In den Grund der Seele senken

Fünfzig Jahre nach der Weihnachtstagung erinnert sich Arvia MacKaye Ege 1973 an dieses Ereignis.1 Einhundert Jahre weiter können wir das damalige Geschehen durch ihre Augen noch einmal erleben.


Wenn ich etwas über meine Erinnerungen an die Weihnachtstagung erzähle, kann ich das nur tun, indem ich die persönlichen Erfahrungen einer Person wiedergebe, die als sehr junger Mensch dabei war. Sie sind in meinem Herzen als eine der tiefsten Erfahrungen meines Lebens eingeprägt. Aus der Fülle jener Tage will ich versuchen, einige Bilder wiederzugeben […]:

Der Dornacher Hügel tief verschneit. Leuchtende, sternenklare Nächte. Kalte, funkelnde, klare Tage. Die Ruine des Alten Goetheanum – der graue, verkohlte Betonunterbau, teilweise von den Schneeverwehungen weggefegt, eine hagere, stumme Erinnerung an die tragische Nacht vor einem Jahr. Hinter den Ruinen und gleich darüber auf dem Hügel die niedrigen Holzbaracken der Schreinerei. Hier herrschte in den Tagen vor der Weihnachtskonferenz rege Betriebsamkeit. Die Wände des kleinen Auditoriums in diesem Gebäude wurden auf zwei Seiten herausgerissen, um den Saal zu den angrenzenden Außenwerkstätten hin zu öffnen. Niemand hatte mit einer so großen Zahl von Anreisenden gerechnet. Eine Atmosphäre intensiver Erwartung und Vorbereitung. Über Nacht trafen die ersten Menschen ein.

Erstes Goetheanum nach dem Brand. Bildquellen: Dokumentation am Goetheanum und Rudolf-Steiner-Archiv

Am 24. Dezember zogen lange Prozessionen durch den Schnee den Hügel hinauf, vorbei an den Ruinen, über die verschlungenen Wege, die steil aus dem Tal hinaufführen. Alle strömten zu der kleinen, verwitterten Tür der Schreinerei. Im Inneren füllten sich der Hörsaal und die angrenzenden Werkstätten allmählich bis zum Rand. Dicht an dicht gestellte Stühle füllten jeden verfügbaren Platz, auch die Bühne. Die Menschen saßen auf Stapeln von Brettern im Hintergrund, auf Werkbänken und allem, was sie finden konnten. In der bitteren Kälte war es unmöglich, den gesamten vergrößerten Raum angemessen zu heizen. Vor allem in den weiter entfernten Bereichen waren die Menschen in schwere Mäntel und Decken gehüllt. Die jungen Leute wurden gebeten, ihre Plätze den ankommenden Besuchern zu überlassen, und so standen viele von uns an den hinteren Wänden oder hockten auf den Fenstersimsen.

Ich stand in der Nähe einer großen Holzsägemaschine, kletterte darauf und fand einen etwas unsicheren Sitz auf einer kleinen Metallplatte. Von dort aus hatte ich das Glück, über die Köpfe der Versammelten hinweg auf das kleine Rednerpult am anderen Ende des Saales zu schauen, von dem aus Rudolf Steiner sprechen sollte. Diesen Platz, der nur für einen jungen Kletterer geeignet war, konnte ich glücklicherweise während der ganzen Konferenz behalten. Ein Gefühl von tiefem Ernst, von fast atemloser Erwartung und großer Festlichkeit durchzog die Versammlung. Es schien, als wären noch viele Vorbereitungen in letzter Minute im Gange. Dann, um 10 Uhr, betrat Rudolf Steiner das Podium. Die ruhige, bewegte Würde seiner zerbrechlichen, schwarz gekleideten Gestalt vor den blauen Vorhängen, die Kraft und die aufrechte Haltung seines Kopfes, die tiefe Güte und der Ernst seiner Züge, die unvergessliche Tiefe seines Blickes tauchen noch einmal in meiner Erinnerung auf. Einen langen Augenblick stand er schweigend da, wie es seine Gewohnheit war, bevor er sprach, eine enorme Stille umgab ihn. Dann ertönte seine tiefe Stimme, und mit einfachen, eindrucksvollen Worten eröffnete er die Weihnachtstagung und hieß alle Anwesenden willkommen.

In und aus Ruinen

Er sprach zuerst von der Bedeutung und nicht zu vernachlässigenden Tatsache, dass das Goetheanum und das Zentrum der Gesellschaft auf Schweizer Boden errichtet sei. Mit warmen Worten bat er Albert Steffen, den Schweizer Dichter, «unseren lieben und verehrten Freund», als ersten Redner auf das Podium. Herr Steffen sprach über ‹Geschichte und Schicksal des Goetheanum› und gab, sozusagen als Prolog zur Tagung, ein aufschlussreiches Bild von der äußeren und inneren Wirklichkeit dieses Gebäudes mit seinen hohen Säulen, geschnitzten Kapitellen und Architraven und farbigen Fenstern, das erst vor Kurzem vom Feuer hinweggefegt worden war. Dann, um 11.15 Uhr, hielt Rudolf Steiner die Eröffnungsrede zur Gründung der Gesellschaft in neuer Form, die er mit diesen Worten begann: «Wir beginnen unsere Weihnachtstagung zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft in neuer Form im Angesicht eines scharfen Kontrasts. Wir haben Sie, meine lieben Freunde, hierher in einen Trümmerhaufen einladen müssen! Diese Ruinen sind in vielerlei Hinsicht ein Symbol nicht nur für die äußeren Aspekte unseres Wirkens und Strebens in der Welt, sondern sie sind heute symptomatisch für die Weltverhältnisse insgesamt.» Wie sehr diese Worte nach fünfzig Jahren an Wahrheit gewonnen haben! «Sie sitzen hier», sagte er, «in diesem provisorischen Holzbau, den wir über Nacht ausbauen mussten, in diesem armen Haus, diesem furchtbar kargen Heim, inmitten der Ruinen. Viele von Ihnen haben bitterlich unter der Kälte zu leiden. Aber je mehr wir in die Stimmung und die Erkenntnis hineinfinden, dass diese ganze äußere Welt, die uns umgibt, eine Maya-Illusion ist, desto mehr werden wir in der Lage sein, jene starke, aktive Stimmung zu entwickeln, die wir für die kommenden Tage brauchen werden. […] Eine Offenbarung des Geistes hat sich der Menschheit eröffnet. Nicht aus irdischer Willkür, sondern aus dem Gehorsam gegenüber einem Ruf, der aus den geistigen Welten ertönt ist, […] ist der Impuls für die anthroposophische Bewegung geflossen. Diese anthroposophische Bewegung ist kein irdischer Dienst. Sie ist in ihrer Gesamtheit, bis in alle Einzelheiten hinein, ein göttlicher Dienst. Und wir werden die richtige innere Stimmung finden, uns ihr zu nähern, wenn wir sie in ihrem ganzen Umfang und in ihrer Gesamtheit als einen solchen göttlichen Dienst betrachten. So lasst es uns zu Beginn dieser Weihnachtskonferenz in unser Herz aufnehmen. Schreiben wir uns tief ins Herz, dass diese anthroposophische Bewegung die Seele jedes Einzelnen, der sich ihr hingibt, mit den Urquellen alles wesentlich Menschlichen in der geistigen Welt zu vereinen sucht; dass sie den Menschen zu jener letzten – und für ihn in der gegenwärtigen Stufe der menschlichen Entwicklung auf der Erde – befriedigenden Erleuchtung führen will, die sich in die Worte ergießt: ‹Ja, das bin ich als Mensch, als geistgewollter Mensch auf Erden, als gottgewollter Mensch im Universum›.»2

Arvia MacKaye Ege, um 1925, Foto: Doris Ulmann, Quelle: Hood Museum of Art, Dartmouthm, USA.

Rudolf Steiner legte dann die Grundsätze der neuen Gesellschaft dar und ernannte die Mitglieder des Vorstandes. Wer waren diese Persönlichkeiten? Ich will versuchen, sie kurz zu charakterisieren, wie ich sie von damals in Erinnerung habe. Rudolf Steiner, jener einzigartige Mensch, der als Gründer der Gesellschaft ihren Vorsitz übernahm und selbstlos ihr künftiges Schicksal mit dem Schicksal ihrer Mitglieder auf sich nahm. Albert Steffen, mit imposantem Kopf und Schultern, adlerartiger Nase, ungewöhnlich klaren, ruhigen Augen und empfindsamem Mund, den Rudolf Steiner als Mitbegründer der Gesellschaft bezeichnete – einer, der schon vor seiner Geburt Anthroposoph war – «der außergewöhnliche Dichter, dessen Anwesenheit in unserer Mitte wir als das größte Glück betrachten müssen». Guenther Wachsmuth, ein eifriger, wacher Wissenschaftler, damals erst Anfang dreißig, ein äußerst flinker, energischer, geschäftsführender junger Mann – blond, geschmeidig, wie ein junger Hermes. Frau Marie Steiner, diese schöne, so außergewöhnliche und dramatische Gestalt, um die ein Zauber des Geheimnisses lag und ohne deren Gaben und ungeheure Arbeit die Entwicklung der künstlerischen Arbeit und das frühe Wachstum der Gesellschaft nicht denkbar waren. Frau Dr. Ita Wegman, eine ziemlich große, aktive, warme und in gewisser Weise schlicht wirkende Frau mit seltsam ausdrucksstarken und fesselnden Augen – eine engagierte Ärztin –, um die eine Atmosphäre des heroischem zu schweben schien, während sie dahinging. Frl. Dr. Elisabeth Vreede, eine kleine, kompakte Person, von der man sich sofort vorstellen konnte, dass sie – wie Rudolf Steiner es selbst formulierte – jedes ‹t› kreuzte und jedes ‹i› punktierte, das sie jemals schrieb. Wir fragen heute, was Rudolf Steiner mit der Wahl dieser Persönlichkeiten als Gründungsvorstand für die Zukunft vorbereitet hat, wie wir mit ihnen verbunden und in das große Drama der Gesellschaft verwoben sind. Denn immer tiefer wird uns bewusst, dass diese Gesellschaft das große Mysteriendrama unserer Zeit ist – das Goetheanum das Zentrum der neuen christlichen Mysterien.

Nach dieser ersten und den vormittäglichen Zusammenkünften gab es während der ganzen Tagung nachmittags Aufführungen der unvergesslichen Weihnachtsspiele oder der Eurythmie und abends Rudolf Steiners Vorträge über die Weltgeschichte im Lichte der Anthroposophie, eine Vortragsreihe, die eng mit den Hintergründen der Gesellschaft verbunden ist. Jeder Tag war gekrönt von der ausströmenden geistigen Substanz und dem Leben, die aus den Abendvorträgen flossen. So gab es während der neun Tage der Konferenz kaum einen Moment, der nicht ausgefüllt war.

Auf den Grund der Seele

Am folgenden Tag, dem Weihnachtsmorgen um 10 Uhr, vollzog Rudolf Steiner die Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Wie er zehn Jahre zuvor den Grundstein für den Goetheanum-Bau in die Erde gelegt hatte, so legte er nun den Grundstein der neuen Gesellschaft in die Herzen ihrer Mitglieder. Niemals hatte ich ihn so gesehen, wie er damals erschien. Seine Augen leuchteten, er hatte eine Kraft und Majestät, die den Eindruck erweckten, als sei er zu großer Größe herangewachsen – eine Intensität und Aktivität, verbunden mit einer kosmischen Ruhe, die atemberaubend war und auf das hinwies, was noch kommen würde. Er eröffnete diese Veranstaltung mit drei kräftigen, einschneidenden, gemessenen Schlägen mit dem Hammer auf das Rednerpult, wie sie im Tempel bei den Mysterienspielen gegeben werden. Es war, als ob sich der Raum mit unsichtbaren Zuschauern füllte. Als er dann zum ersten Mal die Worte des Grundsteinspruches ‹Menschenseele […]› sprach, war es, als spräche er in dieser kleinen Schreinerei nicht nur zur ganzen Erde, sondern zu den versammelten Himmeln – als wäre er wie eine Sonne geworden, lichtausgießend, seine Stimme wie Gold, ein michaelisches Feuer, welches seine Worte durchdrang. An diesem Weihnachtsmorgen ergoss sich etwas in einem Ausmaß und aus einer Sphäre erwachten Bewusstseins, dass man es nur mit einer geistigen Geburt vergleichen kann.

Arvia MacKaye Ege in älteren Jahren, Quelle: Arvia MacKaye Ege / A Pioneer for American Anthroposophy

Von meinem Platz im Hintergrund aus schrie mein Herz auf, denn ich erkannte, dass sich etwas ereignete, das so weit jenseits meines Fassungsvermögens lag, dass mein Herz zu platzen schien. Dann gab etwas in mir nach, und ich nahm alles, was folgte, wie eine große Flut in mich hinein, wissend, dass ich erst in späteren Inkarnationen zu einer angemessenen Erkenntnis dessen gelangen würde, was hier tatsächlich geschah. Seine Worte klingen heute wieder zu uns herüber. Aus dem Geist der Höhe, der Christuskraft, die uns umgibt, und der schöpferischen Vatertätigkeit, die aus der Tiefe strömt, werden wir in unserer Seele den zwölfeckigen Grundstein bilden und ihn tief in den Grund unserer Seele versenken. Rudolf Steiner hat an diesem Morgen den dodekaedrischen Grundstein in die Herzen aller Anthroposophen und Anthroposophinnen gelegt. Aus dem, was dort geschah, war ersichtlich, dass er eine Mysteriumstat [Mystery Deed] vollzog. Wir konnten spüren, dass diese Tat, während sie hier auf der Erde stattfand, auf der höchsten spirituellen Ebene vollbracht wurde und als solche eine Tat war, die nicht vergehen kann. Sie ist da und wartet immer auf uns. Und weil sie auf dieser Ebene vollbracht wurde, kann sie sich unendlich vervielfältigen und im Herzen eines jeden von uns Wirklichkeit werden. So können wir heute beginnen, uns ihr wie einem archetypischen Samen zu nähern, der in die Menschheit gesät wurde – dem Samen einer freien geistigen Gemeinschaft von Menschen.

Danken

Ich möchte versuchen, ein letztes Bild der Konferenz zu beschreiben. Konnte jemand, nach all dem, was geschehen war, nach dem erstaunlichen Verlauf der Tage, nach der vollbrachten Tat, etwas dazu sagen? Eine Gestalt erhob sich, Louis Werbeck, und tat, was in gewisser Weise unmöglich war, weil natürlich niemand adäquat dazu in der Lage war. Er bedankte sich bei Rudolf Steiner. Es war, als wäre er der Sprecher aller Herzen derer, die da waren. Oh, wie dankbar waren wir, dass jemand den Mut hatte, das zu tun! Es folgte ein Bild, das sich tief in mich eingeprägt hat als etwas, das man für sich behält und selten berührt, weil es wie ein Fenster in ein tiefes Geheimnis ist. Als Herr Werbeck geendet hatte, beugte sich die zerbrechliche, aber majestätische Gestalt Rudolf Steiners zu ihm herunter und küsste ihn. Und dann, nach einem langen Augenblick, wandte er den Dank mit einer kaum zu ergründenden Bescheidenheit und zugleich Zärtlichkeit von sich ab und richtete den Blick aller stattdessen über die Ruinen hinweg auf den Ewigkeitsgeist des Goetheanum, in dessen Namen er gesprochen hatte und in dessen Namen er nun diesen Dank entgegennahm. Dieses Bild ist für mich wie ein Mysterienbild, das uns erlaubt, einen Blick auf ein großes Opfer in der Menschheitsgeschichte zu werfen.

Publikation von ‹The Experience of the Christmas Foundation Meeting, 1923›

Zum Schluss darf ich vielleicht an die folgenden Worte erinnern, die Rudolf Steiner während des letzten Vortrags sprach, bevor er mit jenen zeitlosen Versen des Grundsteinspruches endete und die jetzt wieder stark in meiner Erinnerung klingen: «Durch all das, was hier geschehen ist, werden wir, wenn wir an diesen Ruinen vorbeigehen, in unseren Herzen begriffen haben, dass in der Zukunft geistige Flammen entstehen werden, die als wahres geistiges Leben aus dem wiedererstandenen Goetheanum zum Segen der Menschheit hervorgehen werden, die durch unseren Eifer und durch unsere Hingabe hervorgehen werden. Je mehr wir von Mut erfüllt sind, meine lieben Freunde, wenn wir diese Versammlung verlassen – Mut für die Weiterführung aller anthroposophischen Tätigkeit –, desto besser werden wir verstanden haben, was diese Versammlungen wie ein hoffnungsvoller Geisthauch in diesen Tagen durchströmt hat.»3 Die Stimme, die zum Mut und durch den Mut zum Erwachen aufruft, tönt für alle Anthroposophinnen und Anthroposophen auch im heutigen Leben.

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Footnotes

  1. Ein Auszug aus ‹The Experience of the Christmas Foundation Meeting, 1923›, in Journal for Anthroposophy (USA), Herbst 1974.
  2. Das ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Sie entspricht nicht ganz der deutschen Fassung des Stenogramms zu Steiners Rede aus ‹Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24›, GA 260, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1997.
  3. ebenso wie 2.

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