Nachhaltige Entwicklung skalierbar machen

Die Konferenz ‹Sustainable Development for Global Impact› an der Heliopolis-Universität ging dem WGA-Forum voran. Teilnehmende waren Professoren, Wissenschaftlerinnen, Studierende, Politikerinnen, Politiker und Gäste. Die Heliopolis-Universität bezieht, entsprechend ihrer Mutterorganisation Sekem, Kultur als Bereich menschlicher Entwicklung mit ein. In der wissenschaftlichen Beleuchtung wird die Notwendigkeit dieser Komponente evident. Sekem veranschaulicht sie als gelebtes Beispiel. Andrea Valdinoci sprach mit Naglaa Ahmed, Ahmed Elshazly und Helmy Abouleish über die Skalierbarkeit dieses Beispiels.


Braucht der sogenannte globale Süden so etwas wie eine grüne Transformation oder nicht?

Helmy Abouleish Ja, und das nicht nur, um meine Freunde im globalen Norden persönlich zu entlasten. Ich glaube, nachhaltige Entwicklung ist etwas, das der globale Süden genauso braucht wie der globale Norden, der Westen und der Osten. Die ganze Welt braucht nachhaltige Entwicklung. Sie ist kein Luxus, sondern ein Katalysator für höhere Effizienz, höhere Produktivität, höhere Rentabilität, für ein besseres Leben, für mehr Gerechtigkeit, für menschliche Entwicklung und für die Entwicklung der Gemeinschaft in unserem Verständnis.

Transformation im globalen Süden oder wahrscheinlich überall auf der Welt beginnt oft mit einer scheinbar unerreichbaren Mission, mit neuen Ideen, neuen Initiativen. Und in diesem Sinne war Ibrahim Abouleish der Erste, den ich kenne, der diese Ideen in Ägypten hatte. Entgegen aller Erwartungen konnte in Ägypten vor 48 Jahren Wüstenland durch biologisch-dynamische Landwirtschaft urbar gemacht werden. Wir konnten zeigen, dass es keine bessere Methode dafür gibt als eben diese Methode. All dies konnte systematisch entwickelt werden. Und heute sind Tausende von Landwirten und Landwirtinnen Teil der ägyptischen Vereinigung für biologisch-dynamische Landwirtschaft. Und ich denke, wir werden es schaffen, bis zum Jahresende 40 000 Bauern bei der Umstellung unterstützt zu haben.

Ohne die Ökonomie der Liebe, die dahintersteht, können wir die biologisch-dynamischen Rohstoffe nicht so nutzen und mit allen Verantwortlichen in der Lieferkette so zusammenarbeiten, dass jeder sein Potenzial entfalten kann. Jeder kann leben, jeder kann ein sinnvolles Leben mit genügend Sicherheit führen, um sich wirklich zu entfalten. So wäre ein Wunder möglich. Die Ökonomie der Liebe gibt vom Landwirt bis zur Endverbraucherin jedem die Chance, sich zu entwickeln, ein sinnvolles Leben zu führen, die wahren Kosten zu berechnen und die Auswirkungen unseres Handelns zu messen. Es brauchte auch unseren Fokus auf die menschliche Entwicklung. Das war von Anfang an unsere wichtigste Aufgabe und ist bis heute unsere wichtigste Aktivität.

Wie würdest du, Naglaa, das beschreiben? Was ist die Grundlage dafür, dass ihr so eine Kraft in der Skalierbarkeit bezogen auf die Landwirtschaft entwickelt habt?

Naglaa Ahmed Die kontinuierliche Entwicklung jedes einzelnen Gemeinschaftsmitgliedes ist sehr zentral, denn diese große Transformation gelingt vermutlich nur als Gesamtgesellschaft. Und wir bilden Orte der Gesamtverantwortung. Auf vielen Ebenen haben wir für diesen Prozess eine Vision bis 2057 für Sekem und im gewissen Sinne auch für Ägypten in verschiedenen Bereichen entwickelt. Im Agrarbereich besagt sie im Wesentlichen, dass die 7 Millionen ägyptischen Bauern ihr Land biologisch-dynamisch oder zumindest biologisch bewirtschaften. Die Heliopolis-Universität ist und soll ein Ort werden, wo wir uns alle auf diesem Weg ausbilden können. Wie gelangt man von einer Vision zu Forschung, Prototyping, Upscaling, zum Erreichen des Wendepunkts, der kritischen Masse von 20, 25 Prozent? Wir versuchen, diesen Systemwandel zu bewirken, und haben dazu Strukturen aufgebaut, die einen solchen Prozess unterstützen.

Helmy Abouleish Für uns war die Visionsentwicklung der Wendepunkt. Wir wollen ein Innovationszentrum sein, ein Kompetenzzentrum für sozialen Wandel, in dem wir als Bürgerinnen und Bürger Ideen und Modelle nachhaltiger Entwicklung in unserer Gesellschaft verbreiten. Wir wollen weiteren Bauernhöfen ermöglichen, auf biologisch-dynamische Landwirtschaft umzustellen. Wir hoffen, dass unser Modell die gesamte ägyptische Gesellschaft erreicht und jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft in Berührung kommt. Mit der Ökonomie der Liebe, integrativer Gesundheit, ganzheitlicher Bildung und Forschung.

Was ist aus eurer Sicht notwendig, damit diese Transformation gelingt?

Helmy Abouleish Zentral war für uns, zu verstehen, was die wahren Kosten der landwirtschaftlichen Produktion sind. Da kam uns sehr entgegen, dass die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) in Rom 2023 einen Bericht veröffentlichte, aus dem deutlich hervorging, dass die versteckten Kosten der konventionellen Landwirtschaft und der Lebensmittelsysteme 11,7 Billionen Dollar pro Jahr betragen. Im Vergleich dazu beträgt die Weltwirtschaft 101 Billionen Dollar. Das sind also 11 Prozent der Weltwirtschaft. Was bedeutet das möglichst konkret? Dass jede billige Tomate im Verbraucherpreisindex für 1 Dollar eigentlich 3 Dollar kostet und eine teure Biotomate für 2 Dollar viel billiger ist als die sehr billige konventionelle. Das hat die FAO zwei Jahre in Folge weltweit verkündet: Bio ist effizienter und günstiger. Schön zu wissen, aber was können wir tun? Niemand will die Preise ändern. Niemand will das integrieren. Deshalb waren wir froh, dass der IPCC, eine weitere Organisation der Vereinten Nationen, schon 2019 einen Bericht vorgelegt hatte, in dem es im Wesentlichen hieß: «Konventionelle Landwirtschaft trägt maßgeblich zum Klimawandel bei. Ein großer Teil, 27 Prozent der Emissionen, entfällt auf Land- und Forstwirtschaft.»

Naglaa Ahmed Die Landwirtschaft ist also Teil des Problems. Aber es heißt auch: «Biologische und biodynamische Landwirtschaft können das Problem des Klimawandels potenziell lösen. Richtig betrieben, können Gigatonnen CO2 in Böden und Bäumen gebunden werden.» Daraus ist die Idee der Emissionszertifikate für unser seit vielen Jahren bestehendes ‹Economy of Love›-Programm entstanden. Gemeinsam mit der Heliopolis-Universität haben wir Methoden zur Messung von CO2-Emissionen in Böden, Bäumen usw. entwickelt. Nach einem Prototyping in Ägypten haben wir eine Berechnung entwickelt, die im Wesentlichen dem IPCC entspricht. Unsere 7 Millionen ägyptischen Bauern stoßen 20 Millionen Tonnen CO2 aus. Sie könnten möglicherweise 40 oder 50 Millionen Tonnen binden. Die Frage ist, wie wir ihre Ökosystemleistungen bezahlen können. Wir entwickeln CO2-Zertifikate und geben sie an die Bauern, die sie wiederum in Ägypten an Firmen verkaufen können, die damit ihre CO2-Bilanz verbessern wollen. Mit dieser Idee kann der biologisch-dynamische Landwirt in Ägypten ca. 35 Prozent seines gesamten Einkommens über diese Zertifikate generieren und damit seine Produkte bzw. die Tomaten tatsächlich zu 1 Dollar verkaufen. Allerdings ist die Qualität höher und der Kunde tut etwas Gutes für die Umwelt. So funktioniert diese Kooperation mit den heute fast 40 000 Bauern, die wir in den nächsten Jahren auf 250 000 ausbauen wollen.

Helmy Abouleish Wenn wir das erreicht haben – und es sind noch viele Schritte dafür notwendig und wir werden auch auf starke Hilfe von außen weiter angewiesen sein –, dann möchten wir wieder hier zu einer Konferenz einladen und gemeinsam schauen, ob der Systemwandel gelungen ist. Schon heute kann man in Indien, wo mehr als 150 000 biologisch-dynamische Bauern aktiv sind, und auch in Kenia, mit über 10 000 biologisch-dynamischen Bäuerinnen, sehen,  welche Auswirkungen entstehen für die Familien, Gemeinschaften und die Erde.

Ihr habt schon sehr viel erreicht und verfolgt weiterhin große Ziele. Wie kam es zu dem Fokus auf Skalierbarkeit und Verbreitung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft?

Ahmed Elshazly Nur so können wir die in der Economy of Love verankerte Vision erreichen. Gleichzeitig tragen wir durch unser Know-how und die Substanz, die wir geschaffen haben, auch eine Verantwortung, daran weiterzuarbeiten. Aber es bedarf viel für diesen Weg – vor allem unserer Kreativität, unseres Urteilsvermögens und unserer Werte – um sicherzustellen, dass dies gelingen kann. Eine der eindringlichsten Botschaften, die während der gesamten Veranstaltung gestern und heute wiederholt wurden, war, dass nachhaltige Entwicklung nicht Verzicht bedeutet. Es geht darum, gemeinsam voranzugehen. Es geht nicht um Einschränkung, sondern um Umverteilung, nicht um Begrenzung, sondern um die Befreiung von Potenzial, Möglichkeiten und Vorstellungskraft. Wir wurden aufgefordert, der Jugend einen Platz am Tisch einzuräumen, generationenübergreifendes Vertrauen aufzubauen und der Welt zu zeigen, dass nachhaltige Entwicklung kein Verlust, sondern ein Sinngewinn ist: Lebensqualität und die Freude, mit der Erde und miteinander verbunden zu sein. Wie geht es also weiter? Wir nehmen das, was hier präsentiert und erarbeitet wurde, mit und bringen es in unsere Labore, Klassenzimmer, Bauernhöfe, Ministerien und Sitzungssäle. Wir versuchen, Forschungsergebnisse in nationale Richtlinien, Workshop-Vorträge in Start-ups und Konferenzgespräche in branchenübergreifende Kooperationen zu verwandeln. Wir wollen Institutionen transformieren, aber auch die Kultur, die sie brauchen, um transdisziplinäre, transformative und wirklich inklusive Innovation zu unterstützen. Dies ist nicht das Ende unseres Engagements für die Ziele zur nachhaltigen Entwicklung mit globaler Wirkung. Es ist der erste Schritt in einem fortlaufenden, lebendigen Prozess der Erneuerung, des Experimentierens und der Wirkung. Wir freuen uns, das Narrativ der nachhaltigen Entwicklung mit unseren Partnern und Freunden aus aller Welt in den nächsten Tagen beim WGA-Forum in Sekem neu zu greifen.


Kontakt Naglaa Ahmed naglaa.ahmed@ebdaegypt.org Ahmed Elshazly ahmed.elshazly@hu.edu.eg Helmy Abouleish helmy.abouleish@sekem.com

Bild Kennenlernen am Abend (WGA-Forum), Foto: Samuel Knaus

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