Ein Theaterstück zeigt die anthroposophische Bewegung in den letzten Lebensmonaten Rudolf Steiners. Im Spiel von Machtkämpfen, Selbsterkenntnis und dem Echo vorherige Inkarnationen zeichnen Autor, Regisseur und Ensemble inspiriert von den Mysteriendramen ein Zeitbild. Noch ist das Stück nur in den USA zu sehen.
Das Jahr 2023 markiert einen bedeutenden Schritt in der Geschichte der Anthroposophie: Zum ersten Mal wird Rudolf Steiner in einem Mainstream-Film porträtiert. Es handelt sich um die Verfilmung von Lasse Hallstroms ‹Hilma›, basierend auf dem Leben der schwedischen Malerin Hilma af Klint, die sich Steiner sehr verbunden fühlte. Es war erstaunlich, eine Version von Rudolf Steiner, wenn auch die Augenfarbe nicht stimmte, auf der großen Leinwand zu sehen. Gleichzeitig, und vielleicht als Gegenmittel, wurde Rudolf Steiner in dem neuen Drama ‹Fire in the Temple› von Glen Williamson unter der Regie von John McManus auf der Bühne dargestellt. Im September 2023 hatte das Stück sieben Premierenaufführungen in Harlemville (New York), Chestnut Ridge (New York) und Kimberton (Pennsylvania). Es war der letzte Schritt einer sechsjährigen Zusammenarbeit zwischen Autor, Regisseur und der Gemeinschaft von Schauspielenden, Sprecherinnen und Eurythmisten.
Das Stück umspannt die Monate von Silvester 1923 bis März 1925, als Rudolf Steiner starb, möglicherweise an den Folgen einer Vergiftung. Obwohl häufig auf die stürmischen Ereignisse in Europa Bezug genommen wird, die den Lauf der Weltgeschichte verändern sollten, liegt der Schwerpunkt des Stücks auf dem Zusammenspiel von Rudolf Steiner und seiner Frau Marie Steiner, seiner Ärztin Ita Wegman und seinen Kollegen Günther Wachsmuth und Ehrenfried Pfeiffer. Wie die drei Grazien spielen auch die Bildhauerin Edith Maryon, die Astronomin Elisabeth Vreede und die Eurythmistin ‹Fräulein Samwaller› (eine zusammengesetzte Figur, die auf mehreren Personen, insbesondere Mieta Waller, basiert) kleinere, aber nicht weniger wichtige Rollen. Diese Jahre der ‹anthroposophischen Geschichte›, die so voller bemerkenswerter Errungenschaften im Angesicht einer unausweichlichen Tragödie sind, würden an sich schon eine Herausforderung für eine dramatische Darstellung sein. Im Geiste von Steiners Mysteriendramen erweitert Williamson den Blick des Publikums um Jahrtausende, während wir Zeuge des Karmas werden, das sich an entscheidenden Stellen auf der Bühne abspielt. Dies ist eine gewaltige Aufgabe für ein Bühnenstück. Selbst die geschickten filmischen Fähigkeiten der Wachowski-Schwestern und von Tom Tykwer in ihrem Film ‹Cloudatlas› wurden bei dem Versuch, die Reinkarnation auf die Leinwand zu bringen, zutiefst herausgefordert.
Reinkarnation auf der Bühne
Williamsons Skript ermöglicht eine Erfahrung der Kontraktion im gegenwärtigen Leben und der Expansion in vergangene Leben. Der Regisseur des Stücks, John McManus, entwickelte ein einfaches, aber wirkungsvolles Mittel, um die aufeinanderfolgenden Inkarnationen auf der Bühne darzustellen. Er verzichtete auf Spezialeffekte und bot dem Publikum ein dynamisches ‹Ablegen der sterblichen Hülle›, während die Figuren von einer Inkarnation in die nächste übergehen. Das Publikum mag anfangs verwirrt gewesen sein, als Ita Wegman in das Wesen von Alexander dem Großen überging oder Albertus Magnus sich in Marie Steiner verwandelte. Dies erwies sich jedoch als brillanter Regieansatz, denn die Figuren auf der Bühne waren selbst nicht weniger verwirrt, als sie ihre vergangenen Inkarnationen erlebten. Das Publikum konnte stellvertretend die Freuden, Sorgen und die tiefe Verantwortung miterleben, die mit dem Überschreiten der Schwelle zur Selbsterkenntnis einhergehen.
Es wäre anzunehmen, dass ein Stück, in dem Rudolf Steiner der Protagonist ist, an eine Hagiografie grenzen würde, aber das ist nicht der Fall. Williamson wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Steiner, dem Eingeweihten, und Steiner, dem Menschen – sogar dem spielerischen Menschen. In der Tat ist diese feine Linie zwischen dem Mann und seiner Mission das offene Geheimnis des Stücks und die Triebfeder seines fesselnden Dramas.
Als Ita Wegmans Bewusstsein sich erweitert, sagt Steiner zu ihr: «Die alten Mysterien verblassen. Aber neue Geheimnisse können jetzt auf karmischen Beziehungen aufgebaut werden. […] Es wäre gut, wenn mehr Menschen für diese Zusammenhänge aufwachen könnten – und auch ihre eigenen karmischen Fäden erfassen.» Dass diese Zusammenhänge nur von Menschen, die in physischen Körpern inkarniert sind, aufgelöst und in Harmonie gebracht werden können, war eine Offenbarung, die von jenen, welche Steiner am nächsten standen, oft übersehen wurde. So katastrophal der Brand des Goetheanum auch war, im weiteren Verlauf des Stückes tritt diese Tragödie in den Hintergrund. Die größere Tragödie wird, dass die Menschen, die Steiner nahe waren, ihre Verbundenheit nicht erkannten – nicht nur mit ihrem Lehrer, sondern auch untereinander. Wir könnten uns vorstellen, dass die Erfahrung vergangener Leben und karmischer Beziehungen neue Perspektiven der sozialen Harmonie eröffnen würde, aber das ist nicht selbstverständlich. Auf der Bühne können solche Enthüllungen das Feuer des Konkurrenzkampfes, das in einer tragikomischen Schlagfertigkeit lodert, nur noch mehr anheizen. Williamson porträtiert hoch entwickelte Persönlichkeiten wie Günther Wachsmuth und Marie Steiner, die ihre ätzende Eifersucht nicht nur auf die heutige Ita Wegman, sondern auch auf ihre früheren Identitäten richten.
Wir werden wieder bauen
Als er sich den Ruinen des Goetheanum nähert, betont Steiner: «In der geistigen Arbeit gibt es kein Scheitern, nur Ablenkung und Verzögerung. Wir werden wieder bauen», und so beginnt die monumentale Aufgabe, das Zweite Goetheanum zu errichten. Da Steiner die Freiheit der anderen respektiert, kann er nicht befehlen, die Sympathien und Antipathien seiner Mitarbeiter untereinander umzuwandeln – diese Feuer lassen sich nicht so leicht löschen. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass, obwohl die Kollegen den Umgang der anderen mit ihrem Lehrer genau beobachten, ihre Rivalität sie blind macht für das Auftauchen einer Figur, die bei einer öffentlichen Versammlung Gift in Steiners Tee schüttet.
Die fortschrittlichen Kräfte, die den anthroposophischen Impuls unterstützen, werden durch die eurythmischen Bewegungen des Erzengels Michael dargestellt, und die gegensätzlichen Kräfte werden als ‹Grüne Dämonen› dargestellt, die in kritischen Momenten auf die Bühne und von der Bühne schlüpfen. Die Tatsache, dass die Dämonen von denselben Schauspielern und Schauspielerinnen gespielt werden, die auch Wachsmuth, Pfeiffer, Maryon und andere darstellen, macht es möglich, dieses anspruchsvolle Stück mit einer kleinen Besetzung aufzuführen. John McManus’ Inszenierung dieser dämonischen Auftritte macht aber auch deutlich, dass die Dämonen nicht die Ursache für die sich anbahnenden Hindernisse und Irrtümer sind, sondern vielmehr die Auswirkungen der unbewussten Entscheidungen und Handlungen der Menschen.
Verzweiflung, Entschlossenheit, Ambivalenz
Das Stück beginnt, wie der Titel verspricht, mit der luziferischen Feuersbrunst des Goetheanum, aber es endet mit einer kälteren und ahrimanischen Note. Mit den Worten von Robert Frost:
Some say the world will end in fire,
Some say in ice . . .
. . . But if it had to perish twice,
I think I know enough of hate
To say that for destruction ice
Is also great
And would suffice.1
Williamson zögert nicht, darauf hinzuweisen, dass Steiner Folgendes verstand: Es waren die allzu menschlichen Schwächen derer, die ihm am nächsten standen, die seine Lebenskräfte schwächten. Als er am Ende des Stücks die Schwelle überschreitet, scheint es wahrscheinlich, dass die Rivalitäten weitergehen werden. Das Feuer im Tempel endet mit der Versammlung menschlicher und geistiger Wesen um Steiners Sterbebett. Es ist eine Szene voller Verzweiflung, michaelischer Entschlossenheit – und Ambivalenz.
Die gemeinsame Energie des Autors und des Regisseurs schuf eine einzigartige und kraftvolle Inszenierung. Die Leistungen der Hauptdarstellenden Peter Josephson (Rudolf Steiner), Rosibel Mejia (Ita Wegman) und Laurie Portocarrero (Marie Steiner) waren glühend. Die Funken, die zwischen den unabhängigen Geistern von Steiner und seiner Frau sprühen, scheinen aus Feuerstein und Stahl geboren zu sein, während das Licht, das zwischen Steiner und Ita Wegman fließt, von der Wärme der karmischen Anerkennung umhüllt ist. In der Inszenierung des Stücks, die ich im Camphill Village Kimberton Hills gesehen habe, hat jede und jeder Schauspielende eine außergewöhnliche Leistung erbracht. Vor allem Peter Josephsons Rudolf Steiner war nicht nur reine Darstellung. Während des größten Teils der zweieinhalbstündigen Aufführung stand er auf der Bühne und schien Steiner zeitweise zu verkörpern; selbst als er auf dem Sterbebett lag und seine Lebenskräfte schwanden, war Josephsons dramatische Energie spürbar.
Für jeden, der mit einer Gemeinschaft oder Institution verbunden ist, die auf Rudolf Steiners Initiativen basiert, kann ‹Feuer im Tempel› als eine lebendige und bewegende Wiedereinführung in den Mann und sein Werk und die Dringlichkeit seiner Lehren über Karma dienen. Und für diejenigen, die Steiners Bücher und Vorträge lesen, aber weniger mit den Menschen vertraut sind, die ihm am Ende seines Lebens nahestanden, kann dieses Stück eine Erinnerung an die enormen Herausforderungen und Hindernisse sein, denen Steiner vor seinem Tod gegenüberstand. Als Dokumentarfilm, Sittenkomödie, Tragödie und Mysteriendrama in einem ist ‹Feuer im Tempel› eine einzigartige Betrachtung der zentralen Bedeutung Rudolf Steiners in unserer Zeit. Es verdient viele weitere Aufführungen.
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Bild Schlussszene aus ‹Fire in the Temple›, Foto: Catdodge Photography
Footnotes
- Robert Frost, Fire and Ice, in: New Hampshire. Gedichtsammlung. New York 1923; («Mancher sagt, die Welt vergeht im Feuer / Mancher, im Eis. / Was ich von der Begierde weiß, / Sind die mir nah, die vorzieh’n Feuer. / Doch sollt’ sie zweimal untergeh’n, / Würd’ ich genug vom Hass versteh’n, / und weiß, dass zur Zerstörung Eis / auch trefflich ist / und reichen müsst.» (Deutsche Übersetzung von Werner Friedl)