Die Kraft des Kerns

Die Schweizer Künstlerin Heikedine Günther (*1966) beschäftigt sich in ihren Werken mit dem Leitmotiv des Kerns. Er verkörpert für sie die Konzentration auf das Selbst und die wesentliche Basis unserer Existenz, in einer immer komplexer werdenden Welt. Vom 25. Juni bis zum 30. September werden ihre Werke in der Einzelausstellung ‹Concentric Circle› im Goetheanum zu sehen sein. Barbara Schnetzler sprach mit ihr.


Die Suche nach dem Archetyp des Kerns, der innersten Zelle, die alles zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zusammenhält, führte Heikedine Günther zu einer intensiven Auseinandersetzung mit historischen Kunstpraktiken und interkulturellen Symbolen. Infolge einer Begegnung mit Joseph Beuys im Jahr 1982, bei dessen Projekt ‹7000 Eichen› sie anlässlich der documenta 7 in Kassel teilnahm, studierte sie an der HFBK Hamburg in der Klasse von Franz Erhard Walther sowie an der Kunsthochschule Kassel bei Martin Kippenberger. Die Suche nach einer Urform und Farbkonstellationen, die schon seit Tausenden von Jahren die Menschen unmittelbar zu berühren vermögen, spiegelt sich in Günthers intensiven Beschäftigungen mit Farbtheorien und der Geschichte künstlerischen Schaffens wider.

Wie sind Sie zur Bildenden Kunst gekommen? Gab es ein Schlüsselerlebnis oder ist der Künstlerberuf schon immer Ihr Wunsch gewesen?

«Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität – die einzige revolutionäre Kraft ist die Kunst.» Das Zitat von Joseph Beuys betont, wie uns die innewohnende Kraft der Kreativität dazu bewegt, Möglichkeiten des Ausdrucks zu entdecken. Schon als Kind spürte ich eine unentwegte Neugierde fürs Entdecken und Gestalten – schlicht und ergreifend für die Kreativität und ihre Ausdrucksformen selbst. Es galt für mich, die Neugierde des menschlichen Wesens zu erfassen sowie die Vielschichtigkeit des Lebens, mit seinen Phänomenen, Philosophien, Religionen, Kulturen und Naturgesetzen, ansatzweise zu verinnerlichen. Wenn ich nicht Künstlerin geworden wäre, dann wäre ich vermutlich Gärtnerin oder Heilerin geworden.

Welche Motive verfolgen Sie in Ihrer Kunst, mit welchen haben Sie begonnen und wo stehen Sie heute?

Zu Beginn habe ich ausschließlich figurativ gemalt. Im Jahr 2004 stellte die Teilnahme an einer aktiven Imagination nach C. G. Jung zum inneren Potenzial einen signifikanten Wendepunkt in meinem künstlerischen Schaffen dar. In diesem Zusammenhang habe ich meinen eigenen Kern entdeckt, ihn zu meinem künstlerischen Leitmotiv gemacht und in seiner Form abstrahiert. Der Kern ist ein archaisches Symbol und steht in den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen der Welt als ein repräsentatives Zeichen für Wachstum, Potenzial und Transzendenz. Jeder von mir gemalte Kern befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, inspiriert von der Natur und ihren allumfassenden Gesetzmäßigkeiten.

Können Sie das Motiv des Kerns noch etwas genauer beschreiben?

Der Kern steht sinnbildlich für das unerschöpfliche Potenzial des Wachstums. Die umliegenden Gegebenheiten und Energien, die auf ihn einwirken, bedingen die Möglichkeit seiner Entwicklung. Dieser Zusammenhang findet sich in jeder noch so kleinen Zelle unseres Körpers wieder, so wie er gleichermaßen das Zusammenspiel der Planeten in unserem kosmischen System bestimmt. Der Kern steht für die kontinuierliche Transformation auf allen Ebenen. Diese universelle Offenheit der Bedeutung schafft die Möglichkeit, einen individuellen Zugang zu dem Symbol des Kerns zu gewinnen.

Wie ist Ihre Maltechnik?

Farben sind Emotionen, Formen sind die Körper (Gefäße), die wir mit Farbe füllen. Für mich sind Farben etwas sehr Besonderes. Sie nähren und machen glücklich, wie die beste Schokolade. Dennoch können wir sie nur visuell verinnerlichen. Aus diesem Grund stelle ich alle meine Ölfarben selbst her. Ausgangspunkt meiner Werke ist eine mit Gold grundierte Leinwand. Der Goldgrund steht symbolisch für den Reichtum des Göttlichen und bezieht sich aus einer kunsthistorischen Perspektive auf die Goldgrundmalerei. Die Leuchtkraft der goldenen Pigmente wird durch den Lichteinfall bestimmt und wirkt bis in die oberen Farbschichten des Bildes fort. Auf den Goldgrund trage ich mit bis zu 20 Zentimeter breiten Pinseln drei bis sieben Farbschichten auf. Die Vielschichtigkeit der verwendeten Farben steht sinnbildlich für die Vielschichtigkeit der Bilder selbst. Ich male auf einer horizontal platzierten Leinwand; die Malbewegungen resultieren aus meinem eigenen Körperschwung heraus, von dem die Form auf dem Bild bestimmt wird. Somit entsteht jeder Kern beziehungsweise ‹Circle› als nicht exakte und natürlich bedingte Form. Meine Kerne sind so rund wie die Erde.

Sie werden im Sommer 2021 im Goetheanum eine große Einzelausstellung haben. Was führt Sie dazu und inwiefern fühlen Sie sich mit der Anthroposophie verbunden?

Es ist für mich ein ganz besonderes Privileg, im Goetheanum auszustellen. Die Ausstellung bedeutet für mich mehr, als nur Bilder an die Wand zu hängen. Sie bedeutet für mich, mit den ‹Concentric Circles› die Räume durch eine Geisteshaltung zu füllen. Das Goetheanum vereint ein großartiges Gesamtkonzept von Architektur, Kunst, Philosophie und biodynamischem Anbau. Die Anthroposophie entspricht meinem holistischen Weltbild, dass alles in unserem Kosmos ganz natürlich miteinander verbunden ist – vom Allerkleinsten bis zum unvorstellbaren Großen. Gerade in einer Zeit wie dieser, in der wir uns alle neu orientieren möchten und auf der Suche nach alternativen Lebensweisen sind, ist das Goetheanum ein Ort, an dem man viele Werte entdecken kann.

Bild Heikedine Günther vor ihrer Serie ‹CONCENTRIC CIRCLES›, Monotypien, je 90×90 cm, Ölfarbe auf Vlies, März 2021

Wie sind Sie auf die Anthroposophie gestoßen? Und inwiefern drückt sich Ihr Interesse an der Anthroposophie in Ihrer Arbeit aus?

War die Anthroposophie nicht schon immer da – als eine ganzheitliche Vorstellung von Leben, das alles in ein natürliches Gleichgewicht miteinander bringt? Wenn man sich für das Leben interessiert und die Natur beobachtet, dann kommt man zwangsläufig mit dem Gedankengut von Rudolf Steiner in Berührung. Intuitiv habe ich nach meiner Vorstellung von Ganzheitlichkeit meine Bilder gemalt und erst im Nachhinein bemerkt, wie sehr diese Gesinnung mit anthroposophischen Ansichten deckungsgleich ist.

Die Anthroposophie und ihr Kunstimpuls können besonders in dieser Lebenssituation neue Fragen aufwerfen und alternative Antworten entwickeln.

Das Zentralmotiv der Ausstellung im Goetheanum werden die Kreisbilder ‹Concentric Circles› sein. Hat sich dieses Motiv aus den Kernen heraus entwickelt? Inwiefern hängen diese beiden Motive miteinander zusammen?

Im übertragenen Sinne sind die ‹Concentric Circles› auch Kerne, die als repräsentatives Zeichen Ausgangspunkt von einem Impuls sein können. Wie ein Stein, den man ins Wasser fallen lässt und durch den sich immer größer werdende ringförmige Wellen bilden, so unterliegt jeder Gedanke einer Kraft, die sich in diesem Umfeld entfaltet. Diese geistige Ordnung findet ihren Nachklang in der konzentrischen Anordnung der Kreise. Der Titel ist dem ganzheitlichen Kreislauf unserer geistigen Welt gewidmet – alles ist vorhanden, wir müssen es nur entdecken. Die Spiritualität ist hierbei ein Akt der Kreativität und der Feinfühligkeit, die Kraft der Kunst für sich zu entdecken und sichtbar zu machen.

Die Zentren der Kreise bilden eine Konzentration, indem Sie die Farbe verdichten. Aus diesem Punkt pulsieren die Farbkreise in den Umkreis und werden von einem Farbkreis am Rande zusammengehalten. Dieser Spannungsbogen von Punkt und Umkreis generiert eine Art Kraftfeld mit auratischer Auswirkung. Was möchten Sie im Betrachtenden auslösen?

Die ‹Concentric Circles› sind aus den Tiefen meiner inneren Mitte empfunden und gemalt worden. Sie spiegeln das Leben wider, den Moment und die Ewigkeit. Die konzentrischen Kreise stehen für Gedanken, Emotionen und Erfahrungen, die sich in Farbabstufungen und unterschiedlichen Intensitäten offenbaren. Es geht um den Mittelpunkt, aus dem heraus alles wirkt und entsteht, wie sich auch gleichermaßen alles auf einen inneren Punkt zentrieren lässt. Es gibt kein Anliegen, etwas Konkretes auszulösen, vielmehr geht es darum, einen freien Geist und ein individuelles Gefühl zu bedingen. Der Kreis als vollkommene Form und universelles Symbol versöhnt Gegensätze miteinander, er ist, so bemerkte es schon Paul Klee, niemals nur unter einem Aspekt auszufüllen.

Wie wirkt sich Corona auf Ihr künstlerisches Schaffen aus?

In jeder Krise liegt auch eine Chance. Die aktuellen Umstände fordern ein Überdenken unserer Welt- und Wertesysteme. So traurig die Auswirkungen der Pandemie in vielerlei Hinsicht sind, sie haben auch eine regenerierende Wirkung auf unsere Umwelt. Ich persönlich wünsche mir die Möglichkeit, wieder Kunst mit allen Sinnen erfassen zu dürfen. Der digitale Kunstgenuss ist keine wahrhafte Alternative, denn es fehlt ausdrücklich das unmittelbare Erlebnis. Ich nutze die aktuelle Zeit, um konzentriert und intensiv an meinen Werken zu arbeiten und diese weiterzuentwickeln.

Wo sehen Sie die Aufgabe der Kunst in einer solchen Krise und welchen Beitrag kann diese in Zeiten von Corona leisten?

Die Zeit der Coronapandemie ist und wird eine besondere Zeit für die Kunst bleiben, so wie seit jeher in und nach Krisenzeiten außergewöhnliche Werke in der Kunst hervorgebracht wurden. Insbesondere die Krise zeigt, wie unverzichtbar Kunst für das Allgemeinwohl ist. Sie ist nicht zuletzt auch ein Medium individueller wie kollektiver Selbstreflexion, um sich mit den existenziellen Fragen des Menschseins auseinanderzusetzen.


Ausstellung ‹Concentric Circles› 25. Juni bis 30. September 2021
Vernissage: 25. Juni, 18 Uhr, Westtreppenhaus/Terrasse

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