Nach dem 29. September haben wir für gewöhnlich Michaeli schon wieder vergessen. Die tiefere Atmosphäre dieses Festes zieht sich jedoch durch das ganze Jahr und ist Bestandteil des großen spirituellen Festes, das wir in diesen schwierigen Zeiten erleben. Nach dem pandemischen Mega-Ereignis und dem Ausbruch des Krieges in Europa ist ein ungewöhnliches Gemälde auf Madeira eine Betrachtung wert.
Als ich eines Tages durch eine enge Straße von Funchal, Hauptstadt der Insel Madeira, ging, stieß ich zufällig auf die alte Tür eines Museums für sakrale Kunst. Damals besuchte ich auf Initiative einer Waldorf-Pionierin dieses kleine, wunderbare Felsen- und Blumenparadies mitten im Atlantik. Aus reiner Neugierde, ob nach der Entdeckung des Archipels durch die Portugiesen im Jahre 1419 das Motiv von Michael und dem Drachen auch in dieser einsamen Gegend im Meer bekannt war, durchsuchte ich alle Räume des Museums und fand nichts. Nach einem Gespräch mit dem Direktor erfuhr ich, dass das Museum an anderer Stelle doch etwas zu diesem Thema hatte. So fand ich im Foyer auf einem schlecht beleuchteten Treppenabsatz ein altes Gemälde, das als einsame Zierde an der Wand hing. Sofort fielen mir viele Details auf.
Das Ungeheuer hat seine düstere und schalldichte Wohnstatt in der Höhle unter einer Felsklippe. Dies ist die ideale, dunkle Behausung Ahrimans, der mit der mineralischen Welt verbunden ist, dem Reich der Natur mit der dichtesten, anorganischsten Substanz des Planeten. Oben auf der Klippe befindet sich eine stark befestigte Zitadelle, die eine alte menschliche Gemeinschaft symbolisiert, die noch stark in sich selbst verschlossen und vom Rest der Welt isoliert ist. Der Drache hat sein unterirdisches Versteck verlassen und ist in den lebendigen, grünen und organischen Außenraum eingedrungen. Die zarte weibliche Gestalt in der Landschaft im Hintergrund erscheint mir als Symbol einer individuellen Seele, eines menschlichen Ichs, das sich aus dem zurückgezogenen und verschlafenen sozialen Milieu der Zitadelle befreit hat. Sie befindet sich nun in einer unwirtlichen Bergregion und muss die erste bittere Prüfung der Freiheit bestehen: die totale Einsamkeit. Die rote Toga, die sie umgibt, scheint ihre Willenskraft zu unterstreichen, während die vor dem Herzen gekreuzten Arme ihre innere Haltung ausdrücken – die der Ruhe und Liebe.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde Michael auf der ganzen Welt in zahlreichen ikonografischen Darstellungen abwechselnd als unerschrockener Soldat in voller Rüstung, der mit den Füßen auf dem Ungeheuer selbst steht, oder als imposanter Krieger dargestellt. Oder auch als geflügelte übermenschliche Gestalt, die sich in himmlische Höhen erhebt und manchmal von bewaffneten Engeln begleitet wird, die gemeinsam gegen den Drachen kämpfen. Diese verschiedenen archetypischen Darstellungen haben ihren Ursprung vor allem in der christlichen und jüdischen Tradition. Interessant und weniger bekannt ist, dass es auch in der islamischen Lehre (Koran Sure 2:98) einen ‹Mikal› gibt.
Ruhe und Entschlossenheit
In diesem Gemälde, das in der Mitte des Atlantischen Ozeans eine fast heimliche Existenz führt, versucht Michael im Gegensatz zu den meisten emblematischen Traditionen nicht, das Ungeheuer anzugreifen, zu überwältigen, zu verletzen oder zu töten. Sein in die Luft gehobenes Schwert ist keineswegs gegen den Drachen gerichtet, und perspektivisch betrachtet wirkt seine bescheidene Waffe eher wie ein spiritueller Schild, der die menschliche Figur in der Landschaft im Hintergrund schützt. In diesem Kunstwerk benutzt Michael als Vehikel ein strahlend weißes Pferd voller Lebenskraft. Es zeigt den Reitschritt Piaffe, der eine äußerst präzise Beherrschung erfordert und einer der komplexesten Schritte der Reitkunst ist. Die Physiognomie Michaels strahlt nicht den kriegerischen Eifer z. B. eines ungestümen Samurai-Kriegers aus. Sein Blick ist nicht einmal direkt auf den Gegner gerichtet. Sein ganzes Gesicht zeigt Gelassenheit und Ruhe, begleitet von einer festen Entschlossenheit. Überraschenderweise spiegelt der Gesichtsausdruck des Pferdes den gleichen Charakterzug. Es ist interessant zu vergleichen, wie in anderen Darstellungen die Konfrontation zwischen Michael und dem Drachen mit sehr unterschiedlichen Details dargestellt wird. Eine zeigt zum Beispiel Michael nach einem ersten, distanzierten Angriff mit einer Lanze gegen das Ungeheuer. Der scharfe Speer hat das Ungeheuer bereits an einer Stelle verwundet, aber die durchdringende Waffe ist zerbrochen und liegt blutverschmiert am Boden. Eine andere Variante zeigt die zerbrochenen Reste der Lanze am Boden und Michael, der mit einem mächtigen, glänzenden Schwert zum entscheidenden Schlag ausholt.
Eine bemerkenswerte Besonderheit auf diesem ungewöhnlichen Bild auf Madeira ist, dass der Drache ohne sein berühmtestes Attribut erscheint: Aus seinem Maul schlagen keine Flammen. Der Grund liegt auf der Hand: Ein dicker, rudimentärer Baumstamm durchbohrt den Rachen des Ungeheuers! Beide Enden des Stammes sind rau und zersplittert, ohne eine scharfe Spitze, die zum Eindringen geeignet wäre. Es kann sich also nur um das einzigartige und mutige Werk von Menschen handeln, die in Zusammenarbeit mit Michael im Voraus gehandelt haben, während das Ungeheuer noch seine Flammen spuckte.
In Gemeinschaft mit Michael
Dieses Detail wirft ein Licht auf einen noch wenig verstandenen Zug der michaelischen Imagination. Man darf sich Michael nicht als ein Wesen vorstellen, das allein und auf eigene Faust handelt. Angesichts der Konfrontationen mit den Abgründen, wie wir sie derzeit weltweit erleben, kann jede und jeder Einzelne von uns in Gemeinschaft mit Michael eine kooperative Anstrengung unternehmen, sozialer und spiritueller Art, die den neuen Herausforderungen angemessen ist. Die berühmten Flammen aus dem Rachen des Drachen können virtuell mit den Reden verglichen werden, die heute sintflutartig aus Medien und menschlichen Mündern kommen und versuchen, in das Bewusstsein der Massen einzudringen. Wie das diktatorische Schauspiel ab 1933 gezeigt hat, haben Worte eine wahrhaft hypnotische Wirkung. Das unbehandelte soziale Karzinom von 1914 bis 1918, wie es Rudolf Steiner beschrieben hat, ist heute auch spürbar. Es zielt unter anderem darauf ab, den kulturellen Beitrag der Geisteswissenschaften und die wachsende brüderliche Sozialität der neuen Generationen zu blockieren. Dies erinnert unmittelbar an die Tyrannei der mittelalterlichen Kirche, die im Jahr 869 den Geist als wesentlichen Teil der menschlichen Konstitution unterdrückte und damit dem Materialismus und der irrationalen Angst vor dem Tod Tür und Tor öffnete.
Vertrauen in die eigenen Kräfte
In diesem ungewöhnlichen Gemälde steht ein einfacher Baumstamm, der von Menschen gemeinsam gefällt, bearbeitet und zielstrebig angewandt wurde, symbolisch für das, was heute neben allen materiellen Anstrengungen auch kollektiv in der Gesellschaft praktiziert und in der geistigen Tiefe jedes Einzelnen kultiviert werden sollte: das Vertrauen in die eigenen angeborenen Kräfte und in die ständige Gegenwart Christi und der Hierarchien, die die großen Evolutionsschritte der Menschheit weise leiten. Wie in der Biografie eines jeden Menschen gibt es Momente der Krise (vom griechischen ‹krino›, was einfach ‹Übergang zu einer neuen Stufe› bedeutet), um neue Bewusstseinsfortschritte und die Fähigkeit zu fördern, in der großen Universität, die Erde genannt wird, zu arbeiten. Die neue Bewährungsprobe der barbarischen Kriege im Herzen Europas und im Nahen Osten, mit unvorhersehbaren Folgen für den ganzen Planeten.
Georg und Michael
Die seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen der Welt und in unterschiedlichen Darstellungen bekannte Geistgestalt Michael (ein Erzengel, heute zum Archai erhoben) wurde im Laufe der jüngeren Geschichte, vor allem aus politischen und kirchlichen Gründen, parallel mit der mythologischen Menschengestalt Sankt Georg gleichgesetzt. Dies geschah vor allem während der kolonialen Expansion des British Empire, sodass auch heute noch die würdige Auszeichnung/Medaille ‹Order of Saint Michael and Saint George› von König Charles an Persönlichkeiten mit bedeutenden Verdiensten verliehen wird. «Wir alle kennen es ja, dieses Zeichen, welches ein übersinnliches Wesen darstellt – sei es der Erzengel Michael, sei es der heilige Georg – tottretend, überwindend den Drachen. Das ist die bildliche Darstellung des dritten Christus-Ereignisses: der Erzengel Michael oder Sankt Georg, der spätere nathanische Jesusknabe, durchseelt von der Christus-Wesenheit. Daher gibt es die erzengelhafte Gestalt in den geistigen Welten. Und die Überwindung des Drachens bedeutet die Unterdrückung desjenigen im menschlichen Denken, Fühlen und Wollen – also in der Leidenschaftsnatur des Menschen –, welches Denken, Fühlen und Wollen durcheinanderwerfen würde, in Unordnung bringen würde.» (Rudolf Steiner, GA 148, S. 195) «In Zeiten, die unserer Gedankenentwickelung vorangingen, gestalteten sich schon die Vorboten eines Bildes, das in unsere Zeit hereinragt, aber noch nicht richtig verstanden wird. Als am Ende der atlantischen Zeit Christus durchseelte diese Seele, welche später Jesus von Nazareth wurde, bewirkte dies, dass es eine Wesenheit gab, welche immer Herr wurde über die wild durcheinanderstürmenden Affekte, Sieger wurde über das zu dichten Gebilden werdende Denken, Fühlen und Wollen. Das stellte sich die Menschheit hin in dem Bilde vom heiligen Georg oder dem heiligen Michael, dem Drachenbesieger. Das ist unmittelbar der imaginative Ausdruck des dritten Vorboten des Ereignisses von Golgatha.» (Rudolf Steiner, GA 152, S. 123 f.)
Interessantes Bild. Es handelt sich allerdings um Georg, nicht um Michael. Michael hat Flügel und bekämpft nicht den Drachen, sondern den Teufel. Es ist Georg, der das Ungeheuer besiegt und damit die Prinzessin rettet, von der auf Ihrem Ausschnitt ein Teil zu sehen ist. Auf Michael-Bildern gibt es keine Prinzessin. Wenn Sie das Bild komplett fotografiert haben, wäre es nett, wenn Sie mir die Bilddatei per mail zuschickten. Ich schreibe einen Roman, in dem jemand vorkommt, der Bilder von Sankt Georg sammelt und vergleicht, ich als Autor interessiere mich daher für die verschiedenen Georg-Darstellungen. Gruß, Joseph von Westphalen