Nachhaltigkeit als Kunst des Werdens

Nach Jahrzehnten politischer Programme und wirtschaftlicher Strategien stecken die Bemühungen zur nachhaltigen Entwicklung in der Krise. Zwischen Greenwashing und globalen Klimaherausforderungen suchen Menschen weltweit nach ganzheitlicher Orientierung. In der Zusammenkunft der World Goetheanum Association, der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum und vielen Partnerorganisationen, die zu Gast bei Sekem in Ägypten waren, formt sich ein neues Verständnis: nachhaltige Entwicklung als Prozess innerer und äußerer Wandlung – als Kunst des Werdens, wo Natur, Kultur, Gesellschaft und Spiritualität sich verbinden.


Der Begriff ‹nachhaltige Entwicklung› ist überstrapaziert, unterdefiniert und wird oft missverstanden. Nachhaltige Entwicklung ist kein Nice-to-have, keine Berichtspflicht, kein Manipulationsinstrument und keine Erfindung des Westens. Sie erforscht die Frage nach dem Werden von Mensch und Erde – eine Frage, mit der die Anthroposophie zutiefst verwoben ist. Nach 50 Jahren institutionalisierter Verwendung, aber auch aufgrund ihres schlechten Rufs durch Greenwashing und leere Worte, wird der Ruf nach Integration der inneren und spirituellen Dimension in den Begriff der nachhaltigen Entwicklung als werdende Meta-Disziplin lauter.

Globaler Umbruch – Zeitenwende

2025 trat ein, was lange unter der Oberfläche gegärt hatte: die sogenannte Zeitenwende. Ein geopolitischer Umbruch veränderte die Weltordnung – begleitet von massiver Aufrüstung und einem neuen Fokus der Regierungen auf nationale Eigeninteressen. In diesem Klima beschlossen die NATO-Staaten, fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung bereitzustellen. Das geschah trotz acht Jahrzehnten intensiver Bemühungen um universelle Menschenrechte und globales Verantwortungsbewusstsein – trotz Initiativen wie WWF, Rachel Carsons ökologischem Weckruf, Greenpeace, dem Bericht ‹Grenzen des Wachstums› des Club of Rome und dem Brundtland-Bericht ‹Our Common Future›. Die neue Zeitenwende scheint all das beiseitezuschieben, was Generationen an ökologischer und sozialer Einsicht erarbeitet haben. Zu sagen, sie sei überraschend gekommen, wäre blind gegenüber den Vorzeichen, die längst sichtbar waren – und doch traf sie viele wie ein Schock.

Diese Veränderung erschütterte besonders die seit den 1960er-Jahren gewachsenen sozialen, grünen und pazifistischen Bewegungen. Der Soziologe für soziale Nachhaltigkeit, Ingolfur Blühdorn aus Wien, postuliert sogar, dass dieses «öko-emanzipatorische Projekt» letztlich gescheitert sei – aufgrund seiner eigenen Inkonsistenzen und weil es nicht die gesamte Gesellschaft erreicht habe: Das Vorhaben blieb exklusiv für wenige. Somit sind Menschen und Organisationen, die mit den sozioökologischen Herausforderungen und der nachhaltigen Entwicklung arbeiten, mehr oder weniger gezwungen, ihr Verständnis dieser Disziplin und ihre Werkzeuge zur Transformation der Gesellschaft neu auszurichten.

Porträt der Teilnehmenden am World Goetheanum Forum 2025 in Sekem, Foto: Samuel Knaus

Die drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung

Nachhaltige Entwicklung ist kein neues Konzept. Schon im antiken Griechenland galten Leitprinzipien wie «Erkenne dich selbst» – als Aufforderung zu innerer Entwicklung – und «Nichts im Übermaß» – als Mahnung zu einem ausgewogenen Umgang mit der Welt. Später, 1801, warnte Alexander von Humboldt – jüngerer Bruder Wilhelm von Humboldts und enger Freund Goethes – vor der zerstörerischen Gier des Menschen, die nicht nur die Erde bedrohe, sondern potenziell sogar andere Sterne erobern könne.

Ein weiteres wegweisendes Kapitel schrieb Rudolf Steiner. Angesichts der wachsenden Macht von Kapitalismus und Technik entwarf er die Dreigliederung des sozialen Organismus: Freiheit im Geistesleben, Gerechtigkeit im Sozial- und Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Für Steiner war die Natur die Grundlage aller wirtschaftlichen Tätigkeit – eine Perspektive, die schon damals die Kernelemente dessen berührte, was wir heute unter nachhaltiger Entwicklung verstehen.

Mit der Vervierfachung der Weltbevölkerung seit 1945 und der Belastung der Erde durch menschliche Aktivitäten wurde nachhaltige Entwicklung schließlich institutionell verankert. Weltweit etablierte man drei Hauptsäulen: ökologisch, sozial und wirtschaftlich. Leitidee war, «die Bedürfnisse der Gegenwart zu befriedigen, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen». Bis heute ist dies die einzige allgemein anerkannte Definition – obwohl es rund 200 weitere akademische Definitionen gibt, die keine vergleichbare Akzeptanz erreichen.

Neue Vision der nachhaltigen Entwicklung

Ibrahim und Helmy Abouleish gründeten mit vielen anderen die Sekem-Initiative und die Heliopolis University for Sustainable Development in Ägypten – mit klarer Ausrichtung auf nachhaltige Entwicklung. Ihr Ansatz war radikal und visionär: Sie trennten aus der traditionellen, sozialen Säule (geleitet durch Gleichheit) die menschliche und kulturelle Entwicklung heraus (geleitet von Freiheit). Denn Gerechtigkeit im Rechtsleben und Freiheit im kulturellen und geistigen Bereich sollten eigenständige, gleichwertige Dimensionen sein.

So entstanden vier Säulen nachhaltiger Entwicklung, ergänzt durch die soziale Dreigliederung nach Rudolf Steiner: die ökologische (Natur als Grundlage menschlicher Tätigkeit), die soziale (geleitet von Gerechtigkeit), die kulturelle (geleitet von Freiheit) und die wirtschaftliche Säule (geleitet von Solidarität). Auf diesem Fundament wurde Sekem nach fast fünf Jahrzehnten Pionierarbeit mit dem ‹Champion of the Earth 2024›-Preis des UN-Umweltprogramms sowie dem ‹Gulbenkian-Preis für Menschlichkeit 2024› ausgezeichnet – zwei der weltweit renommiertesten Umweltpreise.

Links: Die drei Säulen der traditionellen nachhaltigen Entwicklung (Felix Müller, 2014). Rechts: Nachhaltigkeitsblume Sekem.

Erweiterung um die spirituelle Dimension

Im Rahmen des World Goetheanum Forum in Sekem entstand eine neue Perspektive auf nachhaltige Entwicklung – eine Erweiterung um die spirituelle Dimension. Im Zentrum der Nachhaltigkeitsblume Sekem steht nun die «innere und individuelle Quelle des Geistigen». Jede äußere Entwicklung, so das Verständnis der Teilnehmenden, braucht ein inneres Leben, eine bewusste Schulung und eine spirituelle Verankerung.

Gleichzeitig wurde die ökologische Säule neu geordnet. Sie bildet nun das tragende Fundament für die ‹sozialen Beziehungen› (geleitet von Gerechtigkeit), für die ‹kulturelle und menschliche Entwicklung› (geleitet von Freiheit), und für die ‹wirtschaftliche Wertschöpfung› (geleitet von Liebe und Solidarität). Die Natur wird so nicht nur als eine von vier gleichwertigen Säulen verstanden, sondern als Grundlage, auf der alle anderen Dimensionen aufbauen.

Darüber hinaus wurde die Nachhaltigkeitsblume um die umfassende Dimension der ‹spirituellen und kosmischen Quellen› erweitert – eine Ebene, die laut dem Umweltaktivisten Paul Kingsnorth in den modernen westlichen Gesellschaften weitgehend verloren gegangen sei und deren Fehlen die Menschheit an den Abgrund führe. In dieser erweiterten Sichtweise finden sich auch Themen wie die Begleitung alter, sterbender gesellschaftlicher Strukturen, das Anerkennen geschichtlicher Schatten sowie die Entwicklung von Bewusstseinsräumen und Gesprächsfähigkeiten in Situationen, in denen die Würde des Menschen verletzt wird. Ein bereits lang bestehender Hinweis auf diese neue Herangehensweise findet sich bei Rudolf Steiner: «Unter Schmerzen hat unsere Mutter Erde sich verfestigt. Unsere Mission ist es, sie wieder zu vergeistigen, zu erlösen, indem wir sie durch die Kraft unserer Hände umarbeiten zu einem geisterfüllten Kunstwerk.» (GA 284, 5./6. April 1909, 1992, S. 113)

So entsteht ein ‹angemessener Anthropozentrismus› – ein positives Bild von uns Menschen als Mitgestaltende der Erde und der Erde als unsere Schicksalssubstanz. Nachhaltige Entwicklung schreitet damit vom politischen oder wirtschaftlichen Ziel zu einer ‹Kunst des Werdens›, die äußeres Handeln mit innerer Schulung und spiritueller Verantwortung verbindet.

Erste Grafik des neuen Narratives, Visualisierung: Priska Lang

Publikation

On the Earth We Want to Live – Anthroposophy’s Contributions to Sustainable Development

Im November dieses Jahres erscheint ein Kompendium, in dem 75 Co-Autorinnen und Co-Autoren der Frage nachgehen, welchen Beitrag die Anthroposophie in ihrer praktischen Umsetzung zur nachhaltigen Entwicklung leisten kann. 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie 26 Unternehmen teilen darin ihre Perspektiven. Zudem wird eine Erweiterung des bisherigen Verständnisses von nachhaltiger Entwicklung erarbeitet, wo die inneren und geistigen Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung konkret beleuchtet werden. Die Initiative ging von der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum aus und ist im Fachbereich für nachhaltige Entwicklung der Sektion verankert. Herausgegeben wird das Werk vom Verlag Springer Nature (in der Reihe ‹World Sustainability Series›), einem der weltweit führenden Wissenschaftsverlage mit fast 200 Jahren Geschichte.

Eines der Ziele dieser Arbeit ist, Brücken zu bauen zwischen dem Diskurs und den Fachbereichen der nachhaltigen Entwicklung, der Anthroposophie und ihrer Weltbewegung sowie dem Goetheanum als Freier Hochschule für Geisteswissenschaft. Johannes Kronenberg und Edith Lammerts van Bueren haben die Publikation zusammengestellt und mitgeschrieben. Am 24. September wurde die Arbeit an der Heliopolis University for Sustainable Development (eine Sekem-Initiative) in Kairo vorgestellt.

Digital frei verfügbar und als Print bereits bestellbar über: link.springer.com/book/9783031987571


Titelbild Porträt der Teilnehmenden am World Goetheanum Forum 2025 in Sekem, Foto: Samuel Knaus

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