«Am farbigen Abglanz haben wir das Leben», sagt Faust in der Ariel-Szene. Wer sich für das Menschenwesen interessiert, wird gewahr, dass kein Mensch nur schwarz oder weiß ist.
Das naive Gefühlsleben möchte es gern vereinfachen und alles in diese zwei Kategorien sortieren. Diese Neigung zum Dualismus steigt in Zeiten von Kriegen wie auch in der aktuellen Krise, schafft Feindbilder und verhärtet Fronten, die sich gegenseitig zerstören möchten. So, wie die Welt aus einer Begegnung von Licht und Finsternis entstanden ist, so trägt auch jedes Wesen in sich Licht und Finsternis. Eine anthroposophische Betrachtungsmethode möchte den Dualismus aktiv überwinden, um über Polaritäten und Gegensätze hinaus den Bereich des ‹Werdens› betreten zu können, dort, wo gemeinsame Zukunftsperspektiven zu leuchten beginnen, wo die große Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse zerfällt und sich die Welt in ihrer Komplexität zu ordnen beginnt, wo Farben zwischen Licht und Finsternis erscheinen.
Diese Art der Betrachtung kann sowohl für Individuen wie auch für verschiedenste Menschengruppen gelten. Bald erkennt man, dass genau dort, wo bestimmte Werte am Wirken sind, sich auch gleichzeitig deren Gegenteil findet. Die Vereinigten Staaten, in denen die Freiheit als oberster Wert anerkannt ist, haben beispielsweise die höchste Rate an inhaftierten Menschen auf dem Planeten. In China, wo man eine Neigung zu einer allumfassenden Liebe erkennen kann, die die Einheit des Volkes über alles stellt, entwickeln sich Sozialkreditsysteme und eine Atmosphäre des permanenten Wettbewerbs unter Bürgerinnen und Bürgern. Genauso könnte man die Widersprüche untersuchen, die einem sozialen Organismus wie dem Goetheanum innewohnen, in dem sich ein freies Geistesleben auf der Basis sozialer Geschwisterlichkeit zu entwickeln sucht. Widersprüche betrachten zu können, ohne wegzuschauen, öffnet den Blick auf das Drama und die Biografie der Wesen. So kann man, im farbigen Abglanz, das Werden erkennen.
In seinem Artikel über Licht und Schatten meint Louis Defeche, in China eine „Neigung zu einer allumfassenden Liebe“ erkannt zu haben. Mich würde interessieren, in welcher Gegend der Volksrepublik China der Autor gelebt hat, d.h. wo er diese „Neigung zur allumfassenden Liebe“ festgestellt hat. Fußt diese Erkenntnis auf realen Erlebnissen in China? Oder leitet er es rein theoretisch aus der Philosophie ab.
Die Realität in der Volksrepublik China hat nichts mit Liebe zu tun sondern mit Überwachung, Diktatur und Unrecht. Jedwede Empathie wurde gründlich ausgetrieben. Und zwar soweit, daß sogar schwerverletzte Verkehrsteilnehmer (oder ein niedergestochener Passant) auf der Straße liegen gelassen werden. Das im Artikel erwähnte social credit System ist dabei noch das kleinste Übel.
Ein solcher Artikel steht für mich in luftleerem Raum.