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Die Coronakrise: Warum Demokratie immer wichtiger wird

‹Infektionsketten unterbrechen› – mit diesem Ziel ist weltweit die Bewegung aller Menschen eingeschränkt worden. Die über­wiegende Mehrheit folgt den Empfehlungen oder Anordnungen. Gleichwohl gibt es Kritik an den umfassenden Beschränkungen. Ein Gespräch mit Gerald Häfner. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wie lässt sich die globale Auszeit politisch bewerten?

Niemand kann heute mit Gewissheit sagen, ob die Entwicklung sich noch weiter dramatisieren oder ob sich nicht doch manches Szenario als übertrieben herausstellen wird. In solch einer Lage finde ich falsche Eindeutigkeiten und Feindbilder gefährlich. Nicht aber das Nachdenken über Ursachen, über Alternativen und vor allem über geeignete Wege in die Zukunft nach Ende dieser Krise. Denn diese birgt, wie jede Krise, neben Gefahren auch Chancen. Die rasende Geschäftigkeit unserer Welt kommt für einen Moment zur Ruhe. Das gibt uns Zeit – und die Möglichkeit, innezuhalten und zu fragen, was wirklich wichtig ist und wie wir künftig leben wollen. Individuell – und gesellschaftlich. 2008 galten noch Banken als systemrelevant. Heute lernen wir: Es sind die Menschen, die unsere Lebensmittel säen, ernten und liefern, Kinder betreuen, Kranke heilen, Alte pflegen. Sie stehen am Ende der Einkommensskala. Wir stehen vor dramatischen ökonomischen Einbrüchen und sozialen Verwerfungen. Jetzt muss es darum gehen, Vorschläge zu entwickeln, wie ein künftiges menschengemäßes Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialsystem aussehen könnte.

Fehlen uns Gesetze und Regeln für solch eine Pandemie?

Ja, die fehlen. Überall herrscht Unsicherheit. Die Regierungen gehen auf dünnem Eis. Sie entscheiden auf Sicht, ohne fertigen Plan und ohne präzise gesetzliche Vorgaben. Die Maßvolleren erlassen zeitlich befristete Verordnungen. Andere rufen den Notstand aus oder nutzen gar Bestimmungen des Kriegsrechts. Einige tun das zögernd und ungern. Andere aber geraten in einen gefährlichen Sog. Die Gefahr ist immens, dass in dieser Pandemie Systeme totaler Überwachung und Kontrolle legitimiert und etabliert werden, die dann nicht mehr verschwinden. Es gibt starke Kräfte, auch unter Staatsrechtlern, die nun den Ausnahmezustand als Ermächtigung für Einschränkungen bürgerlicher Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit festschreiben wollen. Den Normalfall kann man denken – und regeln. Aber Ausnahmefälle kann man nur begrenzt im Voraus normieren, eben weil sie nicht wirklich vorhersehbar sind. Wichtig ist: Alles, was jetzt getan wird, muss ein Ende haben. Danach brauchen wir wieder das uneingeschränkte Recht. Es schützt die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen und begrenzt Macht und Gewinnstreben von Staat und Wirtschaft.

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Die Qualität von Demokratien bemisst sich nicht daran, ob sie für alle Eventualitäten ein fertiges Gesetz im Buch haben, sondern ob ihre Verfahren offen und flexibel genug sind, um in extremen Fällen angemessen entscheiden zu können.

Deshalb das situationsbezogene kurz­fristige Handeln der Politik?

Ja. Manche meinen daher: Wenn situativ entschieden werden muss, ist Demokratie nicht mehr wichtig. Ich sehe es umgekehrt. Denn in einer solch unsicheren, präzedenzlosen Situation hängt alles von der Frage ab: Kann ich den Menschen, die jetzt entscheiden, vertrauen? Wem schulden sie Rechenschaft? Was treibt sie? In wessen Namen und Interesse handeln sie? Und ich möchte, dass diese Leute sich einer Diskussion und Beurteilung stellen müssen: im Parlament, in der Öffentlichkeit, in direkten Abstimmungen und schließlich auch in den politischen Wahlen. Die Qualität von Demokratien bemisst sich nicht daran, ob sie für alle Eventualitäten ein fertiges Gesetz im Buch haben, sondern ob ihre Verfahren offen und flexibel genug sind, um auch in extremen Fällen auf demokratisch legitimiertem Wege zu angemessenen und maßvollen Entscheidungen zu kommen.

Sind deshalb die Staatschefs täglich in den Medien zu sehen?

Ja. In der Krise kommt es auf die Menschen an. Auf uns alle, auf jeden Einzelnen – aber auf die Regierungsspitzen ganz besonders. Die tragen jetzt eine enorme Verantwortung. Sie sind nicht zu beneiden. Und sie agieren höchst verschieden. Amerikanische Kommentatoren etwa loben die maßvolle Ansprache der deutschen Kanzlerin: eine ganze Rede, ohne jemanden anzugreifen, schlechtzumachen, ihm die Schuld zuzuweisen! Trump dagegen kämpft (nach Leugnen des Problems) mit dem Kriegsrecht gegen dieses «ausländische Virus». Auch Macron ruft den Krieg aus – gegen das Virus. Orban verbietet kritische Berichterstattung und setzt Wahlen, Abstimmungen und Parlament weitgehend außer Kraft.

Entscheidend ist auch die Frage, wer eigentlich das Drehbuch schreibt, nach dem sich diese Machthaber richten. Das sind gegenwärtig vor allem Virologen. Sie haben eine nie da gewesene Macht. Zum Glück sind darunter durchaus abwägende, vernünftige Menschen. Der Virologe der Charité in Berlin, zum Beispiel, wägt ab, spricht offen darüber, wie sich seine Einschätzung im Laufe der Krise geändert hat, und räumt ein, dass man auch zu anderen Schlüssen kommen könne. Mein Gefühlsurteil geht deshalb dahin, zu sagen: Es ist eher ein Ausweis der Humanisierung unserer Gesellschaft, dass sie nicht kalten Auges Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellt oder eine Infektion ‹durchmarschieren› lässt, sondern versucht, diese so zu bremsen, dass möglichst allen, die der Hilfe bedürfen, auch ärztlich geholfen werden kann, ohne den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung zu riskieren.

Trotzdem: Die Virologie ist nur eine Perspektive. Eine sehr eingeschränkte dazu. Es braucht und gibt andere. Und was virologisch richtig scheint, kann aus anderer Perspektive gänzlich falsch sein. Das gilt schon medizinisch: Langfristig noch wichtiger als der Kampf gegen das Virus ist unsere Fähigkeit zur Resilienz, zur Gesundung, dazu, die ‹Angriffe› solcher Viren zu überstehen und diese uns anverwandeln zu können. Dabei stärken uns Licht, Wärme, Bewegung, Begegnung, Gemeinschaft, sinnerfüllte Tätigkeit, das Gefühl, für andere da zu sein, von ihnen geschätzt und gebraucht zu werden … eben das, was derzeit unterbunden wird. Es ist also dringend nötig, die Debatte zu öffnen und auch soziale, pädagogische, anthropologische, soziologische und philosophische Gesichtspunkte einzubeziehen.

Szenarien ernst zu nehmen, fordert Fridays for Future – jetzt holen sich die Verantwortlichen bei Virologinnen und Epidemiologen den Rat.

Das ist schon verrückt. Als unsere Kinder riefen: «Die Erde hat Fieber!», und sofortige Maßnahmen verlangten, passierte nichts. Als es hieß: «Wir bekommen Fieber!», stand schlagartig alles still. Selbst die Flugzeuge bleiben am Boden. Beides basiert auf wissenschaftlichen Szenarien. Nur: Einmal trifft es uns direkt und im anderen Fall trifft es erst die Gletscher, die Meere, das Klima – und dann uns.

Trotzdem: Wir brauchen nicht mehr Macht für ‹die Wissenschaft›, sondern die Beteiligung zunehmend aller am Gespräch und an den Entscheidungen über die Zukunft. Je härter die Zeiten und je drängender die Not, desto wichtiger werden das Zukunftsgespräch, die Frage der Demokratie und auch die Moralität und das Verantwortungsgefühl der Verantwortlichen.


Titelbild von Gerald Häfner: Sofia Lismont

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