Erst belächeln, dann zu eigen machen

Dass nun der 100. Geburtstag des Künstlers und Sozialvisionärs Joseph Beuys gefeiert wird, lässt vergessen, dass zu seinen Lebzeiten die Reaktionen auf seine Arbeiten anders waren.


Joseph Beuys im Humboldt-Haus Achberg beim Vortrag ‹Jeder Mensch ein Künstler›, 23.3.1978. Foto: Peter Schata, Krefeld

Als Schüler erlebte ich die Wucht und Sprachkraft der 7000 Eichen aus seiner Hand an der Documenta in Kassel. In der Ausbildung zum Waldorflehrer wenige Jahre später fand ich eine Kunstabteilung, die ‹Honigpumpe› und ‹Straßenbahnhaltestelle› keine Beachtung schenkte. Dann, in den 90er-Jahren, gab es nicht wenige Diskussionen, in denen solche Aktionskunst belächelt und vielleicht auch bekämpft wurde, weil diese ‹soziale Kunst› das bürgerliche Bild, was Kunst sei und sein soll und darf, hinter sich ließ. Mit dem neuen Jahrhundert, mit den ‹600 Stunden auf dem Holzstuhl› der Performerin Marina Abramović, hat auch Joseph Beuys’ Werk die Mitte der Gesellschaft erreicht. Jetzt gilt Beuys auch im anthroposophischen Feld als prägender Künstler des 20. Jahrhunderts. Ignorieren-belächeln-bekämpfen-integrieren – das ist der Vierschritt, in dem man allzu oft dem Neuen begegnet – selbst und auch die ganze Gesellschaft. Zu bemerken, was man ignoriert, ist schwierig, ja ist ein Widerspruch in sich. Dafür ist es möglich, sich darüber bewusst zu werden, welche Dinge man belächelt und welchen man die Existenz abspricht, denn nicht selten sind gerade jene Dinge, denen man im Belächeln die Würde abspricht, der Keim des Neuen.

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