Nach den Pager-Anschlägen und dem Tod von Hassan Nassrallah droht weitere Eskalation im Nahen Osten. Die Hisbollah unterstützt die palästinensische Hamas. Israels UN-Botschafter Danny Danon spricht von Selbstverteidigung. Kann je Ruhe in diese gesamte Situation einkehren, in der Rache die treibende Kraft ist?
Etwas naiv lande ich in dem Telefongespräch mit Faten Mukarker. Ich wollte sie schon letzten Herbst kontaktieren, als die neue Welle der Gewalt in Israel/Palästina ausbrach, und wusste nicht, wie. Heute kommt mir die Idee, ich könne ihr das Gedicht des jungen Israeli Omer Eilam zukommen lassen, das in der Redaktion eingegangen ist, und vielleicht könne sie darauf antworten. Sie ist sofort bereit, mit mir zu telefonieren. Im Hintergrund wird arabisch gesprochen, klappern Töpfe, läuft ein Radio. Faten ist palästinensische Christin und lebt seit 46 Jahren in Bethlehem, genauer gesagt in Bait Dschala, im Westjordanland. Ihr Deutsch stammt aus Bonn, wo sie aufgewachsen ist und gern geblieben wäre. Sie gehört zu einer ganz kleinen Minderheit im Geburtsort des Christkinds und sagt, dass die christliche Religion hier am schwersten zu leben sei. 99,2 Prozent der Palästinenser und Palästinenserinnen sind Muslime. Faten ist in eine griechisch-orthodoxe Gemeinde hineingeboren, aber das Leben hat aus ihr eine Mischung gemacht: Im Rheinland kam das Katholische dazu und dann, zurück in Israel, das Evangelische.
Bis ich richtig ankomme in ihrer Realität, dauert es eine Weile. Ich bekomme Internetseiten genannt, wo israelische Soldaten von ihren Erfahrungen erzählen,1 wo Ärzte und Ärztinnen ihre Berichte über die Gräueltaten abgeben, wo sogar der renommierte israelische Journalist Gideon Levy seine Landsleute kritisch befragt.2 Er beschreibt die israelische Gesellschaft als verfallen in Apathie, Gewalt und Grausamkeit. Und mir dämmert ein Dilemma: Die Palästinenserinnen und Palästinenser werden nicht gehört, auch wenn in deutschen Toiletten an vielen Türen ‹free Palestine› geschrieben steht. Im politischen Kontext fühlt sich Palästina, als hätten seine Stimme und sein Leid wenig Gewicht. Aus dieser Sprachlosigkeit muss Faten sich erst mal rausschälen, damit sie bei mir landen kann. Ich selbst werde immer schweigsamer, wie alle, die dem Wahnsinn von Macht und Ideologie nichts entgegenstellen können als die zerbrechliche menschliche Geschwisterlichkeit.
Als Fatens Sohn vor 24 Jahren Israel verließ und seiner Mutter sagte, sie solle mitkommen, denn das Land habe keine Zukunft, blieb sie trotzdem. Heute schreibt er noch das Gleiche und Faten fragt rhetorisch, ob sich in dieser Zeit denn nichts verändert habe. «Die Palästinenser brauchen ein Licht am Ende des Tunnels, eine Hoffnung, einen Staat», sagt sie. Dann erzählt sie, was ihre Enkelin letzte Weihnachten gesagt hat: «Wir feiern dieses Jahr keine Weihnachten, denn das Christkind hat Angst, zu uns zu kommen.»
Ihre Feinde zu lieben, wie ihre Religion ihr aufträgt, ist Fatens tagtägliche Herausforderung als Palästinenserin. Und sie ringt mit sich an dieser menschlichen Schmerzschwelle. Ihr ‹Feind› ist fühlbar, sehbar, greifbar. Die Mauer, die Israel 2002 zu bauen begann, um das Westjordanland abzugrenzen, führt direkt durch ihren Garten hindurch. Das Wasser, mit dem sie dort ihre Beete wässerte, wurde abgezweigt. Sie will so gern ein Bindeglied sein, das ‹Auge um Auge› der Geschwisterreligionen hinter sich lassen. Sie erzählt von einer Situation vor einigen Jahren, als es einen Anschlag der Hamas in Tel Aviv gab. Sie saß mit ihrer alten Nachbarin vor dem Fernseher. «Naja», sagte die Nachbarin selbstverständlich, «ihre Mütter sollen auch weinen, nicht immer nur unsere!» Faten war schockiert. «Was sagst du da? Wir sollen nicht töten, auch nicht mit Grund.» Die Nachbarin wachte wie aus einer Trance auf und betete zu Gott, dass er ihr verzeihen möge. Zu solchen Gefühlen Nein zu sagen, sei nicht einfach. «Aber wir müssen jetzt anfangen. Das braucht Mut.»
Aus ihrer Kindheit in Deutschland trägt Faten ein Bild mit sich: Jesus am Kreuz in einer katholischen Landschaft und darunter eine Bank mit einem Schild, worauf steht ‹Juden unerwünscht›. Sie konnte das nie nachvollziehen, denn für sie liegen im Judentum die Wurzeln ihrer eigenen Religion. Jesus war Jude. Als solche respektiere sie die israelischen Juden und Jüdinnen. «Ich versuche, in den Schuhen der anderen zu gehen, aber so schlimm, wie es gerade ist, mag ich manchmal nicht mal ihre Latschen anhaben.» Denn was meine das ‹Recht auf Verteidigung› eigentlich, auf das sich Israel und auch Europa beziehen, wenn der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich ein Aushungern des Gazastreifens befürwortet?3 «Mit all dem Geld dieser ganzen Waffen, die auf beiden Seiten so viel Leid gebracht haben, hätten wir ein Paradies bauen können», meint Faten, und ihre Stimme klingt fassungslos. Genauso fassungslos wie die Stimme der alten jüdischen Frau am Touristenkiosk, die mich in Jerusalem einmal fragte, woher ich komme. Als ich «aus Deutschland» antwortete, wurde ihr Blick stumpf. Ich wagte zu fragen, was diese Tatsache mit ihr mache. Sie erzählte, dass Teile ihrer Familie in Auschwitz geblieben seien und dass sie so froh sei, dass der Herr ihnen dieses Land gegeben habe, in dem sie sicher seien.
Sicher? Sicher ist es dort, wo Menschen im Namen des Friedens und für den Frieden zusammenkommen.
Faten und ich planen ein gemeinsames Gespräch mit Omer. Sein Gedicht lasse ich ihr nach dem Telefonat zukommen.
Bild Bait Dschala, Westjordanland. Foto: Gilabrand, Wikimedia