Gibt es die Zeit?

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Seit einigen Jahren wird von theoretischen Physikern die Ansicht vertreten, die Zeit sei keine Wirklichkeit, sondern Illusion.1 Diese Ansicht ist eine logische Konsequenz der Auffassung von Raum und Zeit als einem einheitlichen, vierdimensionalen ‹Raum-Zeit-Kontinuum›. Dieses wurde von Hermann Minkowski eingeführt und von Albert Einstein zur Formulierung seiner Relativitätstheorien verwendet. Die bis heute nicht gelungene Zusammenführung der Allgemeinen Relativitätstheorie (Gravitationstheorie) mit der Quantentheorie zu einer vereinheitlichten ‹Quantengravitation› oder ‹Theory of everything› (deutsch auch: ‹Weltformel›) hat einige Physiker dazu veranlasst, mit der Abschaffung der Zeit als Realität Ernst zu machen. Das ist konsequent, wenn die Welt als bloß physikalische gedacht wird, denn dann gibt es tatsächlich keine Zeit. Dagegen lehrt die Erfahrung, dass die Welt, in der wir leben, nicht als ausschließlich physikalische verstanden werden kann und dass die Zeit existiert. Damit erhebt sich aber die Forderung nach einer Wissenschaft, die mit anderen als physikalischen Methoden Erkenntnisse von den Weltbereichen gewinnen kann, in denen die Zeit Wirklichkeit ist. Eine solche Wissenschaft ist die Anthroposophie.


Abschaffung der Zeit zugunsten der ‹Raumzeit›

Seit mehr als 100 Jahren gibt es sowohl in der Physik als auch in der Philosophie Bestrebungen, die Zeit als unwirklich, als Illusion oder als nichtexistent zu charakterisieren. Als der Mathematiker und Physiker Hermann Minkowski am 21. September 1908 auf der 80. Naturforscher-Versammlung in Köln seine Idee eines vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums vortrug, das Albert Einstein nur wenig später zur Formulierung seiner Relativitätstheorien verwendete, begann er mit den Worten: «Meine Herren! Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund’ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.»2 Daraufhin stellte Minkowski vor, was seitdem als das Raum-Zeit-Kontinuum oder die Raumzeit bezeichnet wird. Es handelt sich um einen vierdimensionalen mathematischen Raum für Ereignisse, die mit vier Zahlen festgelegt werden, drei (beispielsweise x, y und z) für den Ort im dreidimensionalen Ortsraum und eine (ct oder ict) für den Zeitpunkt. Die letztere Zahl ist von besonderer Art: Während x, y und z Raumgrößen sind, soll t für die Zeit stehen, genauer: für einen Parameter t mit der Bezeichnung ‹Zeit›. Dieser wird durch Multiplikation mit der Konstanten c (Lichtgeschwindigkeit im Vakuum) zu einer räumlichen Größe ct. Mit diesem Kunstgriff gelingt es, Raum und Zeit mathematisch einheitlich als räumliche Größen zu einem vierdimensionalen ‹Raum› zu vereinen, der aus den Komponenten x, y, z und ct (oder ict) zusammengesetzt ist. Die früher gebräuchliche Definition von Minkowski verwendet ict mit der imaginären Einheit i := √-1; heute wird die Raumzeit gewöhnlich mit dem reellen ct anstelle des komplexen ict definiert. In beiden Fällen hat die Sonderrolle der Komponente ct oder ict Konsequenzen für die Bestimmung von ‹Abständen› zwischen Ereignissen in dieser Raumzeit. Unter der Annahme, dass Wirkungen von (verursachenden) Ereignissen sich niemals schneller als mit Lichtgeschwindigkeit im Raum ausbreiten können, werden verschiedene Arten von Ereignis-Abständen unterschieden: ‹raumartige›, wenn keine kausalen Beziehungen zwischen zwei Ereignissen möglich sind, ‹zeitartige›, wenn kausale Beziehungen zwischen zwei Ereignissen möglich sind und ‹lichtartige› als Grenzfall zwischen raumartigen und zeitartigen Abständen, wenn kausale Verbindungen zwischen zwei Ereignissen nur mit Lichtgeschwindigkeit möglich sind. Hierbei wird zugrunde gelegt, dass Kausalverhältnisse Zeitverhältnisse sind oder diese bewirken und dass Ursachen ihren Wirkungen zeitlich vorangehen bzw. dass Wirkungen ihren Ursachen zeitlich nachfolgen müssen. Kant brauchte die Kausalität zur Erklärung der Zeitrichtung; in der Raumzeit wird mithilfe der Kausalität Raumartiges und Zeitartiges unterschieden. Allerdings besitzen die vier Dimensionen der Raumzeit letztlich dadurch raumartigen Charakter, dass alle Punkte auf je einer der Achsen, auch auf der ct-Achse, was ihre gleichzeitige Existenz betrifft, miteinander kompatibel sind, dass sie miteinander koexistieren, was von wirklichen Zeitpunkten nicht behauptet werden kann.3

Peter Christian Aichelburg, emeritierter Professor für theoretische Physik an der Universität Wien, charakterisiert daher die Raumzeit als etwas Festes: «Die Raumzeit ist so etwas Ähnliches wie ein Fahrplan, alles ist vorgegeben, unveränderlich. Wie man den zeitlichen Aspekt in den Fahrplan bringt, ist allerdings willkürlich. Es liegt an uns.»4 Albert Einstein war sich der Konsequenz aus seiner Theorie, dass die Zeit zur Illusion wird, bewusst. Er schrieb 1955, einen Monat vor seinem Tod, als sein Freund Michele Besso gestorben war, in einem Kondolenzbrief an dessen Frau und Sohn: «Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer, wenn auch hartnäckigen Illusion.»5

Logik als Grund für die Abschaffung der Zeit

In demselben Jahr, als Hermann Minkowski die vierdimensionale Raumzeit einführte, vertrat der Philosoph John Ellis McTaggart aus logischen Gründen die Ansicht, die Zeit sei erstens «ein komplexes Konzept mit zwei verschiedenen logischen Wurzeln», die er für inkompatibel hielt, und sie sei zweitens irreal. Er beschrieb verschiedene Zeitarten als logisch unterschiedlich gebaute Reihen: Eine ‹A-Reihe› mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und eine ‹B-Reihe›, die eine Ordnung der Ereignisse nach ‹früher› und ‹später› enthält, nicht aber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. Die A-Reihe kann man im herkömmlichen Sinne des Wortes als subjektive Zeit bezeichnen, in der das Weltgeschehen von Menschen erlebt wird, die B-Reihe als objektive, die mit Uhren gemessen und mathematisch verarbeitet werden kann und damit dem Objektivierungsprogramm der Naturwissenschaften entspricht. Daneben beschrieb McTaggart eine ‹C-Reihe›, die man als ‹zeitlose Zeit› bezeichnen könnte, da sie nur die Struktur der B-Reihe, nicht aber die Eigenschaft der Veränderung, des Fließens der Zeit enthält. Da bereits die A-Reihe und die B-Reihe logisch inkompatibel, zugleich aber voneinander abhängig sind (die B-Reihe setzt die A-Reihe voraus), sieht McTaggart nur noch den Ausweg, die Zeit insgesamt für irreal zu erklären. Der Titel seines Aufsatzes lautet: ‹The Unreality of Time›6. Die Philosophen Brigitte Falkenburg und Gregor Schiemann haben anhand der McTaggart-Zeitreihen die wichtigsten Zeitbegriffe der Physik, der Neurobiologie und der philosophischen Phänomenologie geprüft und kamen zu dem Ergebnis, «dass ein einheitlicher reduktionistischer Zeitbegriff weit davon entfernt ist, plausibel zu sein, obwohl zu viele Zeitkonzepte aus ontologischer Sicht unbefriedigend erscheinen mögen»7. Falkenburg bedauert diesen aktuellen Stand der Wissenschaften mit ihren berechtigterweise differierenden und teilweise unverträglichen Auffassungen von der Zeit. Ein Verstehen der Zeit oder eine wissenschaftlich befriedigende Beschreibung für alle Sparten ist nicht in Sicht. In ihrem Buch ‹Mythos Determinismus› (über Hirnforschung) trägt das entsprechende Kapitel die Überschrift ‹Das Rätsel Zeit›8. Das Fazit: Mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Denkweisen verstehen wir die Zeit nicht. Die Zeit verstehen zu lernen und die Täuschung zu überwinden, der wir gegenüber den Zeitverhältnissen erliegen, bezeichnet Rudolf Steiner als eine der wichtigen Herausforderungen, vor denen die Menschheit gegenwärtig steht. Wie die perspektivische Täuschung gegenüber den Raumverhältnissen zu Beginn der Neuzeit überwunden worden ist, sodass wir uns keiner Täuschung hingeben und die Raumverhältnisse nun richtig beurteilen, so müssen die wahren Zeitverhältnisse, gegenüber denen sich die Menschen gegenwärtig täuschen, in Zukuft richtig erkannt werden.9

Quantengravitation: wieder ein Grund zur Abschaffung der Zeit

Eine weitere Motivation zur Abschaffung der Zeit ergibt sich aus der Inkompatibilität der unterschiedlichen Zeitbegriffe in der Allgemeinen Relativitätstheorie (Gravitationstheorie) und in der Quantentheorie. Dazu schreibt der Wissenschaftsjournalist Ulf von Rauchhaupt in einer Buchbesprechung (FAZ vom 27. Februar 2009): «Nun ist aber auch das Wissen der Physiker noch immer Stückwerk. Und am weitesten klaffen die Nähte tatsächlich bei der Frage nach der Zeit. Denn diese hängt eng mit dem Problem zusammen, dessen Lösung zuweilen als ‹Weltformel› apostrophiert wird: Wie lässt sich die im Makrokosmos bewährte Einsteinsche Gravitationstheorie mit der die submolekulare Welt durchwaltenden Quantenphysik unter einen mathematischen Hut bringen? Die Versuche, eine solche Theorie der Quantengravitation zu konstruieren, haben schon mehrere Theoretikergenerationen verschlissen – und schuld daran sind nicht zuletzt die völlig inkompatiblen Zeitbegriffe: In der Quantenphysik bleibt das physikalische Geschehen genauso in einen äußeren Zeitablauf eingebettet wie die Stühle und Steine unserer Anschauungswelt. In der Gravitationstheorie dagegen ist die Zeit kein externer Taktgeber mehr, sondern verändert sich nach Maßgabe dessen, was in ihr geschieht.»10

Um das Ideal einer einheitlichen Physik, in der alle Teilgebiete Platz haben und miteinander kompatibel sind, zu retten, erklären einige die physische Welt zum ‹Blockuniversum›, in dem die Zeit als fließende nicht stattfindet.11 Man denkt das Weltgeschehen entsprechend der Raumzeit als vierdimensionalen Block, in dem alle Zeitpunkte (der Vergangenheit und Zukunft, die aber nicht unterscheidbar sind) dauernd real vorhanden sind. Die ct-Achse der vierdimensionalen Raumzeit hat nichts Zeitartiges mehr an sich, die Zeit wird räumlich vorgestellt. Was wir als zeitartig erleben, wird zur Illusion erklärt.

Konsequenz eines physikalistischen oder materialistischen Weltbildes

Die Zeit zur Illusion zu erklären, ist für Vertreter einer physikalistischen oder materialistischen Weltauffassung plausibel und konsequent, denn: Erstens gibt es in einer als bloß physikalisch gedachten Welt keine Möglichkeit, mit ausschließlich physikalischen Mitteln zu bestimmen, wo in dem vierdimensionalen Block das Jetzt zu verorten wäre. Damit entfällt aber auch jede Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, da die Grenze zwischen beiden nicht feststellbar ist. Es gibt dann keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft. Zweitens gibt es in einer als bloß physikalisch gedachten Welt keine Möglichkeit, mit ausschließlich physikalischen Mitteln zu bestimmen, was der Fluss, das Vergehen der Zeit sein soll. Alle Zeitpunkte, wo auch immer in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, werden dann als gleichermaßen gegeben und real aufgefasst und damit des zeitartigen Charakters beraubt. In einem konsequent physikalistischen oder materialistischen Weltbild gibt es kein Fließen der Zeit, keine Veränderung und kein Jetzt.12

Uhr und Zeit: Der Mensch stellt die Beziehung her

Zeit wird gewöhnlich mit Uhren gemessen. Was aber haben diese mit der Zeit zu tun? Sie sind zumeist aus festen, unorganischen Komponenten zusammengesetzt. Ihre Funktion kann mit den Gesetzen der Physik (Mechanik, Elektrodynamik) verstanden werden. Beispielsweise verstehen wir jeden einzelnen Vorgang in einer mechanischen Uhr, indem wir die zeitliche Änderung der Bewegungsgröße (‹Impuls›, Masse mal Geschwindigkeit) eines Teils, die wir beobachten, als die Wirkung von nicht direkt beobachteten Kräften auffassen, deren (vektorielle) Summe als Ursache der Bewegungsänderung verstanden wird. Das ist in der Formel ‹Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung› ausgedrückt; ‹Masse mal Beschleunigung› ist eigentlich die zeitliche Änderung der Bewegungsgröße (Impuls), ‹Kraft› steht für die Summe aller in diesem Moment auf die betreffende Masse wirkenden Kräfte. Eigenartigerweise geschieht hier die Wirkung (die Impulsänderung) nicht zeitlich nach der Ursache (der Summe der momentan wirkenden Kräfte), sondern gleichzeitig. Es existiert kein zeitliches Nacheinander von Ursache und Wirkung. Beide, Ursache und Wirkung, geschehen lokal gleichzeitig. In einem völlig anderen Kontext (‹Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge›) unterscheidet Rudolf Steiner die Naturreiche unter anderem anhand der Gleichzeitigkeit oder des zeitlichen Vorangehens der Ursachen im Physischen und Überphysischen: «Mineralreich: Gleichzeitigkeit der Ursachen im Physischen. Pflanzenreich: Gleichzeitigkeit der Ursachen im Physischen und Überphysischen. Tierreich: vergangene überphysische Ursachen zu gegenwärtigen Wirkungen. Menschenreich: vergangene physische Ursachen zu gegenwärtigen Wirkungen im Physischen.»13 Die Bewegungsgleichungen der klassischen Mechanik (Mineralreich, unorganische Natur) lassen ebenfalls Gleichzeitigkeit der Ursachen mit ihren Wirkungen im Physischen erkennen. Für die rein mechanische Funktion der Uhr gibt es wegen der Gleichzeitigkeit der Ursachen mit ihren Wirkungen nur eine Art von zeitlos-dauerndem So-Sein, ohne Beziehung zu einem wirklichen Zeitpunkt. Die Uhr hat keine Beziehung zur Zeit, wenn nicht ein Mensch diese Beziehung herstellt, indem er mit seinen Fähigkeiten des bewussten Wahrnehmens, Denkens und Verstehens die Uhr sinnvoll verwendet.

Wir verstehen die Zeit nicht, aber wir erleben sie.

Die Wirklichkeit der Zeit erfahren wir im seelischen Erleben. Alle bewussten seelischen Tätigkeiten verlaufen in der Zeit und werden zeitlich erlebt. Wenn ein Mensch die Uhr beobachtet, stellt er vermöge seiner bewussten Seelentätigkeiten Wahrnehmen, Erinnern, Vorstellen, Denken, Fühlen und Wollen eine Beziehung zwischen Uhr und Zeit her. Oft wird dieser Tatbestand übersehen, dass der Mensch beteiligt ist, wenn Zeit mit Uhren gemessen wird. Die naturwissenschaftliche Objektivierung der Zeit durch Messen beruht auf einer mentalen Leistung des geistig-seelischen Menschen. Auf anderen Wegen kommt Brigitte Falkenburg zu einem ähnlichen Ergebnis: «Die physikalische Zeit mit ihrer Richtung ist ein empirisch gut gestütztes theoretisches Konstrukt, dessen theoretische Grundlagen aber weder einheitlich noch vollständig verstanden sind. Insofern ist die objektive Zeit der Physik eine mentale Leistung der Physiker; und ihre intersubjektive Verwendung in der menschlichen Gesellschaft ist eine enorme Kulturleistung der Menschheit.»14

Zeit ist nicht von dieser Welt

Die Zeit ist nicht physisch und daher auch in der physischen Welt (Welt der Sinneserfahrungen) nicht auffindbar. Wir haben keinen Zeit-Sinn. Einige Physiker halten sie für Illusion, wogegen im physikalistischen Rahmen kaum etwas eingewendet werden kann. Dabei ist sie eine Grundtatsache menschlicher Erfahrung. Wenn diese von einer materialistisch geprägten Naturwissenschaft nicht gewürdigt werden kann, brauchen wir eine andere Wissenschaft. Eine solche ist die Anthroposophie, die seelische Werkzeuge zur Verfügung stellt, mit denen andere Bereiche der Wirklichkeit als die physischen erforscht werden können: geistige und seelische. Als Einsteins Spezielle Relativitätstheorie bereits einige Jahre kontrovers diskutiert worden war, die Allgemeine aber noch unfertig war – Einstein veröffentlichte zwar 1913 einen ‹Entwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und Theorie der Gravitation›, musste diesen aber revidieren und hat erst Ende 1915 seine Allgemeine Relativitätstheorie veröffentlicht –, schrieb Rudolf Steiner: «Insoferne der Mensch sich innerhalb der Naturdinge und Naturvorgänge betrachtet, wird er den Folgerungen dieser Relativitätstheorie nicht entgehen können. […] Der Relativitätstheorie für die physische Welt wird man nicht entkommen; man wird aber eben dadurch in die Geist-Erkenntnis getrieben werden. In dem Erweisen der Notwendigkeit einer Geist-Erkenntnis, die unabhängig von der Naturbeobachtung auf geistigen Wegen gesucht wird, liegt das Bedeutsame der Relativitätstheorie.»15

Michael Jacobi

Vier Stufen unterschiedlicher Wirklichkeit der Zeit und der viergliedrige Bau des Menschen

Die anthroposophische Geisteswissenschaft unterscheidet Wirklichkeitsbereiche, an denen der Mensch in jeweils spezifischer Weise teilhat. In diesen Bereichen kommen der Zeit verschiedene Grade von Wirklichkeit zu. Nur der Ich-begabte Mensch ist vermöge seiner geistig-seelisch-leiblichen Anwesenheit in der Lage, ‹Jetzt› zu sagen, die Bedeutung des Jetzt zu erfassen und zu bestimmen. Insofern ist das Aussprechen dieses Wortes ein performativer Sprech-Akt, der die Wirklichkeit des Gemeinten im Aussprechen aktuell erzeugt. Der sinnvolle Gebrauch dieses Wortes ist nur einem Ich-Wesen möglich: Allein die tätige Anwesenheit des Ich im Physischen bestimmt das Jetzt. Anders ist es mit dem Fließen der Zeit. Dieses ist für alle Wesen vorhanden, die zu seelischem Erleben fähig sind. Alles bewusst Seelische verläuft zeitartig. Im seelischen Erleben findet der Zeitfluss statt; seine Wirklichkeit ist eine seelische. «Die Zeit erleben Sie erst im seelischen Erleben. Da aber erleben Sie die Zeit wirklich, […]. Da ist die Zeit eine Realität.»16 Eine weitere Schicht der Wirklichkeit der Zeit – nach dem Ich-Einschlag des Jetzt und dem bewussten seelischen Erleben des Zeitflusses – ist das Leben, das alle Lebensprozesse des Menschen-, Tier- und Pflanzenreichs und der ganzen Erde umfasst. ‹Leben› wird interessanterweise auch als Bezeichnung für biografische Zeit verwendet. Der Teil des Menschen, der die Lebensprozesse unterhält und als ‹Architekt› des physischen Menschen zu denken ist, wird von Rudolf Steiner als ‹Lebensleib›, ‹Bildekräfte-Leib›, ‹Ätherleib› und ‹Zeitleib› bezeichnet. Solange der Mensch lebt, durchsetzt dieser Zeitleib den physischen Leib und hält die Lebensvorgänge aufrecht. Der Unterschied zwischen dem lebenden Menschen und einem Leichnam wird von Rudolf Steiner so charakterisiert: «Warum geht er [unser physischer Leib] denn eigentlich zugrunde? Warum löst er sich auf? Er fängt an, sich aufzulösen, wenn wir gestorben sind; vorher hat er sich nicht aufgelöst, vorher blieb er intakt. Warum? Weil wir vorher die Zeit in uns tragen. In dem Augenblick, wo der Tod eintritt, ist der Leichnam nur im Raum; er kann die Zeit nicht mitmachen. Dass er die Zeit nicht mitmachen kann, dass er nur noch im Raume ist und im Raume seine Gesetzmäßigkeit hat, das macht ihn tot, das lässt ihn ersterben. Wir werden zum Leichnam an der Unmöglichkeit, die Zeit in uns zu tragen; wir leben während unseres Erdenlebens durch die Möglichkeit, die Zeit in uns zu tragen, die Zeit in uns arbeiten zu lassen, die Zeit in dem im Raume ausgedehnten Stoffe drinnen wirksam zu haben.»17

Wir Menschen sind der Beweis!

Eine vierte Schicht der Wirklichkeit ist die physische Welt, in der die Zeit streng genommen nicht auffindbar ist. Welches Verhältnis haben insbesondere die unbelebten physischen Körper zur Zeit? Feste Körper können immerhin bewegt werden; Flüssigkeiten und Gase sind dauernd in Bewegung und Veränderung. Dass sie das können, verdanken sie der Einbettung in die Zeit. Die physischen Gegenstände sind nicht alleine im Weltraum, sondern überall eingebettet, umhüllt vom Weltenäther, dem ‹Stoff›, aus dem die Zeit besteht. Indem alles unbelebt Physische in der Zeit mitschwimmt, kann es passiv am Leben der Welt teilnehmen und sich mitbewegen. Diese Einbettung in die wirkliche Zeit betrifft nicht nur die unbelebten Dinge, sondern alle Naturreiche und besonders den Menschen, der eine Sensibilität für diese nichtphysische Umgebung entwickelt. «Die Zeit wird gewissermaßen etwas in ihrem Fortschritt Lebendiges. Man merkt nach und nach, dass man im Verlaufe der Zeit differenziertes Leben wahrnimmt. So wie im physischen Leibe die einzelnen Organe sich differenziert zeigen, wie sie innerlich lebendiger und unabhängiger voneinander werden, so werden die Teile der fortlaufenden Zeitenfolge gewissermaßen selbständiger voneinander, unabhängiger. Und das ist damit in Verbindung, dass man mit der Entwicklung des eigenen Ätherleibes miterlebt das Leben im äußeren Äther, der uns ja überall umgibt. Es umgibt uns ja nicht nur die Luft, es umgibt uns überall der Äther; aber dieser Äther lebt ein wirkliches Leben in der Zeit.»18 Der Mensch zeigt in seinem viergliedrigen Bau die selben Stufen von unterschiedlicher Wirklichkeit wie die Zeit: einen geistigen Kern, der sich in der Selbstbezeichnung Ich ausspricht, eine seelisch-geistige Komponente, die in der Anthroposophie Astralleib genannt wird, einen geistigen Lebens-Bildekräfteorganismus, der als Ätherleib oder Zeitleib und als der ‹Architekt› des physischen Leibes bezeichnet wird, und den physischen Leib, der die Anwesenheit des Menschen in der physischen Welt ermöglicht. Der Mensch demonstriert durch seine Anwesenheit in der physischen Welt die Wirklichkeit der Geistes, der Seele und der Zeit. Der lebendige Beweis für die Wirklichkeit der Zeit ist der Mensch.


Illustration Christina Moratschke, Projektive Geometrie. Mehr dazu: Aurora-Impuls, Mathematisch-Astronomische Sektion

Fußnoten

  1. C. Callender: Ist Zeit eine Illusion? Spektrum der Wissenschaft 10/10, 32–39, Oktober 2010.
  2. H. Minkowski, Raum und Zeit. Vortrag gehalten auf der 80. Versammlung Deutscher Naturforscher in Köln (1908). Leipzig/Berlin 1909.
  3. Rudolf Steiner: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften (GA 1). Kap. XVI, 2. Das ‹Urphänomen› und XVI, 5. Der Goethesche Raumbegriff. Dornach 1987.
  4. P. C. Aichelburg, Die Raumzeit ist wie ein Fahrplan. Interview mit Peter Christian, 2010.
  5. W. Schad, Goethe und die Verzeitlichung der Natur. In: Zeitbindung in Natur, Kultur und Geist. Stuttgart 2016, S. 345–382.
  6. J. E. McTaggart, “The Unreality of Time,” Mind 17, no. 68 (Oct. 1908): 457–474; vgl. B. Falkenburg, Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Springer, 2012, S. 214.
  7. B. Falkenburg und G. Schiemann, Too Many Conceptions of Time? McTaggart’s Views, 2016.
  8. B. Falkenburg 2012, S. 211–265.
  9. R. Steiner, Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (GA 183). 9. Vortrag vom 2. September 1918. Dornach 1990, S. 163 ff.
  10. U. v. Rauchhaupt, Quantengravitation – Die Abschaffung der Zeit. FAZ vom 27. Februar 2009.
  11. J. B. Barbour, The End of Time. The Next Revolution in Physics. Oxford 1999.
  12. Ebenda.
  13. R. Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge (GA 235). 1. Vortrag vom 16. Februar 1924. Dornach 1984, S. 27.
  14. B. Falkenburg 2012, S. 261.
  15. R. Steiner, Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (GA 18). Zweiter Band, Kap. Der moderne Mensch und seine Weltanschauung. Dornach 1985, S. 592.
  16. R. Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge (GA 236). 14. Vortrag vom 4. Juni 1924. Dornach 1988, S. 242.
  17. R. Steiner, Eurythmie als sichtbarer Gesang (GA 278). Vortrag vom 21. Februar 1924. Dornach 1984, S. 47.
  18. R. Steiner, Welche Bedeutung hat die okkulte Entwickelung des Menschen für seine Hüllen – physischen Leib, Ätherleib, Astralleib – und sein Selbst? (GA 145) 4. Vortrag vom 23. März 1913. Dornach 1986, S. 62.

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