Stell dir eine Welt vor, in der es keine Rezensenten und Kritikerinnen gibt. George Steiner beginnt sein Buch ‹Von realer Gegenwart› mit dieser Gedankenfigur. Was wäre, wenn es keine Kommentare zu Literatur, Kunst oder Musik geben würde? Wenn ein Gemälde oder ein Theaterstück nicht interpretiert und erklärt wird, wie gehe ich dann mit ihm um? Wie würde sich in einer solchen Welt Bedeutung vermitteln? George Steiner legt nahe, dass wir in jener Welt nicht über Ästhetik sprechen würden, sondern sie vollführen. Das meint: darstellen ist deuten, und deuten ist darstellen. In der Kunst begegnen wir dem Transzendenten, indem wir es darstellen, vollziehen.
Poesie lebte einst zwischen Sprechenden und Hörenden. Heutzutage landen Gedichte und Mantren geschrieben bei uns: Worte auf Papier, im Internet oder in Powerpoint-Präsentationen. Das kann sich alles ein bisschen dünn und leer anfühlen. Wenn jedoch der Schauspieler ‹Othello› interpretiert und der Pianist ein Beethoven-Opus, wenn wir ein Gedicht auswendig lernen oder einen Mantrenvers, dann bringen wir Auferstehungskräfte und innere Klarheit zu dem Werk. Es beginnt, erneut zu leben, und etwas Neues lebt auch in uns.
Unsere authentische Erfahrung macht uns zu wollenden Verantwortenden gegenüber einem Kunstwerk, einem Vers. Wir lassen uns darauf ein und verantworten es. Wir schenken ihm Liebe, und nun kann es erneut sprechen. In dieser Art des Sprechens liegen Leben und zeugende Kraft. Diese sind nicht begrenzt auf geschriebene Worte: Der Logos offenbart sich ebenso bereitwillig in einem Mantram, einer blauen Karte oder einer Kupferschale.
Bild Präsentation der Schale von Sigrid Schenk bei einer Mantrenwerkstatt im Mai 2024 im Unternehmen Mitte, Basel. Foto: Enno Schmidt