Die Erde denken

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Ueli Hurter und Matthias Rang im Dialog darüber, wie wir die Erde als ein Lebewesen denken können. Und was unser lebendiges Verstehen an neuer Substanz schafft.


Matthias Rang Im Denken entsteht ein Abstand. Wir können zum Beispiel von außen auf die Erde schauen. Dann sehen wir sie als diesen blauen Planeten, als eine wunderbare Kugel. Sie ist von außen gesehen wunderbar begrenzt. Unsere Atmosphäre allerdings geht bis ins Weltall, bis über die Mondsphäre hinaus. Die Luft umhüllt die Erde. Wir haben also zwei Extreme: das Feste in dieser starken Begrenzung ‹Erdleib› mit der Erdkruste und die Atmosphäre in dieser leichten, zerfließenden und auch fast nicht beobachtbaren Form. Dazwischen liegt eine dünne Schicht des Berührens: das Wasser. Wo wir Wasser haben, haben wir auch das Leben auf der Erde. Das Leben ist wie ein Berührungsmoment, die Biosphäre. Gehen wir noch weiter raus, wird die Erde immer kleiner. Und wir sehen die Sonne und die anderen Planeten. Auch da ist die Erde wie in einem Begegnungsbereich zwischen diesem heißen inneren Zentrum Sonne und dieser ganz fernen, wunderbaren, aber unglaublich kalten Sternensphäre.

Ueli Hurter Lebendige Erde für mich als Landwirt ist eigentlich das, was ich unter meinen Füßen habe. Wenn ich im Winter über die Felder gehe, denke ich zurück, was hier in der letzten Saison passiert ist, was diese Erde getragen hat als Frucht. Wird sie richtig ins Klingen kommen, wenn das Frühjahr beginnt? Ist das nun Fühlen oder Denken der lebendigen Erde? Denken Landwirtinnen und Landwirte mit den Händen?

Die lebendige Erde ist nicht nur die Grundlage für unsere landwirtschaftliche Tätigkeit, sondern auch das Resultat dieser Tätigkeit. Das ist immer das Charakteristikum eines Organs, das zu einem Organismus gehört. Welches Organ ist dieser Boden in unserem Hoforganismus? Rudolf Steiner schlägt vor, den Boden mit dem Zwerchfell zu vergleichen. Das ist nicht nur eine Membran, das ist ein Muskel. Es hat glatt gestreifte Muskeln, die vom vegetativen Nervensystem angeregt werden, ohne unseren Willen. Es hat aber auch quer gestreifte Muskulatur, die können wir mit unserem Willen betätigen. Das ist das Bild, was wir von unseren Böden kennen. Sie atmen, ohne dass wir etwas dazu tun, im Tages- und Jahresrhythmus. Gleichzeitig sollen wir sie zum Singen bringen, den richtigen Rhythmus hineingeben. Und jetzt kommt noch eine Blickrichtungsumkehrung hinzu. Steiner sagt, und er ist nicht der Einzige, der das sagt: Was bei uns oben ist, oberhalb des Zwerchfells, ist beim landwirtschaftlichen Organismus unter der Erde. Was bei uns Kopf und Denken ist, ist bei der Pflanze Wurzelgeschehen. Was bei uns Verdauung ist, ist im landwirtschaftlichen Organismus, also bei der Pflanze, oberhalb der Erde. Die Pflanze wächst also eigentlich von oben nach unten. Was sie sich in ihrem Metabolismus im Zusammenhang mit dem Kosmos erarbeitet, als frische Lebenssubstanz mit Licht und Wärme und Sauerstoff, bringt sie in die Erde. Und dort wird ‹wahrgenommen› und ‹gedacht›. Dass daraus ein Strom von salzgelösten Säften hinauf in die Pflanze steigt, ist nicht Ernährung, sondern in der Weise ‹Erkenntnis›, die dem Oberen zur Verfügung gestellt wird.

Matthias Rang In der Naturwissenschaft haben wir ziemlich lange gebraucht, unser Bild davon, wie Leben entstanden ist, zu verändern. Es ist nicht so, dass die Bedingungen fürs Leben entstanden sind. Die Erde hat sich von Anfang an als lebender Organismus die eigenen Bedingungen geschaffen. Das Leben schafft sich seine eigenen Lebensräume. Wenn wir jetzt als Menschen die Industrialisierung weiter vorantreiben, wird die Erde von einem Lebensraum zu einem Industrieraum. Es gibt keine Wirtschaftsweise, die keine Kreislaufwirtschaft ist. Die einzige Frage ist: Wie groß ist der Kreislauf und wie lange braucht er? Wenn wir mit Öl arbeiten, haben wir eine Kreislaufwirtschaft, die die Erde zurückverwandelt in die Zeit vor ein paar Milliarden Jahren. Was wir tun, wird für die Erde nicht ohne Folgen bleiben. Wir werden die Erde in die Gestalt umwandeln, in der wir diese Prozesse führen. Was wir machen, werden wir ernten für unser gesamtes irdisches Sein.

Ueli Hurter Inwiefern gefährden wir als Co-Kreatoren die Erde oder helfen mit bei ihren nächsten Entwicklungsschritten? Das ist angesprochen im Michaelbrief: «Was vor fünf Jahrhunderten für das Bewusstsein des Menschen begonnen hat, es hatte sich für einen weiteren Umfang seiner Gesamtwesenheit schon vollzogen zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha in die irdische Erscheinung getreten ist. Da war es, dass unwahrnehmbar für das damals bei den meisten Menschen vorhandene Bewusstsein, allmählich die Menschheitsentwicklung aus einer Welt, in der Ahriman wenig, in eine solche hineinglitt, in der er viel Macht hat. Dieses Gleiten in eine andere Weltschichte erreichte ihre Vollendung eben im 15. Jahrhundert. Ahrimans Einfluss auf den Menschen in dieser Weltschichte, ist deshalb möglich und kann verheerend wirken, weil in dieser Schichte das dem Menschen verwandte Götterwirken erstorben ist. Aber der Mensch konnte zur Entfaltung des freien Willens gar nicht auf eine andere Art kommen als dadurch, dass er sich in eine Sphäre begab, in der die vom Urbeginn mit ihm verbundenen göttlich-geistigen Wesen nicht lebendig waren.» Was meint der Ausdruck ‹Mysterium von Golgatha›? Der Menschensohn und gleichzeitig Gottessohn ist, nach dem Zeugnis der Bibel, demütig, aber auch mutig durch den Tod gegangen, ihm nicht ausgewichen.

Was also von da weitergewirkt hat, steht uns seit dem 15. Jahrhundert zur Verfügung. Diese klaren, brillanten Gedanken, die ihre Brillanz in der Klarheit haben, tragen auch den Todeshauch in sich. Es ist das urphänomenale Verhältnis von Leben und Tod, was wir heute in einer neuen Qualität erleben, seit der Renaissance. Diese ganze Dramatik hat ihre Begründung darin, dass wir abgenabelt werden von den Schöpfermächten, von dem, was uns bis dahin gebracht hat. Damit wir frei werden, um aus Freiheit zu denken, fühlen, wollen und agieren.

Matthias Rang «Kosmisch angesehen, liegt in dem Wesen dieser menschlichen Entwicklung das Sonnenmysterium. Mit dem, was der Mensch bis zu dem bedeutsamen Wendepunkte seiner Entwicklung in der Sonne wahrnehmen konnte, waren die göttlich-geistigen Wesenheiten seines Ursprungs verbunden. Diese haben sich von der Sonne losgelöst und auf dieser nur ihr Erstorbenes zurückgelassen, so dass der Mensch in seine Leiblichkeit durch die Sonne nur mehr die Kraft toter Gedanken aufnehmen kann. Aber diese Wesenheiten haben den Christus aus der Sonne zur Erde gesandt.» Warum liegt in dieser menschlichen Entwicklung, im Verlassen des kosmisch-geistigen Zusammenhangs, in diesem abgestorbenen Denken, dieses Sonnenmysterium? Und dann der Satz, dass diese geistigen Wesen von der Sonne jetzt auf der Erde sind. Also ist das Sonnenmysterium auch Opfer von Sonnenwesen, die sich mit der Erde verbinden, Erdwesen werden und dieses Leben auf der Erde so schaffen. Götter geben sich dem Menschen und der Entwicklung der Erde hin, für die Entwicklung zum Heil der Menschen. Dann geht es weiter. «Aber diese Wesenheiten haben den Christus aus der Sonne zur Erde gesandt. Dieser hat sein Wesen zum Heile der Menschheit mit der Erstorbenheit des göttlich-geistigen Seins in Ahrimans Reich verbunden. So hat die Menschheit die zweifache Möglichkeit, die die Gewähr ihrer Freiheit ist: zu Christus sich wenden in der Geistgesinnung, die beim Heruntersteigen aus der Anschauung des übersinnlichen Geistdaseins bis zum Gebrauche der Intelligenz unterbewusst vorhanden war, jetzt in bewusster Art; oder sich erfühlen wollen in der Losgelöstheit von diesem Geistdasein und damit verfallen in die Orientierung, die die ahrimanischen Mächte nehmen.» Was wird da an uns herangetragen?

Ueli Hurter Wenn wir Freiheit in Anspruch nehmen wollen, muss man sich entscheiden. «In dieser Situation ist die Menschheit seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts. Vorbereitet ist diese – in der Entwicklung geschieht ja alles allmählich – seit dem Mysterium von Golgatha, das als das größte Erdenereignis dazu bestimmt ist, den Menschen vor dem Verderben zu retten, dem er ausgesetzt sein muss, weil er ein freies Wesen sein soll.» Der Möglichkeit nach sind wir freie Wesen. Liegt damit nicht auch die Möglichkeit und der Auftrag verbunden, diese Freiheit einzubringen, zu übertragen auf den Boden, auf die Erde, auf unsere Höfe? Können wir die Natur kultivierend mitnehmen auf unseren Weg in die Freiheit, also sie über sich selbst hinaus entwickeln? Und das heißt Individualisierung, auch bei uns Menschen. Menschsein heißt: ein Werdender zu sein. Und das nicht nur privat für mich als kleiner Mensch, sondern mit diesem Potenzial einzutreten in meine Arbeit und das zu verbinden mit dem Stück Erde, das mir in die Händen gegeben ist. Das Universelle und das punktuell Individuelle ist in Korrespondenz.

Groß gesprochen, können wir die biodynamische Landwirtschaft als die potenzielle Freiheitszukunftslandwirtschaft bezeichnen. Wir haben die Imagination, dass unsere Höfe Individualitäten werden können und dass sich in den speziellen Verhältnissen, wo sie sind, das Universelle ausdrücken kann. Eines der Hauptwerkzeuge dazu sind die Präparate, und gerade sie sind ja universell veranlagt. Es sind eigentlich erst Präparate im Sinne dieser großen Erde. Sie helfen, dass eine Individualisierung nicht eine Abkapselung ist, nichts, was sich isoliert. Sondern dass etwas Universelles erscheint in seiner ortsgemäßen Ausprägung zusammen mit den Menschen. In der Weise entsteht neue Erde.

Matthias Rang Jedes Lebewesen ist schon eine solche Absonderung. Es gibt ein wunderbares Buch von Hans Jonas, ‹Das Prinzip Leben›. Darin beschreibt er, wie zum Leben Hüllenbildung gehört. Schon die einzelne Zelle bildet eine Hülle und damit ein Innen und ein Außen. Sie lebt, wie Hans Jonas sagt, in zwei Welten: in der des Subjektes und der des Objektes. Aus einem Prozess entsteht plötzlich ein Innenraum und geht dann wieder in den Prozess. So ist jedes Lebewesen dieser Innenraum und auch die Erde ist für uns dieser Innenraum. Die Hülle, die die Erde neben der Lufthülle hat, ist die Wärmehülle. Sie sorgt dafür, dass es eigentlich gleich warm bleibt auf der Erde. So ist es über Jahrmillionen gewesen, nahezu gleich, trotz aller Änderungen, wie die Hülle eines Lebewesens, das sich absondert und zugleich in Verbindung hält mit dem Kosmos.

Ueli Hurter Wir als Menschen sind die Substanz geworden für diese Erde, und diese Erde ist gleichzeitig die Substanz für unser Schicksal.

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