Nie wieder Krieg! – Für ein Europa jenseits der Mächte

Die Krise in der Ukraine spitzt sich weiter zu. Welche Rolle spielt Europa? Sich nicht zwischen den beiden Lagern von Ost und West aufreiben zu lassen, wäre für Europa eine Chance. Nötig wäre dafür ein neues Verständnis für Ängste und Gemeinsamkeiten, für mehr Selbstbestimmung und mehr Vertrauen ineinander. Dazu braucht es jetzt die richtigen politischen Ideen und Entschlusskraft. Louis Defèche sprach dazu mit Gerald Häfner.


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Wie siehst du die Situation in und mit der Ukraine?

Gerald Häfner Die Situation ist dramatisch. Das sind gefährliche Entwicklungen, die sich dort vollziehen. An der Grenze zwischen Russland und der Ukraine sind über 100 000 Soldaten aufmarschiert. Ost und West überbieten sich mit Forderungen und Drohungen. Der Ton wird unduldsamer und heftiger. Ich bin entsetzt darüber, wie leichtfertig auch mitten in Europa heute in den Medien wieder über Krieg geredet, ja wie fahrlässig der Krieg sogar herbeigeredet wird. Ich halte das für einen Rückfall in eine Zeit, die ich für überwunden hielt.

Das Problem ist ja schon ein paar Jahrzehnte da. Kannst du erklären, wie es entstand?

Das Problem reicht weit zurück. Wenn wir einmal nur auf die letzten Jahrzehnte schauen, müssen wir uns vergegenwärtigen: Es gab einen Zeitraum von etwa 45 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Europa geteilt war durch Mauer und Stacheldraht und sich beide Seiten waffenstarrend gegenüberstanden. Es war die Zeit des Kalten Krieges, der ‹Blocklogik›. Im Jahr 1989 sollte sich das ändern. Da haben nicht das Militär, die Geheimdienste oder die Regierungen, sondern die Bürgerinnen und Bürger, zivile Menschen, diese Logik überwunden. Mit Kerzen, mit Liedern auf den Straßen begann diese Bewegung etwa im Osten Deutschlands. Es gab parallele, teils noch frühere Bewegungen im Baltikum, in Armenien, in Georgien, in Polen, in der Ukraine und noch weiteren Ländern, um sich aus dieser Logik zu befreien. Es war eine Bewegung für Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie, Kooperation und Zusammenarbeit in Europa. Die Mauer fiel und Deutschland wurde wiedervereinigt.

Damals war ich im Bundestag. Zuerst gab es formelle Gespräche ja nur auf Ebene der Regierungen, also mit dem Instrumentarium der Außenpolitik. Ich sah die Geschehnisse aber als eine Frage künftiger Innenpolitik und damit der Demokratie, des Parlaments. Es ging schließlich um die Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft. Auf meinen Vorschlag hin hat der Bundestag dann einen Sonderausschuss Deutsche Einheit eingerichtet, der die ganzen Beratungen begleitet hat. Ich wurde dann mit drei anderen Kollegen Berichterstatter des Deutschen Bundestages für die Einheit, erhielt also den Auftrag, die Verhandlungen eng zu begleiten, dem Bundestag zu berichten und Vorschläge für den Weg zur künftigen Einheit Deutschlands seitens des Parlaments zu entwickeln. Eine entscheidende Frage war, ob die Sowjetunion – vertreten durch Michail Gorbatschow – ihre Zustimmung zur Einheit Deutschlands geben würde, so dass, was bisher Aufmarschgebiet des Ostens war, also die DDR, künftig Teil der Bundesrepublik Deutschland würde. Die Zustimmung wurde erteilt unter der Bedingung, dass die NATO, also das westliche Militärbündnis, nicht weiter nach Osten vorrückt. Das ist damals so besprochen, aber nicht schriftlich fixiert worden. Teilnehmende beider Seiten haben das bestätigt.

Diese Zusage aber ist gebrochen worden. Die NATO ist Schritt für Schritt weiter nach Osten vorgerückt. 1999, bei der ersten Osterweiterung, traten Polen, Tschechien und Ungarn bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei, 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und zuletzt 2020 Nordmazedonien. Für Bosnien, Herzegowina, Kosovo und Serbien läuft das Aufnahmeverfahren, und Georgien und die Ukraine wollen aufgenommen werden. Hinzu kommen Truppenverlegungen und zunehmend aggressive Militärmanöver – übrigens von beiden Seiten. In der Ukraine gab es 2013/14 und gibt es aktuell wieder starke Bestrebungen, sich in Richtung Europa und NATO zu orientieren. Für den Westen bestätigt all das nur die kulturelle, politische, ökonomische und militärische Überlegenheit des eigenen Systems. Russland aber fühlt sich zunehmend bedrängt und eingeschnürt. Aus Sicht der russischen Führung gehört die Ukraine zur eigenen Einflusssphäre. In dieser möchte sie die NATO nicht dulden.

Hinzu kommt: Die Ukraine ist ein quasi gespaltenes Land. Die Gebiete im Osten um Donezk und Luhansk werden überwiegend von russischsprachiger Bevölkerung bewohnt. Die Spannungen dort haben zugenommen, und Russland argumentiert: «Wir müssen unsere russische Bevölkerung in der Ukraine schützen. Wir sind deren Sicherheitsgarantie.» Der Westen warnt vor einem Einmarsch und droht mit heftigsten Gegenmaßnahmen. Das eskaliert von Tag zu Tag.

In unseren Zeitungen steht es allerdings anders, als ich die Sache oben dargestellt habe. Ich habe das bewusst so erzählt, weil hier meistens nur von Putins unaufhörlichen Provokationen zu lesen ist, die eine harte und geschlossene Reaktion des Westens verlangen. Anders in alternativen und linken Medien. Dort teilt man vielmehr Putins Positionen in meist arg verblendeter Weise und sieht ergo alle Schuld und Aggression beim Westen. Das ist dann nicht besser. Eine solche Parteilichkeit ist nur das Spiegelbild derjenigen, gegen die man sich angeblich wehrt. Aber man muss auch sagen: Putins Russland ist aggressiv, nationalistisch, totalitär. Es gibt kaum Freiheit. Echte Opposition wird verboten, unterdrückt, im Lager eingesperrt, oft sogar ermordet.

Da ist es legitim zu sagen: Lasst die Menschen selbst wählen, selbst bestimmen. Und lasst uns sehen, ob es eine andere Option gibt: nicht entweder die Entscheidung für den Westen, für USA und NATO, oder die für den Osten, für Putins Großrussland, sondern für ein Drittes, das dazwischen (oder besser: darüber) steht: für Europa. Ein freies, selbstbestimmtes, neutrales Europa. Dann ginge es nicht mehr um die alten Reflexe! Es ginge nicht mehr darum, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, sondern endlich darum, beide zu überwinden, Brücken zu bauen. Die Gräben zuzuschütten. Europa zusammenzuführen.

So legitim Russlands Wunsch nach Respektierung seiner ‹Einflusszone› im ersten Moment scheint, so aberwitzig und wenig akzeptabel ist doch bei Licht besehen die Idee, die freie Entscheidung über den politischen Kurs unabhängiger Länder (und damit die Entscheidungen von deren Bevölkerungen, deren Souverän) einschränken oder durch ‹Blockzugehörigkeit› determinieren zu wollen. Aber wenn die freie Entscheidung nicht gleichbedeutend mit dem Wechsel der Seite, der Blockzugehörigkeit wäre, sondern in eine wechselseitige Unabhängigkeit nach beiden Seiten hin mündet, dann wäre sie ohne massive Angst und Bedrohung realisierbar.
Wir müssen daher anfangen, Europa – und auch diesen Konflikt – jenseits der Blocklogik zu denken.

Bild: Kuppeln des Kiewer Höhlenklosters; Foto: Eugene.

Sind in der Ukraine zwei Ströme gleichzeitig anwesend? Einerseits sich dem Russischen verbunden fühlen und zugleich der starke Wunsch nach mehr Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und mehr Verbindung mit Europa?

Ja, beides gibt es. Und beides ist legitim. Falsch ist, die Menschen dann gleich Lagern zuzurechnen und die Dinge als unvereinbar darzustellen. Falsch ist eine Politik, die sagt, dass ein Land nur entweder zum Westen oder zum Osten gehören kann. Das ist eine absurde, antagonistische Sichtweise. Diese Zeit ist eigentlich vorbei. Ich möchte, dass Europa insgesamt versteht, dass es nicht Westen und nicht Osten ist, sondern ein Raum dazwischen, in dem wir eigene Formen der Kooperation, der Zusammenarbeit, auch des gegenseitigen Schutzes entwickeln müssen. So auch in der Ukraine. Es ist tragisch, dass der westlich orientierte Teil Europas im Moment so eskalierend argumentiert und sich ‹vor den Karren des Westens spannen› lässt. Genauso tragisch sind auf der anderen Seite russische Großmacht-Ambitionen und der zunehmend nationalistische, militaristische Ton dortiger Politik. Angemessen wäre dagegen, mit den Menschen dort zusammen nach Lösungen zu suchen, Lösungen jenseits von Krieg, Lösungen jenseits dieser falschen Alternative Ost oder West, NATO oder Russland.

In den letzten Jahren hat sich Europa wenig beteiligt. Russland spricht direkt mit den USA. Es ist, als ob Europa nicht da wäre. Wie kam es dazu?

Es gab Versuche von europäischer Seite, eine andere Logik in die Situation einzubringen. Es gibt sie auch weiterhin, aber sie sind schwach, ängstlich, unentschlossen. Es gab das Minsker Abkommen mit dem Ziel der Deeskalation und Befriedung des 2014 im Osten der Ukraine ausgebrochenen Krieges. Und es gibt das sogenannte Normandie-Format, in dem Russland, Deutschland, Frankreich und die Ukraine gemeinsam über den Ukrainekonflikt verhandeln. Aber das alles ist eher eine schwache, zögerliche Flankierung der immer aggressiveren Politik, die man von West und Ost gegenwärtig beobachten kann. Winzige Schritte. Schüchtern. Europa traut sich nicht, einen wirklich eigenen Vorschlag auf den Tisch zu legen. Ich spreche bewusst so radikal, weil doch endlich jemand diese primitive Logik durchbrechen muss! Im Moment ist es wie im Kindergarten. Jede Seite sagt: «Du hast angefangen!» – «Nein! Du hast angefangen!» Und: «Ich bin stärker als Du! Wenn du weitermachst, dann schlage ich Dich!» – «Nein, ich bin stärker. Wenn du weitermachst, schlage ich dich noch viel schlimmer!» Dieses gegenseitige Eskalieren sollten wir längst überwunden haben – individuell, menschheitlich und zwischen Staaten. Wir sollten fragen: Was hat dich verletzt? Was macht dir Angst? Was könnte ich dafür tun, dass du dich sicher sicherer fühlst – und umgekehrt?

Eigentlich hatten wir 1989/90 die Chance unseres Lebens. Da haben wir sie verpasst. Es wäre damals eine europäische Chance und Aufgabe gewesen, einen blockfreien Raum gemeinsamer Sicherheit zu bilden in diesem mittel- und ostmitteleuropäischen Gebiet, das so lange Brückenkopf äußerer Kräfte in Ost und West war. Entwickeln wir in Mitteleuropa und in Europa insgesamt – so war damals mein Vorschlag – neue Formen der Kooperation bei gegenseitiger Garantie von Sicherheit! Wir haben sogar eine neue Verfassung für Deutschland formuliert, als Entwurf. Denn das deutsche Grundgesetz verlangte ja, dass an seine Stelle eine neue Verfassung treten sollte, sobald Deutschland wieder vereinigt wäre. Deshalb stand auch in der Präambel des Grundgesetzes: «für eine Übergangszeit». Denn 1949 war klar: «Eine Verfassung kann nur das Volk sich selbst geben. Da aber durch die Teilung Deutschlands einem Teil des Volkes verwehrt ist, daran mitzuwirken, können wir jetzt noch keine Verfassung machen, sondern nur ein Provisorium.» Die Schlussbestimmung des Grundgesetzes lautete entsprechend: «Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem vom deutschen Volk in freier Entscheidung eine neue Verfassung beschlossen worden ist.» Mit Hinweis darauf habe ich damals eine Initiative begründet für einen Verfassungsprozess von unten. Es gab dann eine gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern, der ich diesen Vorschlag vorstellen konnte. Sie hat sich mit Mehrheit für diesen Weg ausgesprochen! Doch die Bundesregierung war entschieden dagegen. Wir hatten also eigentlich eine Mehrheit für diesen Verfassungsprozess, aber am Ende nicht die notwendige verfassungsändernde Mehrheit. So ist der Vorschlag trotz aller guten Argumente gescheitert.

Hier aber ist die Idee aus diesem Prozess wichtig. Wir hatten den Artikel, der Deutschland Bündnismitgliedschaften erlaubt, neu formuliert. Und zwar so, dass nur noch die Möglichkeit bestand, einem Bündnis beizutreten, in dem Staaten Mitglied sind, die voreinander Schutz suchen. Das heißt: Deutschland sollte sich aus der Blocklogik herausbewegen. Es sollte nicht die Spaltung vertiefen, sondern sie überwinden helfen. Der verfassungsmäßige Auftrag lautet: Wir schaffen in Europa einen Raum gegenseitiger Sicherheit. Ein gemeinsames Bündnis von Ost, Mitte und West (-Europa). Was gibt Ländern den bestmöglichen Schutz? Nicht der Aufbau, sondern nur der Abbau von militärischen Bedrohungspotenzialen. Also können wir Bedrohungspotenzial abbauen in Europa – und uns als einen gemeinsamen (blockfreien) Raum des Friedens, der Freiheit und der Kooperation entwickeln? Das war die Idee, und das wäre immer noch möglich. Die europäische Stimme könnte in den Verhandlungen bezüglich der Ukraine eine sein, die nicht entweder die NATO oder Russland stärkt, wie das gegenwärtig auf der einen oder anderen Seite viele Akteure tun, sondern die fragt: Wie können wir diese falsche Logik überwinden? Da gäbe es meines Erachtens durchaus Vorschläge.

Was könnte das für Europa heißen?

Gegenwärtig gibt es in der EU einen doppelten Reflex: Zunächst die weitgehende Gleichsetzung von Europa und NATO – und dann die Idee, dass Europa durch den Aufbau einer gemeinsamen Armee im Wettbewerb der Großmächte mitspielen könne – sozusagen auf Augenhöhe mit USA, Russland und China. Man meint, erst wenn wir möglichst viel eigenes Militär und eigene Waffen haben, dann würden wir auch endlich eine richtige Rolle spielen. Aber das ist Unsinn. Militärisch werden wir nie mit den Supermächten gleichziehen können. Aber dieser Wettlauf ist ein Anachronismus, der immer deutlicher in eine Sackgasse führt. Die Welt braucht zukünftig viel eher einen Akteur mit ausreichend Kraft, Einfluss, Ideen, wirtschaftlicher und politischer Stärke, der diese krude, atavistische Logik des 20. Jahrhunderts endlich aufbricht und verändert. Das 21. Jahrhundert braucht andere Umgangsweisen. Da spielen Kooperation, Verträge, Gespräche, Beziehungen und Vertrauen eine viel entscheidendere Rolle.

Europa würde mit einer solcherart neu bestimmten Politik überhaupt erst richtig als Kontinent mit einer ganz eigenen Identität und Kraft entstehen.

Manches hatte ja schon ganz zart begonnen. Es gab etwa das START-Abkommen, das IWF-Abkommen, eine Reihe von Abkommen, die die Anzahl strategischer Atomsprengköpfe, Mittel- und Langstreckenwaffen in Europa begrenzt haben. Aber die wurden gekündigt, ohne ein neues Abkommen zu haben! Das erste wäre also, dass man anfängt, diese Verhandlungen wieder aufzunehmen und die Waffen zu begrenzen. Weitere Schritte wären, dass man Militär und dann auch Spannungen abbaut, konstruktive Konfliktlösungsgespräche führt, Beobachter austauscht, sich einander politisch und wirtschaftlich öffnet und sich vernetzt. Darüber steht der Gesichtspunkt, dass man diesen absurden Gedanken beendet, zu sagen, Menschen könnten nur entweder hier oder dort dazugehören.

Nehmen wir die Ukraine. Sie ist ein Land mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Es gibt viele Ukrainer, viele Russen und viele Tataren – um nur die größten Bevölkerungsgruppen zu nennen. Deren Kultur, Traditionen und vielfach auch Interessen sind verschieden. Das führt auch zu unterschiedlichen Orientierungen in den jetzigen Auseinandersetzungen. Solange man meint, die Ukraine darf und kann nur entweder hierhin oder dahin gehören, entweder so oder so sein, wird sich immer eine Gruppe unterdrückt fühlen. Deshalb: In den verschiedenen Regionen muss es natürlich auch Autonomie geben. Es muss Selbstbestimmung geben, zum Beispiel auch für Donezk, für Luhansk, für Mariupol, für die Krim und so weiter. Damit wäre schon viel gewonnen. Aber all das geht nur, wenn wir eben diese Bedrohungsszenarien stoppen, die Waffen abbauen, die Blocklogik überwinden und uns gegenseitig Sicherheit garantieren. Das geht dann, wenn Ost und West sich bei einem Vertragsabschluss gegenseitig versichern würden, sich nicht mehr anzugreifen. Dann könnte man schon mal den größten Teil der Waffen abbauen.

Bild: Kuppeln des Kiewer Höhlenklosters; Foto: Ganna Aibetova

Wie könnte diese europäische Politik aussehen, wenn wir die Blocklogik überwinden?

Das ist eine schöne Frage, weil eben sie in der Politik nie gestellt wird. Wir müssen anfangen, wirklich Zukunft zu entwerfen, neu zu denken. Die Zukunft, die ich mir für Europa wünsche, ist die des Abbaus eben dieser Blocklogik, dieser militärischen Potenziale, eines Abbaus übrigens auch zunehmend an Grenzen. Auch die Idee des nationalen Einheitsstaates können und müssen wir nach und nach überwinden, schon weil die Bevölkerung in immer weniger Ländern einheitlich ist. Das würde heißen, wir sollten mehr und mehr beginnen, nicht mehr in unüberwindbaren, abschließenden Grenzen zu denken, sondern diese vielmehr als Membranen zu fassen. Wir könnten einander überlappende Gebilde entwickeln. Überlappend im Sinne einer funktionalen Gliederung, die mit regionalen und nationalen (politischen) Grenzen nicht übereinstimmen muss. Dieser Gedanke reicht, wenn man ihn ernst nimmt, weit über die Sicherheitsfrage bzw. die militärische Frage hinaus.

Nehmen wir als Beispiel Waldorfschulen. Sie müssen in jedem Staat der Welt jeweils die gültigen staatlichen Vorgaben erfüllen. Überall sind die Vorschriften anders. Und jede Waldorfschule macht Kompromisse, weil sie sich danach richten muss. Eine große Rolle spielt, was zum Abschluss getestet und dokumentiert wird. Dafür lernt man oft Sachen, die aus Sicht der Waldorfpädagogik gar nicht sinnvoll sind. Schulabschlüsse werden durch nationales Recht bestimmt – und bestimmen umgekehrt die Inhalte der Schule. Wie aber wäre es, wenn die Waldorfschulen untereinander vereinbarten, was bei ihnen gelten soll? Sie könnten das viel besser. Man könnte sich das auch länderübergreifend vorstellen. Dann könnte man sagen: Ich lebe in Luhansk oder ich lebe in Kiew und ich schicke meine Kinder auf die Waldorfschule.
Die Regeln für diese Waldorfschule werden nicht vom ukrainischen Staat gemacht, auch nicht vom russischen oder von den USA, sondern von den Menschen, die sich mit dieser Pädagogik verbinden und die darin kompetent sind. Man kann dieses Beispiel auch für andere Gebiete machen, auch ökonomisch. Mit wem ich wirtschaftlich zusammenarbeite, ist nicht vorgegeben durch die Grenzen eines Staates oder eines politischen Bündnissystems. Leider wird zurzeit immer noch in geschlossenen Einheiten gedacht. Das müssen wir aufbrechen und wir müssen immer mehr zu Selbstbestimmung und Selbstverwaltung in diesen Gebieten kommen.

Viele Menschen wollen heute den Nationalstaat stärken. In übernationalen, technokratischen Strukturen erleben sie einen Verlust an Demokratie, zum Beispiel in der Europäischen Union. Was würdest du antworten?

Diese Menschen haben mit ihrer Analyse recht, aber nicht mit den Konsequenzen, die sie daraus ziehen. Die technokratische Gefahr – die Tragik der heutigen Welt – kommt mit auch daher, dass das Recht bislang national war und ist. Das Recht findet seine Grenze an der Grenze des Nationalstaats, und das kann viele Probleme nicht lösen. Das beginnt mit den Menschenrechten, geht weiter mit ökologischen Problemen, Klimaproblemen, zum Beispiel der Überfischung der Ozeane. Das können wir nicht mit einem deutschen oder französischen Gesetz allein regeln. Da brauchen wir ein Recht, das jenseits der nationalen Ebene wirkt. Also müssen wir Recht auch oberhalb der Nationalstaaten entwickeln. Wenn man keine neue Idee hat, wie man das methodisch macht, dann läuft es zwangsläufig auf Technokratie und Zentralismus, am Ende vielleicht sogar auf eine Weltregierung hinaus, die uns sagt, wie wir uns ernähren sollen oder ob wir uns zu impfen haben. Das ist hochgefährlich, aber nicht der Gedanke, dass es auf jedem Gebiet eine Entwicklung des Rechts geben muss. Dieser Gedanke ist richtig.

Wir brauchen in Europa mehr Dinge, die wir gemeinsam regeln. Gleichzeitig brauchen wir aber eine strukturelle Sicherung dagegen, dass immer mehr Recht wie auf einer abschüssigen Ebene nach Europa rutscht, wie der Schnee auf dem Dach im Frühjahr. Denn das überregionale Recht bricht immer das regionale. Dadurch landen immer mehr Kompetenzen auf von den Menschen entfernteren Ebenen.

Diese Logik müssen wir durchbrechen und sehen, dass wir das Recht unter den Menschen stärken, also dezentralisieren, Subsidiarität stärken. Überall dort, wo wir Recht schaffen, muss es gesellschaftliche Selbstbestimmung geben. Das Recht ist im Zeitalter der Demokratie – oder anthroposophisch würde ich sagen: im Zeitalter der Bewusstseinsseele – nicht mehr etwas, was eine Person oder eine Instanz anderen vorschreiben kann. Als Bürger, als Menschen haben wir alle den gleichen Wert. Auf der Ebene des Rechts sind wir gleich. Rudolf Steiner sagte, dass als Recht heute nur noch jenes betrachtet werden kann, bei dem alle die Möglichkeit hatten, mitzuwirken. Es muss darum gehen, wie wir auf allen Ebenen die unmittelbare Mitwirkung der Menschen durch Bürgerbeteiligungen, durch Deliberation, Partizipation, direkte Demokratie, also Abstimmung stärken. Die Tragik heute ist auch, dass die kleinen Leute sich an das Recht ihres Landes halten müssen, wie es in ihrem Land gegeben ist, weil sie gar keine anderen Optionen haben. Aber jene, die sehr viel Geld haben, auch große multinationale Konzerne, suchen sich das Recht aus, das ihnen gefällt, oder halten sich an gar kein Recht, zahlen beispielsweise überhaupt keine Steuern mehr, weil sie dem entfliehen können. Die Lösung dafür ist nicht, die Augen zu verschließen, sondern sich substanziell die Frage zu stellen, welches Recht auf welche Ebene gehört. Was müssen wir wo regeln? Und dann alle Ebenen im Sinne der Selbstverwaltung und der Demokratie gestalten.

Wie können wir dieses Bild für Europa zwischen West und Ost erweitern?

Zunächst würde ich sagen, dass die Menschen in Europa überwiegend in ihrer Seele und Sehnsucht längst schon da sind. Es ist eine Idee, die längst in den Köpfen und Herzen der Menschen lebt, die aber politisch nicht realisiert wird. Außer man ist in so einer dramatisch zugespitzten Situation wie gegenwärtig in der Ukraine. Da wird man viele andere Töne hören, aber auch das ist letztlich marginal gegenüber den Menschen, die sagen: Hört doch auf mit diesem Wahnsinn, wir müssen doch Wege finden, wie wir zusammenarbeiten und uns verstehen. Es fehlen die politischen Konzepte, die Ideen überhaupt. Eine wichtige Idee in meinen Augen ist allein schon, dass man sich verabschiedet von dieser Vorstellung, dass der Staat der Vorgesetzte seiner Bürgerinnen und Bürger ist und alleiniger Bestimmer und Rechtssetzer. Wir müssen begreifen, dass wir als Menschen in ganz unterschiedlichen Schichten verbunden sind. Eine davon ist diese rechtlich-politische, eine andere ist eine geistig-kulturelle, wieder eine andere ist die ökonomische. In all diesen Schichten gibt es unterschiedliche Arten von Verhältnissen im Staat.

Geht es um die Gestaltung des Rechts im Ökonomischen? Dann geht es um die Gestaltung der Liebe, der Zusammenarbeit, um das Füreinander-Tätigsein. Wenn ich wirtschafte, handle ich immer für andere. Es ist interessant, dass es zwischen Deutschland und Russland ganz viele Wirtschaftsbeziehungen gibt. Wenn man mit den Menschen redet, merkt man, dass das nicht nur von Gewinnerwartungen getragen ist. Es hat eine stark menschliche, seelische Komponente. Die, die zusammenarbeiten, vertrauen einander, und sind fasziniert von der Qualität der anderen Seite. In Russland ist man stark nach Europa orientiert. Aber die Deutschen, die in Russland arbeiten, die erzählen immer, wie sie diese Tiefe der russischen Seele und des russischen Charakters erleben und diese unglaubliche emotionale Kraft, die man dort spüren kann. Wenn wir in die USA schauen, haben wir am stärksten dieses ‹Ich will mich durchsetzen›, ein stark auf das Ego fokussiertes Denken. In Russland hat man stark ein auf das ‹Wir›, auf die Gemeinschaft fokussiertes Denken. Das zusammen kann Europa konstituieren, wenn wir diese Kräfte, diese Qualitäten zusammen haben und sehen. Wie können wir die Brücke schlagen? Was können wir von denen, was können die von uns lernen? Dort wird es real. Ich glaube wirklich, dass politisch die Schritte dahin fehlen.

Wir haben die Initiative ‹Ohne Rüstung leben›, wo Menschen als Selbsterklärung sagen: Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben. Und ich möchte nicht, dass in meinem Namen weiter Waffen angeschafft und benutzt werden. Das ist die moralische Kraft und die moralische Richtung, die wir in Europa gegenwärtig beobachten können. Nötig sind Politikerinnen und Politiker, nötig ist eine Politik, die diese Sehnsucht aufgreift und Wirklichkeit werden lässt. Die Ukrainekrise wäre eine, ist eine großartige Gelegenheit dazu.

Wie wäre das denn, wenn jemand anfangen würde, aus dieser Idee heraus zu arbeiten? Die ehemalige Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey sagte, Europa müsse Schritt für Schritt neutral und blockfrei werden. Wenn die deutsche Bundesregierung zusammen mit der französischen in diesem Sinne aktiv würde, könnte es richtig interessant werden! Eigentlich wären die Kräfte dafür da. Aber es fehlen die Ideen, die klaren Gedanken. Und es fehlt der Wille, das politisch zu formulieren und dann zu tun, sich dafür einzusetzen. Es fehlt noch der Wille.


Zu den Bildern:

Jerusalem des Ostens
Seit dem Mittelalter trägt die ukrainische Hauptstadt den Beinamen ‹Jerusalem des Ostens› – kein Blick, bei dem man nicht die goldenen Kuppeln der Kirchen und Klöster sieht, die sich zum Himmel heben. 1000 Jahre Gegenwart des Vergangenen. Ungarns neuer Stolz, Türkeis osmanische Träume, Russlands sowietisch-russisches Sehnen: Alter Glanz, Grossmachtnostalgie, das ist der Phantomschmerz so vieler Nationen, ein Schmerz, der im 21. Jahrhundert kein Platz mehr hat.

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