Musik als Lebensmittel

Kassel/Deutschland. Christoph Quadflieg, Heilpädagoge, Gesangslehrer, Chorleiter und Sänger, betreibt im Kasseler Hauptbahnhof bis zum 16. September das Sing’in: einen Ladenraum, in dem Menschen sich in ihrer Musikalität erleben können. Im Interview berichtet er von der Initiative, die vorerst 100 Tage existiert. Wer die Weiterführung unterstützen möchte, kann mit Quadflieg in Verbindung treten.


Was ist Ihre Intention im Sing’in?

Ich möchte einen Ort schaffen, an dem alle Mitarbeitenden täglich eine kurze Zeit singend künstlerisch arbeiten. Ein Café sollte es sein und auf der Speisekarte fänden sich dort auch zehn Minuten Singen, Plastizieren, Eurythmie, Malen, Denken oder Spielen. Hier gäbe es keinen Anspruch an ein Studienziel, keine ‹Besten›. Menschen erlebten sich arbeitend und könnten auf jedem Bildungsstand beginnen. Jetzt ist es erst einmal ein Laden ohne Café und nur mit Musik als Lebensmittel.

Welche Begegnungen im Laden sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Tag 3: «Um ’46 fährt mein Zug.» Die Frau will das Lied ‹Maienwind am Abend› singen. Wir singen es mit zartem «dim», den Abschluss mit «la, la». Es wird ganz leicht, sie strahlt. Am Abend erhalte ich eine SMS: «Das war das Beste vom Tag – der Maienwind, danke! Tolle Idee.» Tag 22: Der junge Marokkaner kennt gar kein Lied, also singt er mir einen Ton nach mit «o». Nach und nach sollen Lippen, Nase, Augen, Ohren, Scheitel und zuletzt noch ein Gefühl das «0» mitbilden. Nach einem warmen und strahlenden Ton verlässt er sichtlich beglückt den Laden. Tag 67: Ein ordentlich gekleideter Mann mit Rucksack, Isomatte, ohne Geld: Wir singen «He, ho, spann …» – er unter Tränen. Er wird ruhig, ich sage: «Das klingt schön», er antwortet, er habe alles falsch gemacht. Ich spiele das Nachspiel der trauernden Pamina – dieses Leid klingt durch die Musik so schön. Ruhig verlässt er den Laden nach 15 Minuten.

Warum ist Musik und besonders Singen so nahrhaft?

Eben noch habe ich mit ihnen gekaut, geschluckt, geschrien und gelächelt – jetzt gerade werden alle diese Körperpartien und -funktionen dafür gebraucht, einen schönen Ton und Laut zu singen. Dies ist das sinnliche Ergebnis eines sehr weitgehend oder voll bewusst erlebbaren Denk-, Hör-, Fühl- und Bauprozesses. Ich erlebe mich Wirklichkeit erschaffend. Wir vermögen auf diese Weise die Sehnsucht, das Bedürfnis nach Kunst von Hindernissen freizulegen.


Kontakt quadfliegc@t-online.de

Bild Christoph Quadflieg im Sing’in im Hauptbahnhof Kassel, Foto: Gabriele Wolf

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