Welche Kraft erfordert es, tagtäglich und weltweit bejahend sich in Liebe wollend mit der Welt zu verbinden? Gerade in der gegenwärtigen Zeit kann es helfen, sich intensiv auf etwas zu konzentrieren, um daraus Kraft zu schöpfen. Constanza Kaliks schlägt vor, sich die Samenkornmeditation vorzunehmen. Schon seit Jahrhunderten widmen sich Menschen dieser Meditation. Eine Meditation, die auf das Potenzial blickt, auf die Kräfte die von der Zukunft her stetig auf uns zukommen.
Die Weltbejahung ist nicht nur als eine aktive und teilnehmende Bejahung des Faktischen, dessen, was schon vorliegt und in die Sichtbarkeit getreten ist, gefragt. Weltbejahung beinhaltet auch eine Bejahung des Möglichen, des Potenziellen, des Werdenden, einer Vorahnung, die, ihrer Natur nach, vorerst keine feste Kontur haben kann, sondern ihre immer neu geformte Kontur durch die Verbundenheit mit diesem Werdenden selbst gewinnt.
Eine Form, durch die diese Fähigkeit zur Verbundenheit mit dem Werdenden geübt werden kann, ist durch das Bild des Samens gegeben. Ein erlebendes Verhältnis zu einem Pflanzensamen ist eine durch Jahrhunderte in verschiedener Form geübte Möglichkeit, sich dem Werdenden zu nähern. Das Samenkorn: ein Bild, das den Ursprungscharakter des Werdenden in wahrscheinlich nicht zu übertreffender Form erlebbar sein lässt.
Rudolf Steiner kommt in vielen Momenten zu diesem Urbild des Samens zurück. In seinen Ausführungen zum Johannesevangelium beschreibt er, wie in der Logoslehre das Wort als Same, als schaffendes Prinzip des Menschen in seinem Werden lebte: «[…] wie der Same von der Blüte herkommt, so kommt der stumme Menschensame von dem sprechenden, wortbegabten Gotte im Urbeginne her. Wie das Maiglöckchen den Samen und der Same wieder das Maiglöckchen erzeugt, so erzeugt das göttliche Schöpferwort den stummen Menschensamen; und als das göttliche Schöpferwort hineingeschlüpft in den stummen Menschensamen, um darin wieder aufzugehen, tönt aus dem Menschensamen das ursprüngliche göttliche Menschenwort hervor. […] Es erscheint im Anfange der stumme Mensch als Samen des logosbegabten Menschen, und dieser geht hervor aus dem logosbegabten Gotte. Es entspringt der Mensch aus dem nicht wortbegabten, stummen Menschen, aber zuletzt ist im Urbeginn der Logos oder das Wort.»(1)
Zukunftskeime
Hier wird im Menschen, der sich in sich selbst als Keim trägt, das Keimhafte beschrieben – das, was vorerst in einer anfänglichen Erscheinungsform ins Dasein tritt, wirksam ist und das Zukünftige, das, was sich noch entfalten wird, ermöglicht.
In der Auseinandersetzung um die Frage, ob der Schöpfungsakt Gottes die Hervorbringung der Substanz oder die Ordnung einer schon immer vorhandenen Substanz gewesen ist, stellt im frühen Christentum Basilides’ ein Bild der Schöpfung dar, in dem er die gesamte Welt aus einem Samen entstehen lässt. Seine Lehre wird von Hippolyt von Rom vermittelt (2): «So schuf der nicht existierende Gott eine nicht existierende Welt aus Nichtexistierendem, indem er ein Samenkorn hervorbrachte, das den Gesamtsamen der Welt in sich hatte.» (3) Eine unendliche Potenzialität ist in diesem Weltensamen enthalten – eine Kraft, die alles Kommende ermöglicht. Es ist wie eine Vergegenwärtigung aller Entwicklungen. (4) Eine solche Zuwendung zum Erleben dieser Potenz des Samens als höchst konzentrierter Form der Ermöglichung kann in einem meditativen Umgang mit dem Samenkorn-Bild vollzogen werden.
In seiner Schrift ‹De quaerendo Deum – Gott suchen› (5) erläutert Nikolaus von Kues (1401–1464) in seiner Suche nach Formen, die der Seele einen Aufstieg zu Gott ermöglichen sollen und in einer im Subjekt verankerten Intellektualität den Ausgangspunkt für diesen Aufstieg nehmen (6), die Meditation des Samenkorns. Als erste von drei Meditationen, die in «wiederholten Anstrengungen» (7) geübt werden müssen, um den Weg auf der Suche nach Gott zu durchwandern, beginnt sie mit der Anforderung, sich dem kleinen Senfkorn zuzuwenden: «Denn obwohl körperlich so klein, stößt seine Kraft doch an keine Grenze. In diesem Körnchen ist ein großer Baum mit Blättern und Zweigen und vielen anderen Körnern, in welchen in gleicher Weise Macht über alle Maßen ist. So jedenfalls sehe ich in der Vernunft die Macht des Senfkorns: Wenn sie wirklich entfaltet werden müsste, so könnte ihr diese Sinnenwelt nicht genügen – nicht einmal zehn oder tausend oder so viele Welten, wie gezählt werden könnten. Wer wird nicht, wenn er dies überdenkt, in Erstaunen geraten, wenn er hinzufügt, dass der Intellekt des Menschen die ganze Macht des Korns umschließt und dieses als wahr begreift und so in seinem Erfassen die ganze Fassungskraft der gesamten sinnlichen Welt und nicht nur dieser einen, sondern sogar unendlicher Welten übertrifft? Und so umschließt die Kraft unserer Vernunft die ganze körperliche und messbare Natur. Welche Größe liegt also in unserer Vernunft!» (8)
Meditative Metamorphose
Dieser meditativen Übung folgen noch zwei weitere. Die nächste beinhaltet die Auflösung des Bildes, um in dieser Tätigkeit das Nichts, aus dem Gott alles erschafft, erleben zu können. Und in der dritten wird im Ursprung der Tätigkeit selbst Gott in der eigenen Seele erfahren. (9) Rudolf Steiner beschreibt eingehend in ‹Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?› die meditative Übung des Samenkorns. Im Kapitel zur Kontrolle der Gedanken und Gefühle ist diese Übung als Möglichkeit vorgeschlagen, die Gefühle und Gedanken in die rechte Richtung zu bringen. Es wird ein Weg angegeben und dieser wird seine Wirksamkeit zeigen, «wenn sie beharrlich durchgeführt wird und wenn der Mensch vermag, mit der nötigen Stimmung sich ihr hinzugeben». (10) Nachdem die Vorstellungsübung vollzogen und die Kraft innerlich erlebbar ist, die dem Samen innewohnt und die das ganze Wachstum ermöglicht, wende man dieser Kraft – die im Samen gegenwärtig, jedoch unsichtbar ist – die Gedanken und Gefühle zu: «Man stelle sich vor: dieses Unsichtbare wird sich später in die sichtbare Pflanze verwandeln, die ich in Gestalt und Farbe vor mir haben werde. Man hänge dem Gedanken nach: das Unsichtbare wird sichtbar werden. Könnte ich nicht denken, so könnte sich mir auch nicht jetzt schon ankündigen, was erst später sichtbar werden wird.» (11)
Ein intensives Fühlen dieser Gedanken ist die Voraussetzung der Wirksamkeit dieses meditativen Vorganges.
Ein solches Fühlen, dass durch das Denken das Unsichtbare sichtbar werden wird, ist eine Übung, um auch mit dem noch nicht sichtbar Gewordenen im anderen Menschen ahnend leben zu lernen. In der Herausforderung, sich mit der Welt, so wie sie sich zeigt, in Liebe wollend zu verbinden, kann dieses Lernen eine Begegnung mit der Zukunft sein, eine in der Gegenwart verankerte Zukunft, die noch nicht sichtbar ist, die aber der Anlage nach in ihrer ganzen Potenzialität vor uns liegt – dem unmittelbaren Sehen verborgen und bereit, aufgegriffen und tastend erkannt zu werden.
(1) Rudolf Steiner, Das Johannes-Evangelium. Rudolf Steiner Taschenbuch, GA 103, Dornach, 2005, Vortrag in Hamburg, 18. Mai 1908, S. 29 f.
(2) Vgl. Gerhard May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin 1978, S. 65–69.
(3) Hippolytus von Rom († um 235) – Widerlegung aller Häresien.
(4) Zu den Quellen der bildhaften Weltensamenlehre vgl. GerhardMay, a. a. O., S. 73, 79.
(5) Nikolaus von Kues, De quaerendo Deum – Gott suchen. Eingeleitet und übersetzt von Harald Schwaetzer. Trier, Cusanus Institut, 2009
(6) Vgl. Harald Schwaetzer, Einleitung in: Nikolaus von Kues, a. a. O., S. 6 f.
(7) Nikolaus von Kues, a. a. O., S. 45.
(8) Nikolaus von Kues, a. a. O.
(9) Vgl. Harald Schwaetzer, a. a. O., S. 20–23.
(10) Vgl. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Dornach 1961, Tb., GA 10, S. 42.
(11) Ebd.
Titelbild: Saatgut, Adrien Jutard.