung aufweist, auch berücksichtigt.

Jenseits von Tod und Teufel

Das ‹Goethe-Brevier› wurde 1901 erneut herausgegeben, um einige Gedichte vor allem des alten Goethe und ein zweites Vorwort erweitert, das Hartleben nach einer lebensbedrohlichen Gesundheitskrise geschrieben hatte. Offenbar waren ihm inzwischen neue Aspekte an Goethe aufgegangen, die er gerne in die neue Auswahl integrieren wollte: «In unserem Ringen nach einer einheitlichen Weltanschauung, die uns die alte von Jenseits, Tod und Teufel ersetzen könnte, ist uns der alternde und alte, der Goethe des neunzehnten Jahrhunderts ein mächtiger Bundesgenosse. Er hat es im Innersten erlebt, dass wir zu unsrer Not und Lust durch die hohle Gasse der exakten Naturwissenschaft hindurchmüssen, wenn wir zu jener uns im Herzen verhießenen, uns erst erfüllenden ‹Tagesansicht› gelangen wollen – es führt kein andrer Weg nach Küssnacht. Und wir möchten doch alle nach Küssnacht. – Jede Bereicherung unseres Wissens von der Natur – ein tieferes Eindringen in das Wesen Gottes, jeder neue Beleg des Psychischen durch eine physische Parallele – ein weiterer Ausblick auf die Allbeseeltheit der Materie: nur so konnte Goethe ‹materialistisch› denken, und dass es Menschen geben könne, die dieser Weg zur Trostlosigkeit, zum Pessimismus zu führen im Stande sei, hat er wohl lächelnd nie geglaubt: Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als dass sich Gott-Natur ihm offenbare – / Wie sie das Feste lässt zu Geist verrinnen, / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.»11

Es scheint so, als wäre ihm eine Ahnung davon aufgegangen, was ja gerade Rudolf Steiner als Herausgeber seiner naturwissenschaftlichen Schriften an Goethe so interessiert hatte! Und so ist es berührend, dass – obwohl sich die Freunde inzwischen ganz auseinandergelebt hatten – Otto Erich Hartleben Rudolf Steiner ein Exemplar mit der Widmung übersandte: «Rudolf Steiner in dankbarer Erinnerung an Weimaraner Tage / Otto Erich»12.

Ob dies als eine indirekte Anerkennung der wohl kräftigen Mitwirkung des Freundes am Zustandekommen des ‹Goethe-Breviers› zu lesen ist? – Der Bruder von Otto Erich Hartleben, Oberleutnant a. D. Otto Hartleben (1866–1929), mit dem Rudolf Steiner ebenfalls befreundet war, fragt diesen dann auch im Brief vom 9. November 1901: «Was sagst du zu Erichs 2. Vorrede zum Goethe-Brevier?» – Die Antwort Rudolf Steiners, so sehr sie uns interessieren würde, ist nicht überliefert – vielleicht ist sie auch mündlich erfolgt.

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Mein Lebensgang (1923–1925). GA 28, 9. Aufl., Dornach 2000, S. 231–233.
  2. Rudolf Steiner, Geschichtliche Symptomatologie. GA 185, 3. Aufl., Dornach 1982, S. 139 f. Die hier von Rudolf Steiner erzählte Anekdote, von Otto Erich Hartleben mit O. E. H. signiert, findet sich in der Münchner Zeitschrift ‹Jugend›, Nr. 30/1896, S. 482. Der mit Rudolf Steiner befreundete Maler Curt Liebich erzählt in seinen Erinnerungen, dass dem Großfürsten einmal in Jena neue Stadtteile gezeigt wurden, und er fragte: «Sind diese Häuser alle hier gebaut worden?» Carl Liebich, ‹Aus meiner Weimarer Zeit›, Freiburger Zeitung, 17. Juni 1931.
  3. Ebenda.
  4. Joseph Rollet, Begegnungen mit Rudolf Steiner. In: Neues Wiener Journal, 29. Juni 1928.
  5. Aus: Ernst Lehrs, Rudolf Steiner und Otto Erich Hartleben. In: Deutsche Mitteilungen, Heft 70, Stuttgart 1964, S. 233–238.
  6. Goethe-Brevier. Goethes Leben in seinen Gedichten. Hrsg. von O. E. Hartleben. München 1895, S. 30.
  7. Ebenda, S. XV. Wörtlich heißt es da: «Man könnte sich nun wundern, dass die Herren nach all ihren sauren Vorarbeiten nicht selber darauf gekommen sind, eine solche chronologisch geordnete Ausgabe zu veranstalten: aber, du lieber Gott –: worauf kommen Philologen alles nicht! –»
  8. Siehe Anm. 5, S. 235 f.
  9. Siehe Anm. 6, S. XV f.
  10. Otto Erich Hartleben: Briefe an seine Frau 1887–1905. Berlin 1908, S. 187.
  11. Goethe-Brevier. Goethes Leben in seinen Gedichten. Hrsg. von O. E. Hartleben. 3. Aufl., München 1905, S. XIX.
  12. In Rudolf Steiners Bibliothek unter der Signatur RSB Gö 300.

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