Der Wissenschaftscharakter der Anthroposophie wurde zuletzt öffentlich in massiver Weise hinterfragt oder prinzipiell in Abrede gestellt. Das Goetheanum und andere anthroposophische Institutionen haben darauf zu antworten versucht, wohl wissend, dass die Vorwürfe in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang stehen, oft genug mehr Instrument und Methode der Ablenkung und Diffamierung als Ausdruck eines echten Erkenntnisinteresses oder Wahrheitswillens sind.
Das Goetheanum versteht sich als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft mit verschiedenen Fachbereichen (Sektionen), als ein Ort der Forschung, Ausbildung und Lehre, mit einem inneren geistigen Kern, der Anthroposophie und der aus ihr entstandenen ‹esoterischen Schule des Goetheanum›1 – als Lehrgang einer systematischen inneren Schulung, der für alle Fachbereichsaktivitäten von zentraler Bedeutung ist. Das Bild einer solchen Hochschule ist in der Außenwelt und akademischen Landschaft gegenwärtig nicht einfach zu vermitteln; universitäre Einrichtungen haben gemeinhin keinen internen Schulungslehrgang. Das könnte sich jedoch in Zukunft ändern – und das Modell des Goetheanum hat einiges für sich.
Das Bild – die Hochschul-Vision und -Intention Rudolf Steiners – ist jedoch auch in der Innenwelt der Anthroposophischen Gesellschaft, als der faktischen Trägerin der genannten Hochschule, nur bedingt kommunizierbar. Viele ihrer Mitglieder verstehen unter der Hochschule ihre Treffen zu den Inhalten der Ersten Klasse. Die Hochschule ist für sie eine esoterische Schule – ein ‹Hochschulkreis› wird in diesem Zusammenhang als ein Kreis von Klassenmitgliedern und/oder Vermittlern der Stunden verstanden, ein ‹Hochschulgespräch› als ein Austausch untereinander. An vielen Orten haben die Vermittlerkreise wenig oder keinen Bezug zu den Fachsektionen und fachlichen Arbeiten der Anthroposophie, mitunter nicht einmal mehr zum aktiven Teil der Anthroposophischen Gesellschaft am Ort – und gestalten ein Eigenleben. Nicht selten wird argumentiert, dass dieses Hochschulverständnis – als eine rein esoterische Schule – das der Weihnachtstagung 1923/24 sei. Damals habe Steiner den Kontakt zur akademischen Wissenschaft abgebrochen und alles auf eine neue spirituelle Basis gestellt. Entsprechende Zitate dienen als Beleg.
Für das Goetheanum sind die damit verbundenen Fragestellungen des Selbstverständnisses und der Identität existenziell – und es wird einiges davon abhängen, ob es in den nächsten Jahren gelingt, zu einer größeren konzeptionellen Klarheit über die Hochschule zu kommen, auch – aber keinesfalls nur – in terminologischer Hinsicht. Was meint man mit dem Begriff der ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft›? Insofern man sich in der Beantwortung dieser Frage mit auf die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung und auf die Absichten Rudolf Steiners stützen möchte, ist die historische Besinnung und Bewusstseinsbildung obligat. Einen Markstein in der Entwicklung der Dornacher Hochschule unter Rudolf Steiner bildeten die Vorgänge des Jahres 1922.2
Der Umbruch des Jahres 1922
In Deutschland wandte sich Steiner im Januar und Mai 1922 noch einmal mit zwei professionell organisierten Vortragstourneen an die große Öffentlichkeit – und versuchte den besonderen Wissenschaftscharakter seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft aufzuzeigen.3 Auch führte er mit seinen Mitarbeitern zwei «Hochschulkurse» in Berlin und Den Haag durch, mit überaus gehaltreichen und anspruchsvollen Programmen. In Berlin war jeder der sieben Tage des Hochschulkurses im März 1922 einer speziellen Fachwissenschaft gewidmet und stand unter fachwissenschaftlichem Vorsitz (Anorganische Naturwissenschaft / Organische Naturwissenschaft und Medizin / Philosophie / Erziehungswissenschaft / Sozialwissenschaft / Theologie / Sprachwissenschaft). Steiner hielt jeweils den Morgenvortrag, dann folgten bis zu fünf Fachvorträge – von Akademikern und Akademikerinnen aus der Anthroposophischen Gesellschaft, die über die Durchdringung des Fachgebietes mit anthroposophischen Methoden und Perspektiven sprachen.4 An vier Tagen des Hochschulkurses sprach Steiner zusätzlich am Abend im Oberlichtsaal der Berliner Philharmonie; andere Dozenten und Dozentinnen trugen an der Berliner Universität vor und das Dornacher Eurythmie-Ensemble gastierte im vollbesetzten Deutschen Theater. Auch beim Wiener ‹West-Ost-Kongress› im Juni 1922 gab es umfangreiche fachwissenschaftliche Veranstaltungen.5
Die ‹Hochschulkurse› aber waren in den Reihen der Anthroposophischen Gesellschaft umstritten und wurden von vielen als Veräußerlichung und akademische Anpassung der Anthroposophie empfunden. Vor Mitgliedern in Stuttgart und Wien ging Steiner im Mai und Juni 1922 auf die Kritik ein. Er verstehe die Sorge und sehe aktuell einen «Abgrund» – ohne «Brücke» und «Vermittlung» – zwischen der spirituellen Studienarbeit innerhalb der anthroposophischen Zweige und der öffentlichen Vertretung der neuen Geisteswissenschaft. «Und wir können eben die Brücke nicht schlagen, weil einfach die Mitarbeiter dazu fehlen, und weil denjenigen, die Mitarbeiter sind, die Zeit fehlt, diese Brücke zu schlagen von dem, was die Welt heute von uns fordert – wissenschaftliche Begründung der Anthroposophie – und dem, was aus der Esoterik heraus gearbeitet werden muss.»6 In Wien sagte Steiner den Mitgliedern, es führe gegenwärtig kein Weg daran vorbei, die Anthroposophie öffentlich vor dem wissenschaftlichen Zeitbewusstsein zu vertreten – insbesondere seit der Eröffnung des Goetheanum als einer ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft› sei man dazu gezwungen. Es handele sich jedoch nicht darum, die Anthroposophie der heutigen Wissenschaft anzunähern, sondern die Wissenschaft mit Anthroposophie zu durchdringen. Die «Fortbildung des Esoterischen» finde in Dornach parallel dazu statt und sei durchaus Realität.7 Steiners Bilanz des Den Haager Hochschulkurses, auch der übrigen fachwissenschaftlichen Veranstaltungen des Jahres 1922, fiel ausgesprochen positiv aus. Nach der Rückkehr aus Den Haag würdigte er in einer langen Besprechung alle Beiträge seiner Mitarbeiter – Elisabeth Vreede verbinde «gründliche anthroposophische Einsicht mit einer ausgezeichneten Klarheit darüber, wie Anthroposophie in die Einzelwissenschaften eingeführt werden soll», schrieb er beispielsweise;8 damit war Wesentliches über sie, aber auch über das Anliegen der Hochschulkurse gesagt. «In Holland war mein Erlebnis die Arbeit im Kreise der befreundeten Mitarbeiter. In ihrer Arbeit lebte ich mit.»9 Kritisch äußerte sich Steiner im spannungsreichen Jahr 1922 lediglich über die anthroposophischen Mediziner des Klinisch-Therapeutischen Instituts in Stuttgart und über einige Naturwissenschaftler am Goetheanum.10 Die Ärzte um Friedrich Husemann waren ihm, auch in ihrer öffentlichen Positionierung, viel zu furchtsam und bedächtig, zu unentschlossen und devot gegenüber den naturwissenschaftlichen wie schulmedizinischen Autoritäten und Paradigmen. Auch mit der Vorbereitung einer naturwissenschaftlichen Tagung am Goetheanum Ende 1922 war Steiner unzufrieden; in Gesprächen mit Lili Kolisko, Ita Wegman und Albert Steffen missbilligte er das ihm von den Glashaus-Mitarbeitern um Oskar Schmiedel vorgelegte Programm und den Duktus desselben («… dass das Wissenschaftliche so unanthroposophisch vorgetragen werde»). Er vermisse den Mut, für das Geistige wirklich einzustehen.11
Vom Neuanfang der Weihnachtstagung
Wenige Tage nach dem Gespräch mit Wegman und Steffen brannte das Goetheanum, die Stätte der ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft›, komplett nieder. 1923 gab es keinen einzigen Hochschulkurs mehr; die Hochschule als geistige Entität und Zielsetzung war nicht zerstört, wohl aber ihr Gebäude. Angesichts der Ruine und angesichts der Aggressivität, der seine öffentlichen Vorträge und das Goetheanum – bis zu dessen Brandstiftung – ausgesetzt gewesen waren, sah Steiner offenbar keinen Sinn mehr darin, auf das Dornacher Vorhaben mit weiteren Vortragstourneen und „Hochschulkursen“ aufmerksam zu machen. Stattdessen versuchte er, die Anthroposophische Gesellschaft von innen zu reorganisieren und sie zu einem effizienten Arbeitsorgan auszugestalten, zu einem Organ für das Wesen der Anthroposophie und zum unterstützenden Instrument der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, von deren Zielsetzung er nicht abging. Bei der Neugründung der Gesellschaft und ihrer Hochschule ein Jahr nach dem Brand sagte Steiner, es gehe in Zukunft darum, nur noch den Impulsen der geistigen Welt zu folgen, im Zeichen der vollen Wahrheit und als Vertreter des anthroposophischen Wesens in der Welt aufzutreten. Anpassungsversuchen, die dahin gingen, die Anthroposophie oder den anthroposophischen Hintergrund aus strategischen Gründen in den Hintergrund zu drängen – beispielsweise im Vertrieb der Weleda-Pharmazeutika oder bei der Plakatierung von Eurythmie-Aufführungen in Theatern – erteilte er eine eindeutige Absage. Ziel sei nicht die Zustimmung der Umwelt, sondern der Mut, die Anthroposophie in allen Fachgebieten «frank und frei» zu vertreten. Die geistige Welt wolle gegenwärtig menschheitlich einen nächsten Schritt; man solle die Kritiker reden lassen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Eine viel «stärkere Stoßkraft» der anthroposophischen Bewegung sei notwendig, um sich in der Gegenwart wirkungsvoll geltend zu machen. Als der Arzt Willem Zeylmans van Emmichoven die Einrichtung der Medizinischen Sektion begrüßte, die bisherigen Ärztekurse Steiners zwar lobte, aber von einem notwendigen «neuen Reich im Herzen» sprach, akzeptierte Steiner seine Stellungnahme nicht nur, sondern radikalisierte sie in seiner zustimmenden Antwort erheblich. Er sagte u. a.: «Wenn wir dasjenige, was auf unserem Boden medizinisch erwächst, so beschreiben, dass wir den Ehrgeiz haben: Unsere Abhandlungen können bestehen vor den gegenwärtigen klinischen Anforderungen –, dann, dann werden wir niemals mit den Dingen, die wir eigentlich als Aufgabe haben, zu einem bestimmten Ziele kommen […].»12 Genau dies aber hatten Friedrich Husemann und seine Kollegen in Stuttgart bisher versucht und auf ihre Art und in ihrem Bereich möglicherweise auch einzelne Naturwissenschaftler in Dornach. Steiner schien mit Entwicklungen abzuschließen, die er bisher toleriert hatte, aber nicht für weiterführend ansah. Das «Zusammenschweißen» der akademischen Arbeit mit der Anthroposophie lehnte er ab und sagte zu Beginn der ersten Klassenstunde: «Mit dieser Stunde möchte ich die Freie Hochschule als eine esoterische Institution wiederum zurückgeben der Aufgabe, der sie drohte in den letzten Jahren entrissen zu werden.»13 Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum werde in Zukunft eine esoterische Schule sein.14
Umkehr oder geistige Kontinuität?
Man konnte dies als einen völligen Neuanfang und als entschiedene Abkehr von allen bisherigen ‹Hochschulkursen› und akademischen Zielsetzungen zugunsten ‹reiner› Anthroposophie und Esoterik interpretieren – und diese Art der Weihnachtstagungsrezeption hat bis heute Tradition. Demnach ist die Hochschule dort, wo mit den Mantren der esoterischen Schule gearbeitet wird, mit den Elementen ihrer Ersten Klasse. Aber meinte und wollte Rudolf Steiner das? Ohne Zweifel ging er energisch vor und voran, gegen Angst, Stagnation und Anpassung (gegenüber anerkannten wissenschaftlichen Autoritäten und Lehrmeinungen, dominanten Paradigmen und öffentlichen Trends); er wollte kein «mixtum compositum» aus konventioneller Wissenschaft und Anthroposophie, sondern eine fundamentale Erneuerung des wissenschaftlichen Lebens, der akademischen Welt – auch der gesamten naturwissenschaftlichen Vorstellungswelt. Er wollte eine offensive Vertretung der Anthroposophie und keine Kompromisse. Die Zeit erlaube diese nicht mehr, die europäischen Entwicklungen in Gesellschaft und Politik liefen auf baldige nächste Katstrophen zu und mit tolerantem Abwarten und einem ‹langen Atem› sei vor der Hand nichts gewonnen. Steiner reagierte auf die zeitgeschichtliche und auf die inneranthroposophische Lage. Die Diffamierung der Anthroposophie und seiner Person hatte er nun viele Jahre erlebt. Er brach den Dialogversuch zwar nicht von seiner Seite aus ab, investierte nach der Weihnachtstagung aber keinerlei Kraft und Zeit mehr in anthroposophische ‹Hochschulkurse› und öffentliche Vortragstourneen in Großstädten, sondern baute die Dornacher Hochschule und die sie tragende Anthroposophische Gesellschaft in neuer Weise auf. Er richtete die ‹esoterische Schule des Goetheanum› für alle potenziellen Mitarbeitenden ein, die sich für diese Schulung im Sinne des Michael-Wesens und -Weges entschieden, sowie die Fachsektionen für die einzelnen Lebensgebiete – das Allgemeine für alle und das Besondere. Die esoterische Schule sollte die innere Substanz des Goetheanum und der Anthroposophischen Gesellschaft bilden – und die Hochschule fundieren. Diese selbst aber besteht aus den Sektionen, deren Aufgabe es ist, die Fachgebiete mit Anthroposophie zu durchdringen und zu verwandeln, zu forschen, auszubilden und zu lehren – und neue Impulse in die Welt zu bringen, in großer Verantwortung und Verbindlichkeit und mit sozialer Gesinnung. Steiner verstand, so Ita Wegman, die Sektionen als geistige ‹Gemeinschaften› zur Arbeit in der Welt, in pfingstlicher Gesinnung.15 So hatte Rudolf Steiner das schon von jeher gesehen, nicht jedoch alle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und auch nicht alle Mitarbeitenden des Goetheanum. Er wollte von der Hochschule produktive Leistungen und Ergebnisse und keinesfalls nur esoterische Stunden und Gespräche. In einer Nachtsitzung in den Wochen nach dem Brand des Goetheanum hatte er gesagt: «Das Zweite ist, dass dieses Goetheanum den Nebentitel hat ‹Freie Hochschule für Geisteswissenschaft› und dass die Prätention hervorgerufen worden ist, wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen. Die Gegnerschaft mag noch so groß sein, aber die Leute dürfen nicht recht haben. Es ist unmöglich, gegen diese Gegnerschaft mit dem Bau eines Goetheanum, dieser Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, aufzukommen, wenn darauf hingewiesen werden kann, dass wissenschaftlich nichts geleistet wird.»16 Steiner hat diese Sichtweise auch auf der Weihnachtstagung und danach aufrechterhalten. Im Verlauf der Weihnachtstagung ließ er den Physiker Rudolf Maier über den Zusammenhang von Magnetismus und Licht sowie Lili Kolisko über die Wirksamkeit ‹kleinster Entitäten› referieren, mit allen dazugehörigen Diagrammen und Schaubildern aus ihrer experimentellen Arbeit. Er wollte eine ‹wirkliche anthroposophische Methodik› in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, ja, hielt dies für zukunftsentscheidend. Es gehe um methodische Impulse mit konkreten Forschungsergebnissen – «dann wird eines der Haupthindernisse hinweggeräumt, die gegen die geistige Forschung selbst heute in der Welt vorhanden sind». «Aber diese Versuche alle, sie sind im Grunde genommen gerade vor dem anthroposophischen Blicke Einzelheiten zu einer Gesamtheit, zu einer Gesamtheit, die eigentlich heute wissenschaftlich so dringend wie möglich gebraucht wird.»17 Steiner setzte auf die Sektionen und ihre Forschungsinstitute – in geistes- und naturwissenschaftlicher Hinsicht. Er wollte echte, wahre Esoterik und «denkbar größte Öffentlichkeit», sichtbare Ergebnisse und Leistungen. Wiederholt sprach er – auch auf der Weihnachtstagung – von dem medizinischen Lehrbuch, an dem er mit Ita Wegman arbeitete. «Es wird der Welt vor Augen treten …»18
Die Vorbereitung der Zukunft
Rudolf Steiner hatte nur noch wenig Zeit, aber er bereitete die Zukunft vor. Er baute 1924 nicht länger auf einen Umschwung in der öffentlichen Meinung, sondern auf die Schulung seiner Mitarbeitenden sowie interessierter fachlicher Kreise, die sich dem Goetheanum anschließen wollten. Darunter waren disparate Gruppen wie die ‹jungen Mediziner›, das Lehrerkollegium der Stuttgarter Waldorfschule und die Priester der Christengemeinschaft; er nahm alle Mitglieder dieser drei Gruppen in die Hochschule auf (auch ohne individuellen Antrag und qua Profession) und betrachtete sie als Repräsentanten, als Mitarbeitende der Hochschule am Zivilisationswerk der Anthroposophie.19 Steiner studierte bis zu seinem Tod wissenschaftliche Neuerscheinungen und ließ sich entsprechende Bücher von Guenther Wachsmuth aus Basel an sein Krankenlager bringen. Er kannte die Entfremdung, die Instrumentalisierung und den gesellschaftlichen Missbrauch der Naturwissenschaft. Einen Aufruf ‹follow the science› hätte er nie unterzeichnet. Aber er wusste, was gute naturwissenschaftliche Arbeit ist und bedeuten kann, für den Fortgang der Zivilisation und des menschlichen Bewusstseins. Dass sein Mitarbeiter Guenther Wachsmuth zwei Jahrzehnte später, 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, ein über 400 Seiten umfassendes Werk mit dem Titel ‹Erde und Mensch – ihre Bildekräfte, Rhythmen und Lebensprozesse› publizieren sollte, hätte Steiner vermutlich gefreut; er hätte es als Leistung der Dornacher Hochschule betrachtet. In seiner Monografie beschrieb Wachsmuth die Erde in detaillierter Weise als lebendigen Organismus, mit umfänglicher Berücksichtigung der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse im Bereich der Rhythmologie und verwandter Gebiete – und im Bewusstsein der zivilisatorischen Gefahr. Beachtliche Rezensionen in fachwissenschaftlichen Journalen, auch in der ‹Schweizer medizinischen Wochenschrift› erschienen daraufhin. Letztere bescheinigte Wachsmuth, die bisher umfassendste Darstellung «auch aller naturwissenschaftlichen und medizinischen Beiträge zum Rhythmusproblem» vorgelegt zu haben. Im Organ des ‹Öffentlichen Dienstes› war in Zürich im September 1946 zu lesen: «Das Wachsmuth’sche Werk fordert zu einer ganz grundsätzlichen Stellungnahme heraus. Muss man seine Forschungsrichtung anerkennen, dann gibt es sehr viele, gewaltig neue Perspektiven zu unserem Weltbild, und fast scheint es höchste Zeit, dass in den Hörsälen und Schulräumen die Blickfelder in der Hinsicht eine wesentliche Erweiterung erfahren würden.»20
Schüler Michaels
Man kann sich fragen, was dies alles für die Gegenwart und Zukunft bedeutet. Wesentlich erscheint, dass Verengungen der geschichtlichen Erkenntnis und Vereinfachungen dessen, was Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung 1923/24 vollzog und intendierte, nicht angebracht sind. Sie bedeutete keine Innenwendung der Anthroposophischen Gesellschaft und keine Schaffung zusätzlicher Binnenkreise mit esoterischem Geltungs- oder gar Führungsanspruch, sondern kulminierte in der Neufassung eines umfänglichen Hochschulbegriffes im michaelischen Geist – und dessen schrittweiser Realisierung. Das Tempo, das Steiner 1924 im Aufbau der Sektionen, in den fachlichen Schulungskursen – mit spiritueller Fundierung – und in der Neuorganisation der Anthroposophischen Gesellschaft einschlug, war atemberaubend. Er hatte nur noch wenig geschichtliche Aufbau- und Wirkenszeit und wollte etwas in die Welt stellen, was Bestand hatte – neue Modelleinrichtungen, die mit einer anderen Methodik arbeiten, aber dem Menschen und dem Ganzen der Erde dienen, im Bereich der Pädagogik und Medizin, der Heilpädagogik und Landwirtschaft etc. Impulsiert sollten diese Einrichtungen von der Dornacher Hochschule aus werden, ihrer Forschung, Lehre und Ausbildung. Das Goetheanum sah Steiner als spirituelles und künstlerisches Zentrum an, ohne hierarchischen Anspruch, aber als ein Herz-Organ der geistigen wie sozialen Initiative. Die Fachbereiche der Sektionen sollten als Fakultäten im universitären Verständnis von Forschung, Lehre und Ausbildung tätig sein, zugleich aber esoterischen Gemeinschaften sein – als Vereinigungen von weltweit tätigen Menschen, die auf Grundlage eines tiefen anthroposophisch-michaelischen Impulses in ihrem Fach zusammenarbeiten, als «Schüler Michaels». «Sektionsärzte» oder «Sektionsschwestern» waren für Ita Wegman diejenigen, die Hochschulmitglieder waren und sich zusätzlich zur Mitarbeit (und zum Beitritt) in der Medizinischen Sektion angemeldet hatten und angenommen worden waren. Um 1930 waren dies ca. 300 international arbeitende Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen, Pharmazeuten und Heilpädagoginnen.
Vielleicht hätte Steiner öffentliche ‹Hochschulkurse› im Sinne der Jahre 1920 bis 1922 nach vollständiger Einrichtung der Dornacher Hochschule, Fertigstellung des zweiten Goetheanum-Baus, der notwendigen Arbeitsinstitute und nach Vorliegen von ‹wissenschaftlichen Leistungen› wiederaufgenommen – aber wohl erst dann. Was er 1923/24 vollzog – auch im Umgang mit der akademischen Wissenschaft und dem öffentlichen Leben seiner Zeit –, war keine Kehrtwendung, sondern eine Umlagerung der Kräfte. Der ‹Geist der Weihnachtstagung› ist vollständig mit dem vereinbar, was Steiner bereits Ende 1911 als Zielsetzung der Hochschule des Johannesbaus beschrieben hatte – «Die Hochschule für Geisteswissenschaft wird das entwicklungsfähige Wissen dort aufnehmen, wo seine offiziellen Vertreter es heute in Materialismus erstarren lassen, und es hinaufführen zu dem Wissen vom Geiste […].»21
«Die vielen Probleme werden zu lösen sein.»
Es wird in den kommenden Jahren vieles davon abhängen, ob diese Konzeption der Hochschule erneut ins Bewusstsein ihrer Mitarbeiter und der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft tritt – bzw. dort weiter an Klarheit, Stärke und Intensität gewinnen kann. Das Tempo und der geistige Elan, den Steiner vorgab, ließen sich nach 1925 nicht halten und die Anthroposophische Gesellschaft verstrickte sich in sich selbst. Einer, der die Weihnachtstagung mit am tiefsten erlebt und verstanden hatte, Willem Zeylmans van Emmichoven, schrieb 1948: «Die vielen Probleme, die mit der freien Hochschule und den Sektionen zusammenhängen, werden zu lösen sein. Ja, was für einen Inhalt haben diese Begriffe überhaupt? Man braucht nur an das zu denken, was Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung plante, an die Gliederung der freien Hochschule in drei Klassen und das Verhältnis der Sektionen zu den Klassen, um einzusehen, dass dasjenige, was durch unsere Zusammenarbeit [nunmehr] realisiert werden kann, etwas anderes und Bescheideneres sein muss.»22 Das andere und Bescheidenere aber muss kein ganz anderes sein – und manche Sektionsentwicklungen nach 1948 beeindruckten Zeylmans. Sein Begriff der Bescheidenheit ist mit Sicherheit weiterführend – verbunden mit Bemühungen, die Konzeption der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft immer tiefer zu verstehen, etablierte Positionen, Traditionen und Terminologien zu hinterfragen und radikal nach dem geistig Gewollten und Veranlagten zu suchen, dessen schrittweise Umsetzung mehr in der Zukunft als in der Vergangenheit zu finden sein wird.23 Die Vergangenheit mit Rudolf Steiner genauer zu verstehen, hat schulenden und daher vorbereitenden Charakter.
Footnotes
- GA 270 II, 3. Aufl. 2008, S. 90.
- Vgl. Peter Selg, «Anthroposophie als ein Streben nach Durchchristung der Welt». Das Krisenjahr 1922 bis zum Brand des Goetheanum. Dornach 2022.
- Vgl. GA 80 a, 1. Aufl. 2019 und Peter Selg, Auseinandersetzungen um die Zukunft des Menschen. Rudolf Steiner in Deutschland 1922. Arlesheim 2022.
- Vgl. GA 81, 1. Aufl. 1994.
- Wiederabdruck des Wiener Programmes in Peter Selg, ‹Anthroposophie …›. A. a. O., S. 72 ff.
- GA 255 b, 1. Aufl. 2003, S. 353.
- GA 211, 3. Aufl. 2006, S. 198. Vgl. die zu dieser Zeit von Steiner gehaltenen internen Vortragskurse in Dornach, die Ausdruck seiner geistigen Forschung und Lehre waren, z. B. GA 210–214.
- GA 82, 2. Aufl. 1994, S. 246.
- Ebd., S. 250.
- Vgl. Peter Selg, «Anthroposophie …». A. a. O., S. 24 ff.
- Vgl. Emanuel Zeylmans van Emmichoven, Wer war Ita Wegman. Eine Dokumentation. Bd 1. Heidelberg 1990, S. 122
- GA 260, 5. Aufl. 1991, S. 278.
- GA 270 I, 3. Aufl. 2008, S. 1.
- GA 270 III, 3. Aufl. 2008, S. 191.
- Vgl. Ita Wegman, Erinnerung an Rudolf Steiner. Arlesheim 2009, S. 55.
- GA 259, 1. Aufl. 1991, S. 254.
- GA 260, 5. Aufl. 1994, S. 212.
- Ebd., S. 57.
- Vgl. Peter Selg, Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und die Michael-Schule. Arlesheim 2014, S. 117 ff.
- Wiederabdruck der Rezension in Heinz Herbert Schöffler, Guenther Wachsmuth. Ein Lebensbild. Dornach 1995, S. 152.
- GA 337a, 1. Aufl. 1999, S. 324.
- In: Peter Selg, Willem Zeylmans van Emmichoven. Anthroposophie und Anthroposophische Gesellschaft im 20. Jh. Arlesheim 2009, S. 181 f.
- Vgl. a. das kurze Positionspapier der Goetheanumleitung ‹Was will die Freie Hochschule des Goetheanum?›, in: Ueli Hurter/Justus Wittich (Hg.), Coronazeit. Zur geistigen Signatur der Gegenwart. Dornach 2020, S. 275–277.