Mit jungen Augen

Was kann die Philosophie gegen die Verunsicherung tun? Das fragten zwei Journalisten der ‹NZZ›1 vor einigen Jahren Peter Sloterdijk.


Man müsse, so antwortete der Philosoph, eine Geschichte erzählen, in der die Verunsicherten sich wiederfinden könnten. Diese Erzählung müsse bis in die Französische Revolution reichen, denn seit dieser politischen Wende befänden wir uns in einer fortlaufenden Revolution, einem «chronischen Unruhegeschehen». Seit Erfindung der Dampfmaschine würden technische Revolutionen und politische Revolutionen aufeinander folgen, die zusammen auch die Seele vor einer fortwährenden Revolution nicht verschonen.

Bild: Friedrich von Hardenberg (Novalis), Stahlstich von Friedrich Eduard Eichens, 1845

Dann folgte Sloterdijks überraschender Gedanke: «Wenn die Menschen unglücklich sind, dann hat es damit zu tun, dass es uns heute nicht gelingt, eine überzeugende Romantik zu erzeugen.» Zur Zeit Napoleons sei es geglückt, die Verunsicherung dadurch zu bewältigen, dass man «romantisch investierte». Trotz Sehnsucht nach Romantik gelinge das heute nicht mehr. Die Journalisten, die vermutlich nicht mit ‹Romantik› als Schlüssel heutiger Probleme gerechnet hatten, fragten hier nicht nach. Fragen wir: Wie gelingt es heute, wie Novalis es von sich sagt, dem Bekannten die Würde des Unbekannten zu geben, dem Endlichen den Anschein des Unendlichen? Gemeint ist, mit neuen Augen zu schauen. Alles Wissen, alle Klugheit zurückzuhalten und unbefangen zu sehen, zu hören. Eine sich dramatisch wandelnde Welt ist eine junge Welt. Aus der Vergangenheit gewonnene Klugheit schlägt da die Tür häufiger zu, als dass es sie öffnet. Novalis ist nur 28 Jahre alt geworden. Auch das ein Hinweis: Romantisieren heißt, mit jungen Augen schauen. Das sind die Augen für eine jung gewordene Welt.

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Footnotes

  1. ‹Zerbricht unsere Gesellschaft?›, Interview vom 2. März 2016 von Marco Färber und Markus Spillmann in ‹nzz Standpunkte›

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